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CSD: Kein Beispiel für Offenheit und Toleranz

Sogenannte Christopher Street Days gibt es mittlerweile an vielen Orten und in allen Teilen des Landes. Die bunte Party-Kundgebung von Schwulen, Lesben und Sympathisanten erinnert an den 28. Juni 1969. Der damalige Aufstand in der New Yorker Christopher Street, der sich gegen die Stürmung der Schwulenbar „Stonewall Inn“ durch die Polizei richtete, gilt als Geburtsstunde der modernen Homosexuellen-Bewegung. Sie richtete sich gegen Polizeigewalt und gegen jede Form der Diskriminierung. Seither hat die Bewegung sich weiterentwickelt. Sie wirbt für Offenheit, Toleranz und eine Vielfalt der Meinungen. Keine Ausgrenzung, kein Schubladendenken. Aber wird die Bewegung dem eigenen Anspruch überhaupt gerecht? Der CSD in Rostock lässt Zweifel aufkommen.

Freizügig und politisch

Schwule, Lesben und zunehmend auch Transsexuelle und Transgender feiern beim Christopher Street Day äußerst freizügig. Und zunehmend politisch. Ob Prideweek oder Pridemonth – der CSD ist mittlerweile derart politisch, dass man als Beobachter manchmal nicht mehr so genau weiß, worum es den Veranstaltern wirklich geht. Fast jede größere Partei, Behörden und eine Vielzahl an Bundes-, Landes- und Kommunalpolitikern nehmen das Thema Diversität und bunte Vielfalt für sich ein und nutzen es. Oft medienwirksam für die eigene Selbstdarstellung. Man will schließlich besonders tolerant und demokratisch erscheinen.

Das Logo des Christopher Street Day in Rostock zeigt das Wappentier der Hansestadt, einen Greifen, in den Regenbogen-Farben der „queeren“ Homo- und Transsexuellen-Bewegung. (Foto: CSD Rostock e.V.)

Wie auch an anderen Orten steht der Christopher Street Day in Rostock gleichfalls unter wechselnden Mottos. 2018 etwa war er mit „Akzeptanz beginnt im Kopf. Kein Schritt zurück!“ überschrieben. 2016 mit „Echte Liebe – Echte Vielfalt – Echte Akzeptanz – Echt für Alle“. 2010 hieß es „Kopf frei für Artikel 3“. Gemeint war Artikel 3 des Grundgesetzes. „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“, heißt es darin.

Grundrechte respektieren

Eben dieser Artikel reicht dem Verein CSD Rostock e.V., der den Christopher Street Day in der Hansestadt veranstaltet, als Basis des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht aus. Er soll um eine Kernforderung der Homosexuellen-Bewegung in Deutschland ergänzt werden: um das Merkmal der „sexuellen Orientierung“. Diese Forderung kann man nun unterstützen oder ablehnen. In jedem Fall wirkt sie nur dann ehrlich und aufrichtig, wenn die in Artikel 3 bereits enthaltenen Grundrechte respektiert werden und Anwendung finden. Auch im Rahmen des CSD. Und genau da hapert es gewaltig. Zumindest in Rostock.

Der Christopher Street Day in Rostock wird seit 2002 von einem Trägerverein verantwortet. (Foto: Burghard Mannhöfer/www.queer-kopf.de)

Nimmt man ernst, was der CSD-Verein öffentlich vertritt, ist es jedem erlaubt, den Christopher Street Day zu feiern und daran teilzunehmen. Natürlich vorausgesetzt, die Person ist friedlich und fügt niemandem einen Schaden zu. So wie Ralph Z. (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt). Der Rostocker Bürger ist ein friedlicher Zeitgenosse, musikalisch, kulturell interessiert – und selbst schwul. Kein Wunder also, dass er am diesjährigen CSD in der Hansestadt teilnehmen wollte. Mitte Juli fand der statt. Doch Z. sollte nicht teilnehmen dürfen. Weil er sich ehrenamtlich politisch engagiert. Für die „falsche“ Sache.

