Mehr als 60 Millionen türkische Wähler sind heute aufgerufen, ihren Präsidenten zu bestimmen. Erstmals seit Jahren prognostizieren Umfragen ein enges Rennen zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und seinem sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu vom oppositionellen „Bündnis der Nation“. Teils liegt Kılıçdaroğlu sogar deutlich vorn. Türken in Deutschland dagegen dürften mit großer Mehrheit für den amtierenden Präsidenten stimmen. Erdoğan steht seit 20 Jahren in wechselnden Ämtern in Regierungsverantwortung. Zunächst war er Ministerpräsident, dann Staatsoberhaupt. Seit der Verfassungsänderung von 2018 ist er als Präsident auch wieder Regierungschef.
Im Schatten des Erdbebens
Zugleich mit dem Staatsoberhaupt wählen die Türken auch ein neues Parlament. Auch hier dürfte es für Erdoğans islamisch-konservative AKP eng werden. Umfragen sehen die AKP zwar weiterhin als stärkste Kraft. Die bisherige Koalition mit der nationalistischen MHP aber könnte scheitern. Der Urnengang steht im Schatten des verheerenden Erdbebens vom Februar. Ihm fielen im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Bürgerkriegsland Syrien rund 60.000 Menschen zum Opfer. Die Regierung Erdoğan steht wegen ihrer Katastrophen-Hilfe seither massiv in der Kritik. Ironischerweise würde eine Wahl-Niederlage das im Westen verbreitete Narrativ vom Diktator Erdoğan wohl nahezu unhaltbar machen.
Ethnische und religiöse Minderheiten in den Nachbarländern der Türkei jedenfalls hoffen auf einen Regierungswechsel, sagt Kamal Sido, Nahost-Experte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen. Für die kurdischen Gebiete in Syrien und im Irak könne ein Machtwechsel das Ende der täglichen Angriffe bedeuten, betonte Sido nach einer Reise in die Region. „Die Menschen leiden dort sehr unter der Gewalt, die von der Türkei ausgeht. Während ich in der Nähe von Amuda in Nordsyrien war, wurde ein kurdischer Bauer auf seinem Feld von türkischen Grenzposten angeschossen – völlig grundlos. Er überlebte nur knapp“, berichtet Sido.
Angriffe auf die Zivilbevölkerung
Weiter südlich, bei Tal Hamis, sei ein Fahrzeug von einer türkischen Drohne angegriffen worden. „Eine junge Kurdin, die bei der autonomen Selbstverwaltung angestellt ist, berichtete, dass ihre beiden kleinen Kinder jedes Mal weinen, wenn sie etwas am Himmel hören. Sie schreien: Mama, Mama, Drohnen am Himmel!“. Viele Menschen in der Region hegten die Hoffnung, dass eine neue türkische Regierung die ständigen Angriffe auf die Zivilbevölkerung einstellt. „Vor allem dort, wo das Erdbeben Anfang Februar alles zerstört hat, sind die Menschen verzweifelt“, sagt Sido. „Denn die Türkei lässt weiterhin kaum humanitäre Hilfe zu. Nur Waffen für islamistische Milizen kommen ungehindert ins Land.“
Zugleich warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker aber auch vor dem säkularen Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu. Der Vorsitzende der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP kündigte an, nach einem Wahlsieg in direkte Verhandlungen mit der „legitimen Regierung Syriens“ eintreten zu wollen. Also mit Baschar al-Assad. Der gilt westlichen Politikern und Medien seit Beginn des Bürgerkriegs in seinem Land nicht mehr als Präsident, sondern bestenfalls als „Machthaber“. Die GfbV nennt ihn sogar „Diktator und Massenmörder“.
Zu Kılıçdaroğlus Wahlbündnis gehören neben der sozialdemokratischen CHP die nationalistische İyi Parti von Meral Akşener, die liberal-konservative Demokratische Partei und die islamistische Partei der Glückseligkeit. Sie steht der radikalen Bewegung Millî Görüş (Nationale Sicht) nahe, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Ihr Mitbegründer Necmettin Erbakan, der in den 1990er Jahren kurzzeitig türkischer Ministerpräsident war, gilt wiederum als politischer Ziehvater von Recep Tayyip Erdoğan.
Erst einmal gewinnen
Nach Ansicht der GfbV ist Kılıçdaroğlu „in ein System eingebunden, das alles Kurdische ablehnt“ und steht für einen türkisch-nationalistischen Kurs. „Viel wird davon abhängen, welche Politik eine neue Regierung gegenüber der kurdischen und anderen Minderheiten innerhalb und außerhalb der Türkei anstrebt“, gibt Kamal Sido zu bedenken. „Und davon, ob Kılıçdaroğlu den Mut hat, ehrlich über eine friedliche Lösung der Kurdenfrage zu verhandeln.“ Doch dafür müsse die Opposition die Wahlen erst einmal gewinnen.
Thomas Wolf