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„Die extreme Rechte auf dem Vormarsch“

Israel wählt schon wieder ein neues Parlament – Politische Instabilität könnte nationalistische und ultrareligiöse Kräfte beflügeln

Israel wählt heute ein neues Parlament – schon wieder. Die regierende Acht-Parteien-Koalition war zuvor nach nur einem Jahr auseinandergebrochen. Es ist die fünfte vorzeitige Wahl innerhalb von nur dreieinhalb Jahren. Und wieder einmal ist in den Wochen vor dem Urnengang die Parteienlandschaft durchgeschüttelt worden. Die echten Probleme des Nahen Ostens geraten so in den Hintergrund.

Das israelische Parlament, die Knesset, in Jerusalem. Mehr als zehn Parteien und Wahlbündnisse könnten bei der heutigen Wahl den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde schaffen. (Foto: Chris Yunker from St. Louis/United States/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Die noch 2020 als gemeinsame Liste angetretenen drei arabischen Parteien Hadash-Ta’al, Ra’am und Balad versuchen dieses Mal, eigenständig über die 3,25-Prozent-Hürde zu springen. Diese Aufsplitterung ist ein Grund dafür, dass die traditionell niedrige Wahlbeteiligung der Araber in Israel, die sich selbstbewusst „Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit“ nennen, wohl historisch schwach ausfallen wird. Umfragen gehen von 30 bis 40 Prozent aus. Immerhin rund 21 Prozent der Israelis gehören der Minderheit an.

Israel reißt Häuser ab

Die Zeitung Ha’aretz hat kürzlich acht arabische Wahlverweigerer porträtiert. Wir werden weiter benachteiligt, beklagen sie. Und selbst wenn einer von ihnen in der Regierung sitzt (wie derzeit Mansour Abbas), reißt Israel weiterhin palästinensische Häuser ab – vor allem jene von Beduinen im Negev. Zweites Beispiel: Der frühere Generalstabschef Benny Gantz vom liberalen Wahlbündnis „Blau-Weiß“ hat sich mit dem rechten Justizminister Gideon Sa’ar und seiner „Neuen Hoffnung“ zur Partei der Nationalen Einheit (Staatspartei) zusammengetan. Um die zwölf Sitze werden ihr prognostiziert. 

Der frühere Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Seine rechte Likud-Partei wird die Wahl wohl gewinnen. Ob Netanjahu dann an die Spitze der Regierung zurückkehrt, ist aber völlig unklar. (Foto: U.S. Air Force Staff Sgt. Jack Sanders/U.S. Secretary of Defense/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Stärkste Kraft dürfte bei der Wahl wieder Benjamin Netanjahus rechter Likud mit 30 bis 32 Sitzen werden. Auf dem zweiten Platz wird wohl Israels kommissarischer Ministerpräsident Jair Lapid mit seiner Zukunftspartei landen. Je nach Umfrage könnte er zwischen 24 und 27 Sitze erringen. Drittstärkste Kraft dürfte das ultrarechte Bündnis von Bezalel Smotrich werden: die Partei des religiösen Zionismus. Smotrich, der in einer jüdischen Siedlung im Westjordanland lebt, gilt als Agitator und Provokateur. Manche bezeichnen ihn als „Israels Trump“. Seinem Bündnis werden 12 bis 14 Sitze vorhergesagt. Das wäre eine Verdopplung der aktuellen Mandate.

Ähnlich viele Sitze dürften der Block Vereinigtes Thorajudentum und die orthodoxe Shas-Partei gewinnen. Daneben gibt es eine ganze Reihe Parteien, die, sollten sie die Sperrklausel nehmen, zwischen fünf und zehn Sitzen erringen dürften. Unter ihnen ist die linke Meretz als einzige jüdische Partei, die sich für ein Ende der Besatzung des Palästinensergebiets und für Frieden unter den Volksgruppen einsetzt. Auch die einst mächtige Arbeitspartei Avoda, Avigdor Liebermans rechte Partei Israel Beitenu (Israel – unser Heim) sowie das Jüdische Haus der amtierenden rechten Innenministerin Ajelet Schaked könnten in die Knesset einziehen.

Ultraorthodoxe zum Wehrdienst

„Die extreme Rechte ist auf dem Vormarsch, die Linke ist in Schwierigkeiten und Netanjahus Schicksal steht auf dem Spiel“, fasst die Politologin Dahlia Scheindlin die Umfragen zusammen. Das Thema Konfliktlösung und Frieden spielt im Wahlkampf keine Rolle. Stattdessen kreisen die Kampagnen nahezu aller jüdischen Parteien um innere Themen Israels. Die einen wollen die Stadtbahn im Raum Tel Aviv auch am Sabbat, dem heiligen Ruhetag der Juden, fahren lassen. Andere möchten Homo- und Transsexuelle einschränken. Gleich mehrere Parteien möchten ultraorthodoxe Juden anders als bisher zum Wehrdienst einziehen. Andere dagegen möchten den jüdischen Charakter des Staates stärken.

Israelische Soldaten bei einem Einsatz in der palästinensischen Stadt Nablus. Der Frieden in den Palästinensergebieten ist brüchig. (Foto: Israel Defense Forces/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Die drei arabischen Parteien haben den Frieden zwar auf dem Schirm. Nach der Abspaltung von der einstigen gemeinsamen Liste sind sie allerdings zu sehr mit Neuorientierung und Selbstfindung beschäftigt, als dass sie das Friedensthema offensiv und erfolgreich vertreten könnten. Die Mehrheit der Parteien tut so, als existiere 35 Kilometer von Tel Aviv entfernt kein Besatzungsregime. Dieses tötet auch im 55. Jahr seines Bestehens Menschen auf beiden Seiten, beraubt Palästinenser und Israelis ihrer Träume und Zukunft. Sie bindet Gelder, die anderswo fehlen, zerfrisst die Beatzungsmacht Israel seelisch-moralisch.

Mehr als 100 tote Palästinenser

Allein in diesem Jahr wurden 136 Palästinenser und 13 Israelis getötet. Israel hat über 700 palästinensische Häuser, Ställe und Zisternen abgerissen. Mehr als 800 Menschen wurden obdachlos. Die UN-Agentur OCHA verzeichnet 527 Angriffe von jüdischen Siedlern auf Palästinenser. Ob die neue israelische Regierung die Frage der Besatzung anpackt? Dieses Urübel des Unfriedens, wie es manch ein Beobachter nennt? Die Staatengemeinschaft sollte den zukünftigen Premier dazu ermutigen. 

Johannes Zang

Der Autor hat fast zehn Jahre in Israel und Palästina gelebt. Er ist Autor und freier Journalist. Sein aktuelles Buch heißt „Erlebnisse im Heiligen Land“ und ist bei Promedia erschienen. Zang betreibt einmal im Monat den Podcast Jeru-Salam. Seit 2008 hat er über 60 Reisegruppen durch Israel, Palästina und Jordanien begleitet.

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