Demo für den Weltfrieden

Der studierte Musikwissenschaftler und Pianist begleitet und kommentiert jeden Montag die Friedensdemonstration in seiner Heimatstadt. Während der Corona-Pandemie nahm er an Kundgebungen gegen die umstrittenen politischen Maßnahmen teil. In Zeiten des Ukraine-Kriegs demonstriert er nicht für die Lieferung westlicher Waffen für Kiew. Er demonstriert für den Weltfrieden. Dabei äußert er sich kritisch zu politischen Entscheidungen und Entscheidern. Das ist vollkommen legal und vom Grundrecht auf freie Meinungsäußerung gedeckt. Auch Grundgesetz-Artikel 3, der dem CSD Rostock ja so wichtig ist, sagt eindeutig: Wegen seiner politischen Anschauungen darf niemand benachteiligt werden.

Die Realität beim Christopher Street Day in Rostock sieht anders aus. Herr Z. wurde der Zugang zum Festgelände verwehrt. Er wurde am Eingang von einem Ordner aufgehalten. Dieser sagte, er müsse erst prüfen, ob Z. auf das Gelände darf. Die Nachfrage bei den Rostocker CSD-Verantwortlichen ergab: kein Zutritt für Z.! „Sie können sich ja denken, wie die Entscheidung ausgefallen ist“, beschied der Ordner. Wie kann das sein? Warum wurde Ralph Z. als schwuler Mann vom CSD ausgeschlossen?

Rostocks Oberbürgermeisterin Eva-Maria Kröger (Die Linke) sitzt im Vorstand des Vereins CSD Rostock. Zum Ausschluss des Friedensaktivisten Ralph Z. äußert sie sich nicht. (Foto: Screenshot www.eva-kroeger.de/zur-person)

Das wollte auch Z. selbst wissen. Und stellte per E-Mail eine entsprechende Anfrage an den CSD-Verein Rostock, die Rostocker Bürgerschaft und an die Oberbürgermeisterin der Hansestadt, Eva-Maria Kröger (Die Linke). Kröger ist als Vorstandsmitglied des CSD-Vereins tätig und kann somit als für dessen Entscheidungen mitverantwortlich betrachtet werden. Bis heute hat Z. keine Antwort erhalten. Niemand derjenigen, die öffentlich Demokratie, Meinungsfreiheit und Toleranz propagieren, hat sich zu diesem diskriminierenden Vorfall geäußert. Auch den lokalen Zeitungen ist das skandalöse Verhalten keine Schlagzeile wert. Unter ihnen ist übrigens die Ostsee-Zeitung, die zur Madsack Verlagsgesellschaft gehört. Deren größter Gesellschafter ist – die SPD.

„Das hatten wir schon mal“

Wie ehrlich ist also der CSD? Und wie ernst ist es der Politik in diesem Land mit Toleranz, Meinungsfreiheit und Demokratie? Sie propagieren das eine und leben das andere! Gerade im Osten dieses Landes sagt man sich: „Das hatten wir schon mal.“ Hier reagiert man sensibel auf die Einschränkung demokratischer Rechte. Ein Unterschied zu damals ist bei genauer Betrachtung heute kaum mehr vorhanden. Nur einer vielleicht: In der DDR war bekannt, was man sich erlauben durfte und was nicht. Es wurde nicht versucht, unterdrückte Rechte unter dem Deckmantel des Gutmenschentums als Demokratie zu verkaufen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier – hier auf dem offiziellen Presseporträt – warnt vor Demokratie-Feinden in Deutschland. Kritiker werfen ihm vor, es seien vielmehr er und die Bundesregierung, die die Demokratie einschränken. (Foto: Bundesregierung/Steffen Kugler)

Was in Rostock passiert ist, passt ins Bild, das die deutsche Politik-Elite derzeit abgibt. Der Bundespräsident nutzt den 75. Jahrestag des Beginns der Grundgesetz-Beratungen, um vor angeblichen Feinden der Demokratie in der Gesellschaft zu warnen. Man solle sich gegen sie wehren, fordert er. „Eine Verfassung, gerade unser Grundgesetz, verträgt harte und härteste Auseinandersetzung“, sagte Frank-Walter Steinmeier beim Festakt auf der Chiemsee-Insel Herrenchiemsee. „Verfassungsfeinde jedoch kann die Verfassung nicht integrieren – und wir dürfen die Gefahr, die von ihnen ausgeht, nicht ignorieren.“ Eine Demokratie müsse wehrhaft sein gegenüber ihren Feinden. „Niemals wieder sollen demokratische Freiheitsrechte missbraucht werden, um Freiheit und Demokratie abzuschaffen.“

