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Im Blickpunkt

Warum „Regime von Kiew“?

Wladimir Putin spricht der ukrainischen Regierung die Legitimität ab – Historische Hintergründe der Kreml-Rhetorik

Mehr als 100 Maidan-Demonstranten kamen bei Schießereien in der Kiewer Innenstadt ums Leben. Bis heute ist ungeklärt, wer die tödlichen Schüsse abgab. Westliche Medien und Politiker legten sich schnell auf regierungsnahe Scharfschützen fest. Andere vermuten dagegen militante ukrainische Nationalisten aus dem Umfeld des Rechten Sektors. Auch Politologe Auth hält das für möglich. Sicher ist nur: Nach den Todesschüssen rückten die Sicherheitskräfte von Janukowytsch ab. Ein Verbleib seiner Regierung im Amt wurde unmöglich.

Ein vermummter Aktivist des rechtsextremen Rechten Sektors während der Maidan-Proteste. (Foto: Mstyslav Chernov/www.unframe.com/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Der gewählte Präsident musste das Land verlassen. In einer beispiellosen Aktion erklärte ihn das Parlament für abgesetzt. Dem Westen genügte das. Juristisch gesehen war die Absetzung allerdings verfassungswidrig. Das hat auch ein Gutachten des Bundestags festgestellt. Demnach ist keine der in den Artikeln 108 bis 111 der ukrainischen Verfassung genannten Bedingungen für einen Amtsverlust gegeben. Janukowytsch ist weder zurückgetreten noch gestorben. Er ist auch nicht auf dem vorgesehenen Wege für amtsunfähig erklärt worden. Und eine mehrstufige Präsidentenanklage, an deren Ende das Parlament ihn mit Dreiviertelmehrheit hätte absetzen können, liegt auch nicht vor.

USA installieren Übergangsregierung

Janukowytsch sah sich denn auch weiterhin als legitimes Staatsoberhaupt der Ukraine. Auch Moskau betrachtete die Absetzung als null und nichtig. Dies änderte freilich nichts daran, dass in Kiew die Ära Janukowytsch faktisch zu Ende war. In den Marienpalast, die Residenz des Präsidenten der Ukraine, zog ein anderer ein. „Hohe Regierungsbeamte der USA installierten gegen den erklärten Willen der EU eine Übergangsregierung mit Vertretern ultranationalistischer ukrainischer Parteien“, sagt Politologe Auth, der am Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität lehrt.

Wiktor Janukowytsch bei einem Treffen mit Wladimir Putin 2013. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Die Übergangsregierung unter Oleksandr Turtschynow habe unmittelbar nach ihrer Einsetzung die „gewaltsame Niederschlagung der aufflammenden Anti-Regierungsproteste im Osten der Ukraine angeordnet“, sagt Günther Auth. Dort nämlich, im überwiegend russischsprachigen Donbass, wollten viele Menschen die als Putsch gegen die verfassungsmäßige Ordnung wahrgenommene Absetzung Janukowytschs nicht hinnehmen. Kiew schickte Truppen und nationalistische Freiwilligenverbände – und der Westen sah zu. „Die zunehmend kritiklose westliche Unterstützung verdankte sich vor allem dem Einfluss US-amerikanischer Elitenetzwerke, zu denen neben staatlichen Einrichtungen und den angeschlossenen Denkfabriken diverse Interessengruppen, Investmentbanken und große Rüstungs- bzw. Energieunternehmen gehörten“, sagt Auth.

„Forcierung des Bürgerkriegs“

„Die Beteiligung der USA an der Vorbereitung und Durchführung des Regimewechsels im Februar 2014 sowie die verdeckte Unterstützung ultranationalistischer ukrainischer ‚Antiterroreinheiten‘ durch die NATO müssen als völkerrechtlich problematische Einmischungen in die inneren Angelegenheiten der Ukraine gewertet werden“, bilanziert der Münchner Politologe. „Denn sie bewirkten eine Forcierung des Bürgerkriegs zwischen ukrainischen Milizen bzw. Armeeinheiten und den regierungskritischen Gruppen im Donbass, die deswegen zwischenzeitlich durch russische Streitkräfte unterstützt wurden.“

Aus lokalen Protesten gegen den Sturz Janukowytschs entwickelten sich im wie hier in Donezk separatistische Bestrebungen. Die Regierung in Kiew brachte dagegen Soldaten und nationalistische Milizen in Stellung. (Foto: Andrew Butko/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Aus der Neuwahl des Präsidenten ging im Mai 2014 der Oligarch und Medien-Unternehmer Petro Poroschenko als Sieger hervor. Die Wahl fand zwar nach vergleichsweise rechtsstaatlichen und demokratischen Grundsätzen statt. Aber: Janukowytsch war von der Wahl ausgeschlossen, seine Partei der Regionen von den ukrainischen Medien als prorussisch diskreditiert, ihr Kandidat entsprechend chancenlos. Und die Menschen im Donbass, wo sich ein rücksichtslos geführter Bürgerkrieg zwischen den ukrainischen Sicherheitskräften und prorussischen Separatisten entwickelte, konnten ihr Wahlrecht nicht wahrnehmen.

Ein Fragezeichen

Weder Kiew noch die internationale Gemeinschaft erkannten die Unabhängigkeit der beiden „Volksrepubliken“ an. Für Kiew und den Westen waren sie also noch Teil der Ukraine – aber eine Teilnahme an den gesamt-ukrainischen Wahlen war den Menschen dort dennoch nicht möglich. Hinter alle Urnengänge seit 2014 könnte man also mit einigem Recht ein Fragezeichen setzen. Russland tut dies, indem es allen seither amtierenden Regierungen der Ukraine die Legitimation abspricht.

In letzter Konsequenz sieht der Kreml in Kiew also keine Regierung, sondern eben ein „Regime“. Ganz abgesehen davon, dass im Verständnis Wladimir Putins die ukrainische Regierung ihre Legitimation auch dadurch verspielt hat, dass sie seit acht Jahren die separatistischen „Volksrepubliken“ beschießt und dabei offenbar wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nimmt.

Thomas Wolf

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