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Wo der Osten schon weiter ist

32 Jahre nach der Deutschen Einheit steckt das Land tief in der Krise – In den neuen Bundesländern begreifen die Menschen besser als im Westen: Protest ist nötig

Vor 32 Jahren endete die Teilung Deutschlands. Um Mitternacht am 3. Oktober 1990 trat jener Vertrag in Kraft, der beide deutschen Staaten nach mehr als 40 Jahren zusammenführte. Oder anders ausgedrückt: der die DDR der Bundesrepublik eingliederte. Denn eine echte Vereinigung, eine Fusion auf Augenhöhe, war die Deutsche Einheit vom 3. Oktober 1990 nicht. Auch die in Artikel 146 des Grundgesetzes vorgesehene Volksabstimmung über eine neue Verfassung fand nicht statt.

„Danke, Gorbi“ haben glückliche Deutsche 1990 auf die Reste der Berliner Mauer geschrieben. Die Wiedervereinigung wäre ohne die Hilfe aus Russland kaum möglich gewesen. (Foto: RIA Novosti archive/image #428452/Boris Babanov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Seither ist viel geschehen. Die von Bundeskanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ sind in einigen Regionen Wirklichkeit geworden, in anderen aber nicht. Bei der Bildung läuft Sachsen den West-Schwergewichten Bayern und Baden-Württemberg zunehmend den Rang ab. Auch wirtschaftlich ist der Freistaat gut aufgestellt. Beispielhaft steht dafür die Marke „Silicon Saxony“. Sie zeichnet Sachsen als Zentrum der Hochtechnologie aus, deren Wurzeln teils in DDR-Zeiten zurückreichen.

Die berüchtigte „Mauer in den Köpfen“ ist merklich kleiner geworden. Das sieht man daran, dass die jüngere Generation meist kein Ost und West mehr kennt. Die deutsche Teilung hat sie nicht erlebt. Oder zumindest nicht wahrgenommen. Es spielt für sie keine Rolle, ob jemand aus Hamburg, Köln oder München stammt – oder aus Rostock, Halle oder Dresden. Ob er Schwabe ist, Rheinländer oder Thüringer. Für die jüngere Generation ist die Einheit zumindest mental vollendet. Das ist gut so.

Von oben herab

Gerade unter „Wessis“, die sich noch aktiv an die Teilung erinnern, ist die „Mauer in den Köpfen“ aber durchaus noch vorhanden. Noch immer ist da die Rede von „drüben“. Von der „Ehemaligen“ oder gar von „Dunkeldeutschland“. Man kennt niemanden aus den „neuen Bundesländern“ und will vielleicht auch niemanden kennen. Man versteht die Mentalität der Menschen nicht und will sie auch nicht verstehen. Daraus resultiert ein Blick von oben herab, der sich einfach nicht gehört. Manch einer war selbst nach über 30 Jahren nicht einmal in einer der Urlaubsregionen in Mittel- und Nordostdeutschland. Ganz zu schweigen davon, dass die Gehälter im Osten noch immer niedriger ausfallen als in den alten Bundesländern. Es ist also noch einiges zu tun.

Ein arbeitsfreier Herbsttag – mehr als das ist der 3. Oktober für die meisten Deutschen nicht. Denn als Nationalfeiertag hat er keine größere Bedeutung. (Foto: Pixabay)

Heute nun begehen Politik und Medien den Tag der Deutschen Einheit. Für die meisten Bundesbürger hat der Nationalfeiertag keine größere Bedeutung. Ein arbeitsfreier Montag, der ihnen in diesem Jahr ein verlängertes Herbst-Wochenende ermöglicht. Mehr nicht. Nach 32 Jahren ist die Freude über die Einheit abgeebbt. Die Sorgen des Alltags lasten schwer auf den Schultern der Menschen. Die steigenden Energie- und Lebenshaltungskosten, Kriegsangst und eine angesichts der Krise überforderte Regierung lassen keine Feierstimmung aufkommen.

Friedliche Revolution

Ohnehin ist der Tag der Deutschen Einheit weniger emotional aufgeladen als die Nationalfeiertage anderer Völker. Frankreichs 14. Juli etwa erinnert an den Sturm auf die Bastille. Und in den USA hat der Unabhängigkeitstag am 4. Juli eine viel festlichere Bedeutung. In Deutschland dagegen hängen die Emotionen eher am 9. November, dem Tag des Mauerfalls. Nicht wenige denken dieser Tage an jene Krönung der Friedlichen Revolution von 1989.

Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen gingen im Osten mehr Menschen auf die Straße als im Westen. Dies ist auch bei den aktuellen Kundgebungen der Fall. Im Bild: eine Querdenken-Demo in Leipzig 2020 (Foto: Roy Zuo/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Heute gehen wieder Zigtausende auf die Straßen. Vor allem im Osten. Weil der von der hausgemachten Krise besonders betroffen ist. Hier ist man mehr als anderswo von russischer Energie abhängig. Allem Gerede vom Missbrauch der Krise durch die politische Rechte zum Trotz – friedlicher Protest gehört zu den höchsten Gütern einer Demokratie. Vor allem in einer Situation wie dieser, da eine kopflose Politik das Land gegen alle Vernunft weiter in die Rezession treibt. Die Menschen im Osten haben das begriffen. Und auch, dass man durch Protest etwas bewirken kann. Damit sind sie weiter als die meisten ihrer Landsleute im Westen.

Frank Brettemer

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