Verächter der Demokratie

Ja, die Verächter der Demokratie müssen in die Schranken gewiesen werden – begründet, konsequent, nachhaltig. Aber wir alle sollten uns fragen: Wer sind diese Verächter der Demokratie, die in ihrem Handeln das Grundgesetz missachten? Wer unterdrückt Meinungen und diskriminiert Andersdenkende? Wer schränkt Freiheiten willkürlich ein? Wie sang einst Reinhard Mey so trefflich? „Sei wachsam und fall nicht auf sie rein …“

Jens Scheyko

Reinhard Mey warnte in seinem Lied „Sei wachsam“ (1996) vor Politikern, die die Menschen belügen, das Grundgesetz aufweichen und das Land in militärische Auseinandersetzungen ziehen. (Foto: Sven-Sebastian Sajak/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Der Autor ist ist Immobilienfachwirt und hat als Geschäftsführer ein kommunales Wohnungsunternehmen geführt. Weil er sich gegen Fehlentscheidungen des politischen Establishments seiner Region stellte, verlor er seine Position, seine berufliche Erfüllung und am Ende auch seine Gesundheit. Die Information über offensichtliches Unrecht in Politik und Gesellschaft ist ihm ein außerordentliches Bedürfnis.

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Im Blickpunkt

Die Deutschen flüchten vor der Realität

Die Deutschen ziehen sich angesichts der zahlreichen Krisen der Gegenwart ins Private zurück. Das ist das Ergebnis einer tiefenpsychologischen Studie und einer repräsentativen Umfrage des Kölner Rheingold-Instituts im Auftrag der Düsseldorfer Identity Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie. Die Erkenntnisse der Studie könne man als dramatisch bezeichnen, sagt Paul J. Kohtes, Gründer und Vorsitzender der Identity Foundation. Eine tiefe Resignation bedrohe unser nationales Zusammenleben. „Wir sehen zu, wie ein ganzes Land vor der Wirklichkeit in Deckung geht, während sich die Verantwortlichen in der Berliner Politik in klein-klein verheddern.“

Zwischen Klimawandel und Krieg

„Festgefahren zwischen Klimawandel und Krieg ist ein Großteil der Bevölkerung mit Blick auf Politik und Gesellschaft desillusioniert und reagiert auf die gespürte Aussichtslosigkeit mit einer Flucht ins private Glück“, heißt es von der Stiftung. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland, ergab die Befragung von 1000 repräsentativ ausgewählten Teilnehmern im Juni, hat kein Interesse mehr an Nachrichten und kein Vertrauen in die Politik. Um die allgegenwärtigen Krisen zu verdrängen, ziehen sich die Deutschen demnach in ein „wehrhaftes Schneckenhaus“ zurück. Zuversicht finden die Menschen im privaten Umfeld. Mit Blick auf Politik und Weltgeschehen herrsche dagegen eine „diffuse Endzeit- und Einbruchsstimmung“.

Die eigenen vier Wände werden für Millionen Deutsche zunehmend zum wichtigsten Bezugspunkt. Mit Politik und Weltgeschehen möchten viele nichts mehr zu tun haben. (Foto: Pixabay)

„Die Wucht der Krisen ist für die Menschen schwer auszuhalten“, liest man in den Ergebnissen der Studie, die mit „Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ überschrieben ist. „Durch die starke Verdrängung werden sich die Themen nicht konsequent vor Augen geführt und verlieren ihre Wucht.“ Ob vermeintlich drohende Klima-Katastrophe, der anhaltende Krieg in der Ukraine, die daraus resultierende Energie-Krise, die Talfahrt der deutschen Wirtschaft oder politische Radikalisierung – viele Deutsche erleben die Situation um sich herum als angespannt und feindselig. „Für viele wird mehr Aggressivität im Miteinander spürbar.“ Von dem Gefühl von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung „wie in den Anfängen der Corona-Zeit“ sei kaum etwas geblieben.

