Noch nehmen die Menschen die politisch korrekte „Cancel Culture“ nicht widerstandslos hin. Noch wehren sie sich gegen die zunehmende Beschneidung ihres Denkkorridors, gegen die Ausweitung dessen, was vermeintlich „unsagbar“ ist. Selbst aus Leitmedien kommt noch Widerstand. Nur eine Minderheit unterstützt hierzulande jene Ideologen, die unter wohlklingenden, aber letztlich zur reinen Floskel degradierten Schlagworten wie Antirassismus und Gleichberechtigung die Meinungsfreiheit von Andersdenkenden einschränken, etablierte Begriffe mit einem Tabu belegen, Konzerte abbrechen oder Bücher verbieten.
Gebetskette für Rechtsextremisten?
Dennoch greift die „Cancel Culture“ immer weiter um sich. In den USA steht mittlerweile sogar der Rosenkranz, die christliche Gebetskette, zur Debatte: Er werde von stark rechtsgerichteten Katholiken als politisches Symbol verstanden und von militanten Christen im Kampf gegen die Homo- und Transsexuellen-Bewegung verwendet, heißt es. Die politische Korrektheit in den USA, die weit über die Rosenkranz-Diskussion hinausgeht, ist selbst Spiegel-Autor René Pfister zu viel. Der Büroleiter des Nachrichtenmagazins in Washington warnt in seinem neuen Buch „Ein falsches Wort“ vor einer linken Verbots-Ideologie, die in Amerika offenbar immer weiter um sich greift.
In Deutschland war es zuletzt vor allem Apachen-Häuptling Winnetou, Karl Mays bekannteste literarische Schöpfung, der an den Marterpfahl der politischen Korrektheit gefesselt wurde. Kritiker möchten ihn am liebsten in die ewigen Jagdgründe verbannen. Von der ARD hieß es, im Fernsehen würden künftig keine Winnetou-Filme mehr gezeigt. Und beim ZDF sähe man es gerne, wenn die Zuschauer das „I-Wort“ (also Indianer) nicht mehr verwenden würden. Man möchte fragen: Wie viel Feuerwasser wird in den Senderzentralen eigentlich getrunken?
Das Kriegsbeil hat offenbar auch Lars Distelhorst ausgegraben, Sozialwissenschaftler an der Fachhochschule Clara Hoffbauer in Potsdam. In einem Interview, das die Portale GMX und Web.de verbreiten, erinnert er sich, als Kind auf dem Schulhof Cowboy und Indianer gespielt zu haben. Aus seiner heutigen Sicht ist das „kulturelle Aneignung“ – und damit komplett abzulehnen. „Im Prinzip haben wir Genozid gespielt“, legt Distelhorst noch einen drauf.
Unpopuläre Entscheidung des Ravensburger-Verlags
Die Friedenspfeife schlägt der Potsdamer Wissenschaftler aus. Karl Mays Winnetou-Geschichten seien „eine ideologische Folie, um die Kolonisierung des amerikanischen Kontinents nett und kuschelig darzustellen“, meint Distelhorst. Daher begrüße er, dass der Ravensburger-Verlag seine Bücher zum aktuellen Kinofilm „Der junge Häuptling Winnetou“ aus dem Sortiment genommen hat. „Der Verlag macht sich die Mühe, noch einmal nachzudenken und zu sortieren. Er trifft eine unpopuläre Entscheidung, bei der er auch bleibt, mit dem Argument, dass die Bücher ein Zerrbild von indigenem Leben in den USA darbieten. Das sollte man Kindern in der Art und Weise nicht mehr unterjubeln.“
So sehr unter Beschuss der „Cancel Culture“ wie Amerikas Ureinwohner steht derzeit wohl nur Russland. Seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine steht alles Russische zur Disposition. Im badischen Ortenaukreis benannte eine Bäckerei ihren Russischen Zupfkuchen um – obwohl der mit Russland wohl überhaupt nichts zu tun hat. Die Süßspeise sollte einfach nur Zupfkuchen heißen – die Umbenennung war als Zeichen der Solidarität mit der Ukraine gedacht. Nach heftigen Protesten ruderte die Bäckerei-Kette zwar zurück – da hatte der Zupfkuchen seine politische Unschuld aber bereits verloren.
Wie lange ist Russisch Brot noch sicher?
Ebenfalls aus Solidarität mit der Ukraine benannte die Einzelhandelskette Edeka ihr „Ice Snack Sandwich Moskauer Art“ in „Ice Snack Sandwich Kiewer Art“ um – zumindest vorläufig. Der Softdrink-Produzent Schweppes änderte den Namen seiner Limonade „Russian Wild Berry“. Russische Wildbeeren – das klang womöglich zu sehr nach russischem Bären. Jetzt heißt das süße Getränk „Original Wild Berry“. Wie lange das Russisch Brot wohl noch sicher ist? Auch der Moscow Mule steht derzeit noch in vielen Cocktail-Karten.
Komiker Dieter Hallervorden, im Kampf gegen Gender-Unsinn und Sprachverhunzung stets an vorderster Front der Kritiker zu finden, hat auch zur „Cancel Culture“ und ihrer Agitation gegen „kulturelle Aneignung“ eine klare Meinung. „Ich glaube, wir leben in einer Art von Empfindsamkeitskult, bei dem uns andere Leute vorschreiben wollen, mit welchem Slalom wir angebliche Fettnäpfchen in Zukunft zu umrunden haben“, sagt der 86-Jährige – und nennt das schlicht „Bevormundung“.
Didi: Über „Cancel Culture“ köstlich amüsieren
Würde man der Argumentation der „Cancel Culture“ folgen, müsse eigentlich auch Goethes „Faust“ verboten werden, meint der Berliner Komiker, der in der Vergangenheit als „Didi“ bekannt wurde. „Die Art, wie Faust sich an das Gretchen ranmacht, ist ja nicht nur nicht zeitgemäß, sondern geradezu frauenfeindlich.“ Oder Walt Disney: Donald Duck und andere sprechende Enten – „tut man da einer bestimmten Tiergattung nicht bitter unrecht?“. Er könne nur jedem empfehlen, das Thema nicht ernst zu nehmen und sich „köstlich darüber zu amüsieren“.
„Didi“ hat Recht: Die „Cancel Culture“ ist lachhaft, geradezu lächerlich. Ernst nehmen sollte man sie dennoch – und keinesfalls unterschätzen. Sie ist eine höchst gefährliche Ideologie, erst recht, weil sie im Mantel von Antirassismus und Gleichberechtigung daherkommt. Trotz all der schönen Worte und hehren Ziele, die sie vorgibt zu vertreten, ist die „Cancel Culture“ im Kern einfach nur eines: antidemokratisch, freiheitsfeindlich und totalitär.
Thomas Wolf