2011 eskalierten die Proteste gegen die Regierung von Syriens säkularem Präsidenten Baschar al-Assad zum blutigen Bürgerkrieg. Islamistische Gruppierungen, die nicht selten von der Türkei oder Katar oder sogar vom Westen unterstützt wurden, bemächtigten sich ganzer syrischer Regionen und töteten oder vertrieben Zigtausende, darunter viele Christen. Heute, mehr als zehn Jahre nach Beginn der Mordens, ist in weiten Teilen des Landes die heiße Phase der Kämpfe vorbei. Nach Ansicht der Ordensschwester Annie Demerjian ist die Lage aber „schlimmer als während des Krieges, was die wirtschaftliche Situation und den Alltag der Menschen angeht“. Das sagte Demerjian in einem Interview mit dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“.
In einigen Landesteile seien auch nach elf Jahren des Bürgerkriegs noch immer islamistische Milizen wie der „Islamische Staat“ oder Nachfolge-Organisationen der al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front aktiv, beklagt Demerjian. Dort werde nach wie vor gekämpft. In den anderen Landesteilen fielen zwar keine Bomben mehr, „aber das Leben ist nicht friedlich. Es gibt keinen geregelten Alltag, denn unser Volk kämpft jeden Tag ums Überleben“. Demerjian gehört der Gemeinschaft der „Schwestern Jesu und Mariens“. Zusammen mit ihren Mitschwestern betreut sie kirchliche Hilfseinrichtungen in Syrien und im benachbarten Libanon.
Die Lage der Infrakstruktur sei vielerorts desolat, sagt die Ordensfrau: Viele Menschen hätten nur ein bis zwei Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung sei unterbrochen. Die Löhne könnten mit den enorm gestiegenen Preisen nicht mithalten: „Ein Familienvater in Aleppo verdient durchschnittlich umgerechnet um die 30 Euro. Allein die Miete beträgt aber 40 bis 50 Euro, in der Hauptstadt Damaskus sogar noch mehr. Wie soll das funktionieren?“ Viele Menschen seien der Situation überdrüssig. Die Auswanderungswelle, mit der Syrien seit Jahren zu kämpfen hat, setze sich fort.
Kritik an Sanktionen
Scharf kritisiert die Ordensfrau die Sanktionen, die die Europäische Union und die US-Regierung nach Beginn der Unruhen gegen Syrien verhängten: „Sie treffen das einfache Volk und machen uns das Leben sehr schwer. Ich verstehe die Länder nicht, die von Menschenrechten reden und Sanktionen gegen das Leben der Menschen verhängen.“ Die Kirche versuche, die schlimmsten Nöte zu lindern und weitere Auswanderungen zu stoppen, erklärt Schwester Annie. Sie schätzt, dass im Vergleich zur Zeit vor dem Bürgerkrieg nur noch etwa ein Drittel der Christen in Syrien geblieben seien.
Das Engagement von Schwester Annies Gemeinschaft erstreckt sich deshalb auch auf den Libanon, wo sich nach wie vor viele syrische Flüchtlinge aufhalten. Im syrischen Aleppo konzentriert sich die Hilfe auf rund 300 mittellose Familien. Die Ordensfrauen leisten Beihilfen für die Miete und versorgen die Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten. Diese seien nach wie vor ein besonders rares Gut, erzählt Demerjian: „Ich weiß von vielen Menschen, dass sie ihre Medikamente nur alle paar Tage einnehmen. Sie strecken sie, damit sie möglichst lang den Bedarf decken können.“
Traumatisierte Kinder
Für traumatisierte Kinder bieten die Ordensfrauen Musik- und Kunsttherapien an. „Das Trauma, das unsere Kinder erlitten haben, ist sehr stark, besonders bei denen, die während des Krieges geboren wurden“, sagt Schwester Annie. Ein weiteres Augenmerk liege auf dem Bereich Arbeit und Bildung. In der christlich geprägten Kleinstadt Maalula im Südwesten Syriens nahe der libanesischen Grenze hat die Gemeinschaft eine Nähwerkstatt aufgebaut, in der über 20 Frauen Arbeit und Lohn finden. Während des Kriegs war Maalula zeitweise von dschihadistischen Kämpfern besetzt.