Gefahr für die Demokratie

Vielen der Befragten drängen sich Ohnmachtsgefühle auf. Darunter leidet auch das Vertrauen in die Demokratie. „Die aktuellen Herausforderungen werden als so groß und schwierig empfunden, dass in Frage gestellt wird, ob unsere Demokratie diesen standhalten kann“, fassen die Macher der Studie zusammen. Es bestehe die Angst, dass diktatorische Strukturen sich etablieren und das demokratische Wertesystem verloren geht. „Politische Radikalisierungen von rechts und links werden mit Sorge beobachtet. Der Wille zu Kompromissen fehlt, wodurch das Gefühl der Spaltung weiter wächst.“

Um ihr Heim in eine Wohlfühloase zu verwandeln, in der man Ruhe vor politischen Nachrichten hat, packen die Deutschen tatkräftig an. Mehr als 90 Prozent denken ans Renovieren oder zumindest ans Aufräumen. (Foto: Pixabay)

Der Rückzug ins Private geht den Erkenntnissen des Forscher-Teams um Anna Brand mit der Schaffung von Wohlfühloasen einher. 93 Prozent der Menschen verschönern demnach das eigene Zuhause, räumen auf, dekorieren, renovieren. 76 Prozent gehen auf Reisen, um so gewissermaßen dem tristen Alltag entfliehen zu können. Immerhin noch 56 Prozent der Befragten denken darüber nach, Deutschland zu verlassen und sich in einem anderen Land anzusiedeln. „Auch die Natur dient als Rückzugsort, in der Ruhe und Trost vom Alltag erfahren wird.“

Freunde geben Zuversicht

Gleichzeitig finden die Deutschen in „engen sozialen Kreise aus Gleichgesinnten“ Halt. „Meine Freunde geben mir viel Zuversicht. Wenn wir uns am Wochenende treffen und etwas trinken gehen, dann haben wir einfach nur Spaß. Da gibt es dann keine schlechten Nachrichten und man denkt, irgendwie wird das schon alles werden“, zitiert die Studie den 29-jährigen Thomas. Der 49-jährigen Anja bietet die Familie Stabilität in herausfordernden Zeiten. „In meiner kleinen Familie tanke ich auf. Da habe ich Gefühle von Rückhalt und Verlässlichkeit. Es ist ein schönes Gefühl, zusammen Dinge durchzustehen, auch wenn die Zeiten schwieriger sind.“

1848 wurde der Drang zur Freiheit für die Deutschen unerträglich. Sie wehrten sich gewaltsam gegen die Willkür der Fürsten. (Foto: gemeinfrei)

Dass die Deutschen sich ins Private zurückziehen, ist keine neue Entwicklung. In Krisenzeiten war dies immer wieder der Fall. Klassisches Beispiel ist die Epoche des Biedermeier. Der Begriff bezeichnet die Zeit nach dem Ende des Wiener Kongresses 1815, der Europa nach dem Sieg über Napoleon neu ordnete. Der nationale Befreiungskampf des deutschen Volkes gegen die französische Fremdherrschaft war von Erfolg gekrönt. Viele erhofften sich nun einen politischen Neuanfang in einem freien und geeinten Deutschland. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Auf dem Kongress setzte sich die konservative Reaktion der Fürsten durch.

Rigides Polizei-System

Statt Einheit, Freiheit und Demokratie bekam das Land den Deutschen Bund als lockere Vereinigung der Fürstentümer und freien Städte. Und statt Meinungs- und Pressefreiheit etablierte die Obrigkeit ein rigides Spitzel- und Polizei-System. Wer sich gegen die Herrschaft der Fürsten auflehnte, wer Grundrechte und nationale Einheit forderte, dem drohten lange Haftstrafen. Statt sich dieser Gefahr auszusetzen, zogen sich die meisten Deutschen in den Schutz ihres Häuschens oder der Natur zurück. Erst 1848 erhoben sich die nach Freiheit verlangenden Massen unter den deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold und erkämpften die erste gesamtdeutsche demokratische Verfassung.

Nicht nur die Biedermeier-Epoche, den sogenannten Vormärz, zeichnet ein Rückzug ins Private aus. Auch in der DDR waren Repression und SED-Parteilinie besser zu ertragen, wenn man sich nicht politisch äußerte. In besonderem Maße gilt das für die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur. Der Rückzug ins Private, in die eigenen vier Wände, in die Familie, war die einzige Möglichkeit des Widerstands gegen die zunehmend radikale Ideologie und brutale Gewaltherrschaft. Sich der verordneten „Volksgemeinschaft“ verweigern, ohne offen dagegen zu sein. Mehr Widerspruch gegen die braunen Herren wäre ohne Lebensgefahr kaum möglich gewesen.

