Mit der ukrainischen Offensive im Gebiet Charkiw und dem Rückzug der russischen Truppen in Richtung Donbass dürfte der Krieg in der Ukraine in seine entscheidende Phase eintreten. Noch mehr westliche Waffen, auch aus Deutschland, sollen Kiew den Sieg bringen. Selbst direkte deutsche Panzer-Lieferungen an die Ukraine stehen zur Diskussion. Damit wird erneut eine Frage virulent, die die Politik gern verdrängt: Ist Deutschland bereits jetzt Kriegspartei?
Auch bei der Talkshow „Maischberger“ ging es gestern um diese Frage. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, sagte: „Wir setzen keinen Fuß auf ukrainischen Boden mit jemandem, der eine Waffe in der Hand hält.“ Demnach sei die Bundesrepublik im klassischen Sinne keine Kriegspartei. Masala berät das Verteidigungsministerium und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, die Kritikern zufolge der Rüstungsindustrie nahesteht und als so etwas wie der deutsche Ableger der US-amerikanischen Denkfabrik „Council on Foreign Relations“ gilt.
Keine klare Antwort
Deutschland sei also keine Kriegspartei im klassischen Sinne, meint Masala. Eine klare Antwort auf die derzeit wohl zentralste Frage der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist das nicht. Eine solche Antwort ist allerdings auch schwer zu geben – das Völkerrecht lässt sich vielfach interpretieren. Unbestritten dürfte sein, dass die Lieferung von leichten Waffen keinen Kriegseintritt darstellt. Auch Deutsche, die als Angehörige der eilig aufgestellten ukrainischen „Fremdenlegion“ an Kampfhandlungen gegen Russland teilnehmen, machen den deutschen Staat nicht zur Kriegspartei.
Eine Untersuchung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags kam im März zu der Erkenntnis, dass sich die Frage, „wann ein Staat, der eine Konfliktpartei militärisch unterstützt, selbst zur Konfliktpartei wird“, aufgrund zahlreicher „Grauzonen“ nicht pauschal beantworten lässt. Der Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger sieht Eskalationspotenzial vor allem bei der Lieferung von Kampfflugzeugen: weil sie entweder von westlichen Soldaten in die Ukraine geflogen werden müssten – oder ukrainische Soldaten damit von Militärstützpunkten im Westen starten müssten. „Die Grenzen zwischen Transport und Eingriff in den Konflikt“ wären damit „deutlich poröser geworden“.
Geheimdienste und Luftaufklärung
Beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags, der sich primär auf Thielbörger stützt, heißt es weiter: „Graubereiche zwischen Konfliktteilnahme und Nichtkriegsführung ergeben sich ferner mit Blick auf die Übermittlung von Geheimdienstinformationen sowie von Informationen der Luftaufklärung durch sog. AWACS-Aufklärungs-Flugzeuge, die im NATO-Luftraum an der Grenze zur Ukraine patrouillieren und Informationen an die ukrainische Luftwaffe weitergeben.“ Thielbörger meint: Je substanzieller die Unterstützung wird und je abhängiger die Ukraine davon ist, desto näher rückt ein faktischer Kriegseintritt.
Wie aber ist die Situation bei Kampfpanzern oder der deutschen Panzerhaubitze 2000. Sie wurde bereits in die Ukraine geliefert und dient dort als Panzerersatz. Ihre Bedienung gilt als vergleichsweise kompliziert, sodass die ukrainischen Soldaten, die sie einsetzen sollen, hierfür erst ausgebildet werden müssen. Der entsprechende Lehrgang findet in Idar-Oberstein statt: auf deutschem Boden also und mit deutschen Ausbildern, die die Ukrainer erst in die Lage versetzen, mit der deutschen Haubitze auf Russen zu schießen. Auch die USA nutzen Stützpunkte in der Bundesrepublik, um der Ukraine beizustehen. Der Schutz des deutschen Staatsgebiets könnte so zunehmend in Frage gestellt sein.
Eine eindeutige Antwort, wann Deutschland zur Kriegspartei wird, gibt das Völkerrecht aber nicht. Entscheidend ist ohnehin etwas anderes: Entscheidend ist, wie Russland das deutsche Verhalten bewertet. Sieht es darin eine Kriegsbeteiligung? Oder nur die Taten eines „unfreundlichen Staates“. Russlands Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, hat dieser Tage in einem Interview mit der Tageszeitung Iswestija angedeutet, dass sich die russische Geduld womöglich dem Ende zuneigt: Mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine, „die nicht nur gegen russische Soldaten, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung im Donbass eingesetzt werden“, habe Deutschland eine „rote Linie“ überschritten. Bleibt abzuwarten, was das für das ohnehin zerrüttete Verhältnis der beiden Länder bedeutet.
Thomas Wolf