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Im Blickpunkt

Die Grünen und die Demokratie

Ob Unterstützung für die Ukraine oder Klimapolitik: Wie die einst basisdemokratische Partei den deutschen Souverän ausbremst

„Egal, was meine deutschen Wähler denken“ – mit diesen Worten bekannte sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Anfang September zur unverbrüchlichen Solidarität der rot-grün-gelben Bundesregierung mit der angegriffenen Ukraine. Nach Ansicht ihrer Kritiker würdigte sie damit das Volk als demokratischen Souverän herab. Und das ausgerechnet als Vertreterin einer Partei, die sich viele Jahre als Speersitze des demokratischen Fortschritts sah. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Von den Grundsätzen ihrer Anfangsjahre haben sich die Grünen längst verabschiedet.

Linke und Konservative

Als sie sich 1980 gründeten, waren die Grünen das, was man heute wohl eine Graswurzel-Bewegung nennen würde. Aus verschiedenen Milieus kommend, schlossen sich Menschen zusammen, die zuvor wenig mit Parteipolitik am Hut hatten. Man war auf Konsens ausgerichtet, sah sich als „basisdemokratisch“ und wollte das Land von unten verändern. Die Partei, der schnell der Einzug in den Bundestag gelang, vereinte linke Straßenkämpfer, konservative Umweltschützer, Friedensaktivisten, Kernkraftgegner und radikale Gesellschaftsveränderer.

Ricarda Lang spricht auf einer Demonstration der „Fridays for Future“. Ihre Grünen sind eng mit der Klimaschutzbewegung vernetzt. (Foto: Stefan Müller (climate stuff) from Germany/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Politische Macht sollte nach Ansicht der frühen Grünen begrenzt und kontrolliert werden. Dies galt auch innerhalb der Partei. Die Doppelspitze – derzeit Ricarda Lang und Omid Nouripour – zeugt noch heute davon. Die einst typisch grüne Trennung von Amt und Mandat ist dagegen seit Jahren deutlich aufgeweicht. Bereits seit 2003 dürfen Teile des Bundesvorstands zugleich Abgeordnete sein. Und ein Beschluss von 2018, der auf Robert Habeck zurückgeht, erlaubt die gleichzeitige Besetzung von Amt und Mandat sogar generell für acht Monate.

Nach der Gründung abserviert

Von der bunten Truppe der grünen Gründungsphase war noch schneller kaum etwas übrig. Die Konservativen in der Partei wurden abserviert, kaum war die Gründung richtig abgeschlossen. Beispiel: Herbert Gruhl. Der Sachbuchautor gehörte mehrere Jahrzehnte der CDU an. 1979 kandidierte er bei der ersten direkten Europawahl als Spitzenkandidat für die „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“. Als sich im Jahr darauf die grüne Partei bildete, unterlag Gruhl bei der Wahl zum Bundesvorsitz. Er selbst meinte, der linke Flügel habe seine Wahl bewusst zu unterdrücken versucht.

1983 zogen die Grünen um Otto Schily und Petra Kelly erstmals in den Bundestag ein. Ein Großteil der Konservativen hatte die Partei zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen. (Foto: Bundesarchiv/B 145 Bild-F065187-0022/Engelbert Reineke/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Schon 1981 verließ Gruhl die Partei und gründete im Jahr darauf die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP). Sie sollte dem konservativen Flügel der Grünen einen neue Heimat bieten. Mit Gruhl traten etwa ein Drittel der Grünen-Mitglieder aus. Auch August Haußleiter und Baldur Springmann wurden in der neuen Partei, die sie mitbegründet hatten, nicht glücklich. Springmann beteiligte sich an der ÖDP-Gründung und hatte später Kontakt zu rechten Gruppen. Der als national geltende Haußleiter saß noch bis 1987 für die Grünen im bayrischen Landtag. Dann legte er sein Mandat aus gesundheitlichen Gründen nieder. Mit Wilhelm Knabe war bereits 1984 der letzte Konservative aus dem Kreis der grünen Bundessprecher ausgeschieden.