Der Münchner Bürgerbräukeller am Tag nach dem Anschlag vom 8. November 1939. Weil Adolf Hitler die Veranstaltung früher als geplant verließ, entging der NS-„Führer“ dem Attentat. (Foto: Bundesarchiv / Bild 183-E12329 / Wagner / CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Den Weg in den aktiven gewaltsamen Widerstand gingen nur wenige. Ein Georg Elser zum Beispiel. Der linksgerichtete Württemberger verübte am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller ein Sprengstoff-Attentat auf Adolf Hitler. Es scheiterte knapp, da der „Führer“ den Ort bereits vor der Explosion verlassen hatte. Oder ein patriotischer Offizier wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Sein Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 brachte nationalgesinnte Konservative, Liberale und linke Nazi-Gegner zusammen. Sie einte die patriotische Sorge um Deutschland, das sie von einem verbrecherischen Regime befreien wollten, dessen Politik geradewegs in den Untergang führte.

Mit dem Leben bezahlt

Stauffenberg und zahlreiche seiner Mitverschwörer hatten die NS-Herrschaft zunächst noch begrüßt, sich aber von der immer offener zutage tretenden Politik gegen den Frieden und die Interessen des deutschen Volkes abgewandt. Stauffenbergs Sprengstoff-Attentat auf Hitler scheiterte wie jener Georg Elsers. Und wie jener bezahlte der schwäbische Offizier die Tat mit dem Leben. Der Umsturz-Plan „Unternehmen Walküre“ lief zwar trotz des erfolglosen Anschlags an, blieb aber in den Anfängen stecken. Noch in der Nacht nach dem Attentat in Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze“ in Ostpreußen wurden die Haupt-Verschwörer um Stauffenberg und Generaloberst Ludwig Beck in Berlin hingerichtet.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (ganz links) am 15. Juli 1944 in Adolf Hitlers Hauptquartier Wolfsschanze, wenige Tage vor dem Attentat auf den „Führer“. (Foto: Bundesarchiv / Bild 146-1984-079-02 / CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Elser oder Stauffenberg genügte der stille Widerspruch nicht. Es reichte ihnen nicht, einfach bloß nicht mitzumachen. Sich zurückzuhalten. Oder ihr privates Glück zu suchen, während rings um sie herum alles in Scherben fällt. Die übergroße Mehrheit der Deutschen hatte diesen Mut eines Elser oder eines Stauffenberg nicht. Zumindest nicht in der Nazi-Zeit. Dafür rund 100 Jahre früher, als sich die Deutschen in ihrer Revolution gegen Fürsten-Tyrannei und Unterdrückung auflehnten. Und 1989, als Millionen Ost- und Mitteldeutsche die Krise ihres Landes, die Lügen der Medien und die Herrschaft ihrer Polit-Kaste satt hatten. Und ihr System der Einheits-Meinung und der Gängelung hinwegfegten.

Thomas Wolf

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Kommentar

Diskriminieren? Gerne – aber nur Deutsche

Gleichbehandlung ist eine zentrale Maxime des aktuellen gesellschaftlichen und politischen Diskurses. Dahinter steht die Annahme, dass jeder Mensch gleich viel wert ist. Dass niemand aufgrund seiner Religion oder Herkunft, seines Geschlechts oder seiner sexuellen Orientierung, seines Alters, seiner Behinderung oder seiner familiären Situation schlechter behandelt werden soll. Das ist vollkommen richtig. Darüber muss man nicht diskutieren. Wohl aber darüber, wie die Politik neuerdings gedenkt, die Gleichbehandlung umzusetzen.

Nicht mehr zeitgemäß?

Aktuell machen Pläne der Unabhängigen Bundesbeauftragten für Antidiskriminierung Schlagzeilen. Ferda Ataman will das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verschärfen. Unter anderem will sie die sogenannte Kirchenklausel streichen. Das unter Schwarz-Rot 2006 eingeführte Gesetz räumt nämlich kirchlichen Arbeitgebern verschiedene Ausnahmeregelungen ein. Sie dürfen beispielsweise ihren Mitarbeitern Vorgaben zur privaten Lebensführung machen. Dies stört Ataman. Solche Vorgaben seien nicht mehr zeitgemäß und stünden EU-Recht entgegen, meint sie.

Ferda Ataman fordert, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu verschärfen. (Foto: Stephan Röhl/Heinrich-Böll-Stiftung/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Anforderungen an die Religionszugehörigkeit oder an die Lebensweise von Mitarbeitern der Kirchen soll es künftig nur noch im engsten Verkündigungsbereich geben. Dabei ist Ataman offenbar entgangen, dass die Kirchen ihr Arbeitsrecht längst liberalisiert haben. In der katholischen Kirche etwa ist die private Lebensführung von Mitarbeitern seit dem vergangenen Jahr kein Hindernis bei Bewerbungen und kein Grund zur Kündigung mehr. Selbst Menschen, die in einer homosexuellen Beziehung leben, sind seither für die Kirche nicht mehr tabu.

