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Warum „Regime von Kiew“?

Wladimir Putin spricht der ukrainischen Regierung die Legitimität ab – Historische Hintergründe der Kreml-Rhetorik

Immer wieder spricht Wladimir Putin, sprechen die russischen Behörden vom „Kiewer Regime“ oder „Regime von Kiew“. So auch jüngst wieder, als Putin nach dem Sprengstoffanschlag auf die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch eine härtere Gangart gegenüber der Ukraine ankündigte. „Regime“: Das klingt herabwürdigend – und soll wohl auch so klingen. In Kiew sitzt demnach eine Regierung mit fragwürdiger Legitimation. Zumindest für Russland. Verbirgt sich dahinter mehr als die propagandistische Rhetorik eines verfeindeten Landes?

Die Brücke über die Straße von Kertsch hat strategische Bedeutung für die Versorgung der Krim-Halbinsel. Ein Anschlag, der mutmaßlich vom ukrainischen Geheimdienst verübt wurde, beschädigte das Bauwerk vor einigen Tagen. (Foto: Rosavtodor.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Zunächst eine Begriffsbestimmung: Regime kommt aus dem Französischen und bedeutet schlicht so viel wie „Regierungsform“. Das Wort ist in seinem Ursprung also nicht negativ konnotiert. In diesem Sinne gebraucht bis heute auch die Politikwissenschaft den Begriff. Wer dagegen landläufig von einem Regime spricht, meint damit in aller Regel eine irreguläre Herrschaft. So auch Putin. Für ihn sitzt in Kiew eine illegitime Regierung – eben ein „Regime“. Wie für die USA einst im Irak das „Saddam-Regime“ oder für die NATO-Staaten das „Milošević-Regime“ in Jugoslawien.

Für den Westen dagegen ist Wolodymyr Selenskyj der legitime, demokratisch gewählte Präsident der Ukraine. Was also veranlasst Wladimir Putin, Selenskyj die Legitimität abzusprechen? Will er seinen Kriegsgegner einfach nur diskreditieren? Ihn verbal auf eine Ebene mit dem früheren irakischen Diktator Saddam Hussein stellen? Oder ist das russische Gerede vom „Kiewer Regime“ die Fortsetzung des vom Kreml ausgegebenen Ziels der „Entnazifizierung“ der Ukraine mit anderen Mitteln?

Keine reine Propaganda

Bei genauerer Betrachtung ist das „Regime von Kiew“ keine reine Kreml-Propaganda. Oder anders gesagt: Der propagandistische Gebrauch des Ausdrucks „Regime“ für die ukrainische Regierung durch Moskau bedeutet nicht, dass derlei Titulatur jegliche Berechtigung fehlen würde. Die Spurensuche führt fast ein Jahrzehnt zurück: in die Jahre 2013 und 2014. Präsident der Ukraine war damals Wiktor Janukowytsch, der westlichen Medien als prorussisch galt, in mehrerlei Hinsicht aber für einen Ausgleich zwischen Ost und West stand.

Bei der Wahl des Staatsoberhaupts 2010 hatte sich Janukowytsch, der aus dem großteils russischsprachigen Osten der Ukraine stammt, gegen die vom Westen unterstützte Julija Tymoschenko durchgesetzt. Anders als unter seinem russlandkritischen Amtsvorgänger Wiktor Juschtschenko näherte sich die Ukraine unter Janukowytschs Ägide wieder dem Kreml an. Freilich ohne die guten Kontakte zum Westen aufzugeben. Die Ukraine, betonte Janukowytsch, wolle eine „Brücke zwischen Russland und der EU“ sein.

Unterzeichnung ausgesetzt

Im November 2013 setzte die ukrainische Regierung die Unterzeichnung eines geplanten Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union aus, das Janukowytsch stets unterstützt hatte. Die Verhandlungsführung der EU hatte den Ukrainern offenbar Grund zu der Annahme geliefert, sie müssten sich zwischen den beiden Wirtschaftspartnern EU und Russland entscheiden. Das aber wollte Janukowytsch nicht. Ihm schwebte eine neutrale Ukraine auf halbem Weg zwischen Brüssel und Moskau vor.

Die Proteste auf dem Maidan zogen Zigtausende an. Ziel war der Sturz der Regierung Janukowytsch. (Foto: Nessa Gnatoush/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Die prowestliche Opposition wiederum wertete die vorläufige Absage an das Assoziierungsabkommen als Absage an Europa und Rückkehr in die Arme des Kreml. In kurzer Zeit organisierten Tymoschenkos „Allukrainische Vereinigung Vaterland“, die Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (UDAR) des Ex-Profiboxers Vitali Klitschko und die weit rechts stehende nationalistische Swoboda Massendemonstrationen auf dem zentralen Kiewer Maidan-Platz. Auch der Rechte Sektor, eine militante rechtsextreme Schlägertruppe, war prominent an den Protesten beteiligt.

Dollars für die Revolution

Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren richteten sich Massendemonstrationen gegen die gewählte Regierung der Ukraine. Bereits 2004 war der Maidan Schauplatz gewaltiger Proteste. Janukowytsch, bis dato Ministerpräsident der Ukraine, war offiziellen Angaben zufolge zum Präsidenten gewählt. Sein unterlegener Kontrahent Wiktor Juschtschenko akzeptierte seine Niederlage nicht und sprach von Wahlbetrug. Nach wochenlangen Protesten erklärte das Oberste Gericht die Wahl für ungültig und ordnete ihre Wiederholung an. Dabei erhielt Juschtschenko die meisten Stimmen. Aus den USA sollen mehr als 60 Millionen Dollar zur Unterstützung jener „Orangenen Revolution“ geflossen sein.

2004, bei der „Orangenen Revolution“, blieben die Proteste gegen die gewählte Regierung friedlich. Zehn Jahre eskalierte die Gewalt. (Foto: jf1234/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Anders als zehn Jahre zuvor eskalierten die Proteste 2014. Gewalt durch Sicherheitskräfte und Demonstranten wechselte sich ab. Während etwa die Bundesregierung nach Einschätzung des Münchner Politologen Günther Auth anfangs noch um eine Vermittlung zwischen Janukowytsch und der Opposition bemüht war, ergriffen andere westliche Staaten klar Partei. „Neokonservative Regierungsnetzwerke der USA hatten im Verbund mit den Spitzen der NATO und den Regierungen Polens und Litauens schon lange vor Beginn der Proteste ukrainische Nationalisten zu einer militanten Opposition gegen die prorussische Regierung Janukowytsch aufgebaut“, ist Auth überzeugt.

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