Grüne nicht mehr für Volksentscheide

Bundesweite Volksentscheide gehörten über viele Jahre zu den zentralen Forderungen der Grünen. Allerdings scheiterte die Umsetzung vor allem an der Blockade der Unionsparteien. Zuletzt wurde der Widerstand allerdings spürbar weniger, vor allem bei der CSU in Bayern. Bevor nun aber womöglich ein neuer Anlauf unternommen werden konnte: die Kehrtwende. Die Grünen wollen nicht mehr! In ihrem Programm zur Bundestagswahl 2021 war die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden nicht mehr enthalten. Auch die Ampelkoalition sieht keine Notwendigkeit, die direkte Demokratie auszubauen. Von allen Bundestagsparteien steht damit nur noch die AfD vorbehaltlos zur Mitbestimmung des Souveräns.

Woran das liegen könnte? Woher der Wind wehen dürfte, zeigt ein Schreiben des Vereins „Mehr Demokratie“, den Mitglieder und Unterstützer vor wenigen Tagen erhalten haben. Der Brief, der von Bundesvorstandssprecherin Claudine Nierth und Vorstandsmitglied Karl-Martin Hentschel unterzeichnet ist, warnt vor einem „Deichbruch im Norden“. Gemeint ist die Bürgerbeteiligung in Schleswig-Holstein. Der im Juni vereinbarte Koalitionsvertrag von CDU und Grünen sieht nämlich vor, die direkte Demokratie im hohen Norden einzuschränken. „Mit einer Generalklausel soll die Landesregierung unliebsame Bürgerbegehren in den Kommunen einfach unterbinden können“, beklagt der Verein.

Windkraftanlagen im Abendrot. Bürgerbegehren gegen ihren Bau könnten schon bald in Schleswig-Holstein unmöglich werden. (Foto: Pixabay)

Die laut Seite 83 des Koalitionsvertrags vorgesehene Generalklausel lautet so: „Ein Bürgerbegehren findet nicht statt über Entscheidungen in Selbstverwaltungsaufgaben, die nach Feststellung der Landesregierung unverzichtbare Voraussetzung für Infrastruktur- oder Investitionsvorhaben von landes- oder bundesweiter Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Gütern oder Dienstleistungen sind oder Projekte, die der Erreichung der Klimaziele der Landesregierung dienen. Die Feststellung der Landesregierung kann auf Antrag einer obersten Landesbehörde für eine einzelne Gemeinde oder mehrere Gemeinden getroffen werden.“

Demokratie abbauen?

Damit wäre ein Einspruch der Bürger gegen Photovoltaik-Anlagen oder Groß-Windräder künftig nicht mehr möglich. Oder zumindest nur noch dann, wenn es der Landesregierung passt. „Mehr Demokratie“ vermutet die CDU hinter den Plänen. Aber ist das realistisch? Natürlich können die Christdemokraten mit der Generalklausel Infrastruktur-Vorhaben besser durchdrücken. Das Verbot des Widerspruchs gegen die Klimapolitik aber trägt die Handschrift der Grünen. Haben nicht auch Greta Thunberg und ihre grüne deutsche Mitstreiterin Luisa Neubauer gefordert, demokratische Prinzipien zugunsten des Klimaschutzes abzubauen?

„Wir müssen versuchen, diesen Deichbruch zu verhindern“, fordert „Mehr Demokratie“ mit Blick auf Schleswig-Holstein. Man befürchtet, dass dem Vorbild aus dem Norden bald weitere Länder folgen werden. „Schon springt Baden-Württemberg auf“, liest man in dem Brief. „Dort hat der Präsident des Gemeindetages bereits ein ähnliches Gesetz gefordert.“ Wie in Schleswig-Holstein stellen auch in Baden-Württemberg Grüne und CDU die Landesregierung. Wenn auch unter grüner Führung.

Grüne Wahlgewinner

Geschadet hat den Grünen ihre zunehmende Distanz zum Souverän bislang nicht. Auch Baerbocks Äußerung, bei der Unterstützung der Ukraine nehme sie keine Rücksicht auf ihre Wähler, hat sie offenbar keine Sympathien gekostet. Ganz im Gegenteil: Bei der Landtagswahl in Niedersachsen am Sonntag legten die Grünen um fast sechs Prozentpunkte zu. Sie sind damit größter Wahlgewinner neben der AfD.

Thomas Wolf

Annalena Baerbock beim Besuch in Kiew. Ihre Unterstützung für die Ukraine ist ihr wichtiger als das, was ihre Wähler in Deutschland empfinden. (Foto: Kmu.gov.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

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