Doch damit nicht genug. Ferda Ataman hat generell ein Problem mit der Mehrheitsgesellschaft. Ethnische Deutsche wertet sie als „Kartoffeln“ ab. Islam-Forscher Ahmad Mansour wirft ihr vor, Denkverbote zu befördern. Seyran Ateş, Gründerin der liberalen Ibn-Rushd-Goethe-Moschee in Berlin, kritisiert, Ataman messe mit zweierlei Maß. Von Debatten über den politischen Islam, zu Clan-Kriminalität, Ehrenmord oder Zwangsheirat unter Muslimen wolle sie nichts wissen. Und vor allem: Ataman diskriminiere die Mehrheit. Für die Ampel-Koalition bringt sie damit aber offenbar ideale Voraussetzungen mit, die Antidiskriminierungsstelle des Bundes zu leiten.

Politik gegen Deutsche

Die Folgen einer solchen Politik gegen die deutsche Bevölkerungs-Mehrheit kommen jetzt immer deutlicher zum Vorschein. Atamans Pläne machen nämlich längst nicht beim kirchlichen Arbeitsrecht Halt. Sie will es auch deutlich vereinfachen, eine vermeintliche Diskriminierung etwa bei der Wohnungssuche nachzuweisen. Der Nachweis soll einfach wegfallen! Stattdessen würde künftig eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit“ schon reichen. Es genügte also, bei einer Klage das Gericht glauben zu machen, dass man aufgrund seiner Hautfarbe, seiner Geschlechts-Identität oder seiner Homosexualität die Wohnung nicht bekam.

Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat ihren Sitz beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. (Foto: Jörg Zägel/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Das öffnet Tür und Tor für Missbrauch. Volker Boehme-Neßler, Professor für Öffentliches Recht an der Universität Oldenburg, hält Ferda Atamans Pläne sogar für verfassungswidrig. Und das auch gutem Grund. „Normalerweise müssen Sie etwas beweisen, wenn Sie etwas einklagen wollen“, erläutert er im Cicero-Interview. „Wenn Sie mich auf Schadenersatz verklagen wollen, weil ich Ihr Auto kaputt gemacht habe, dann müssen Sie beweisen, dass ich das war. Wenn Sie das aber nur glaubhaft machen müssen, dann reicht es, wenn Sie behaupten, Herr Boehme-Neßler hat mein Auto wahrscheinlich kaputt gemacht. Erstens kann er mich nicht leiden, und zweitens war er ungefähr um die Zeit in der Gegend unterwegs.“

In einem Rechtsstaat könne man nicht einfach Behauptungen aufstellen, sondern man müsse Beweise vorlegen. „Wenn die Forderung von Ferda Ataman umgesetzt würde, wäre das eine starke Gefährdung der Freiheit. Man könnte ganz einfach eine Behauptung aufstellen, um jemanden vor Gericht zu bringen. Wir erleben das ja im Augenblick, wie mit einer unheimlich großen Wirkung in der Öffentlichkeit oder auf Social Media schnell Behauptungen aufgestellt werden. Am Ende stellt sich oft heraus, dass eigentlich kaum was dran war. Diese Beweislastumkehr würde auch den Missbrauch von Diskriminierungsklagen sehr erleichtern.“

Ankläger und Richter

Und dann ist da noch etwas. Ataman fordert auch ein „altruistisches Klagerecht“ für ihre Antidiskriminierungsstelle. Laut Boehme-Neßler bedeutet das, Ataman könnte selbst Klage erheben. „Und das unabhängig davon, ob die Menschen, die – vielleicht – diskriminiert sind, eine Klage wollen oder nicht.“ Ataman und ihre Behörde erhielten damit faktisch die Kompetenz einer Staatsanwaltschaft. Und in Verbindung mit dem geplanten Instrument der verbindlichen Schlichtung würde die Antidiskriminierungsstelle sogar zu einer Art Gericht. Ankläger und Richter in einem also.

Hätte Ferda Ataman mit ihren Plänen Erfolg, würde ihre Antidiskriminierungsstelle Funktionen eines Gerichts übernehmen. So blinde (und damit unvoreingenommen) wie Justitia würde sie allerdings wohl nicht urteilen. (Foto: Pixabay)

Künftig gehen dann Wohnungen stets an Migranten. Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung. Führungspositionen an Frauen oder Homosexuelle. Und kirchliche Kitas dürften sich genötigt fühlen, aus Angst vor einer Klage statt einer christlichen eine muslimische Bewerberin einzustellen. Obwohl das den religiösen Bildungsauftrag einer solchen Einrichtung natürlich ad absurdum führen würde. Und das Ziel, gegen religiöse Diskriminierung vorzugehen, gleich mit. Es wäre nämlich nichts anderes als Diskriminierung derjenigen, die keiner privilegierten Minderheit angehören. Diskriminierung der deutschen Mehrheit. Also vermutlich genau das, was Ferda Ataman vorhat.

Anna Steinkamp

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Im Blickpunkt

Attacken auf Christen auch im Westen

Christen gehören weltweit zu den am häufigsten in ihren Grund- und Menschenrechten eingeschränkten Menschen. Sie werden attackiert, diffamiert und diskriminiert. In zahlreichen Staaten ist die Religionsfreiheit nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Wenn überhaupt. Das geht aus dem Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ des katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ hervor. Eine Untersuchung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche bestätigt die Ergebnisse. Selbst in westlichen Ländern, wo die Glaubens- und Gewissensfreiheit Verfassungsrang haben, fällt es Christen zunehmend schwer, ihre religiösen Überzeugungen öffentlich und ungehemmt zu vertreten.

Verachtet und angegriffen

Beispiel: Flüchtlingsheime. Hier zeigte sich insbesondere auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015, dass Christen oft Asylsuchende zweiter Klasse waren. Von ihren muslimischen Heim-Genossen wurden sie teils verachtet und ausgegrenzt und mitunter sogar angegriffen. Für die nahöstliche Religions-Gemeinschaft der Jesiden gilt dasselbe. Der Terror, den diese Menschen in ihrer Heimat erlebten – er verfolgte sie bis nach Deutschland. Hinzu kommt, dass deutsche Behörden vor allem bei erst kürzlich zum Christentum konvertierten Flüchtlingen oft pauschal davon ausgehen, dass der Übertritt nur erfolgte, um die Chancen zu verbessern, bleiben zu dürfen.

Felix Nmecha (rechts) im Duell mit Jérôme Onguéné beim Champions-League-Spiel des VfL Wolfsburg gegen den FC Salzburg. (Foto: Werner100359/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Zweites Beispiel: Fußball-Nationalspieler Felix Nmecha. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters kann ohne Übertreibung zu Deutschlands besten Fußballern gezählt werden. Auch wenn das angesichts der anhaltenden Erfolgs-Flaute beim DFB-Team nicht übertrieben viel aussagen mag. Im März spielte der 22-Jährige erstmals im Trikot der A-Nationalmannschaft. Seither berücksichtigte ihn Bundestrainer Hansi Flick nicht mehr. Warum? Offenbar passt er nicht so recht ins bunte Bild der DFB-Auswahl. Nmecha ist überzeugter Christ. Im Internet macht er daraus keinen Hehl. Mitunter teilt er auch Beiträge, die die Gender-Ideologie kritisieren. Damit gilt man heutzutage schnell als trans-feindlich.

Das kostete Nmecha beinahe den Wechsel vom VfL Wolfsburg zu Fast-Meister Borussia Dortmund. Als die ersten Transfer-Gerüchte aufkamen, protestierte eine Fan-Initiative heftig. Nmecha passe nicht zu einem toleranten und offenen Club wie dem BVB, hieß es. Am Ende war den Verantwortlichen im Verein die Spielstärke des Mittelfeld-Mannes offenbar wichtiger als politische Bedenken. Am Montag unterschrieb der Jungstar bei den Dortmundern einen bis 2028 gültigen Vertrag. Nmecha, beeilten sich Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und BVB-Präsident Reinhold Lunow zu versichern, habe sie überzeugt, dass er „kein transphobes oder homophobes Gedankengut“ in sich trage. Er respektiere und liebe alle Menschen „unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung“.

Mit dem Tod bedroht

Wenn nun schon im christlich geprägten Westen Christen nicht sicher sind. Ihre Meinung nicht frei äußern können, ohne sich rechtfertigen oder erklären zu müssen. Wenn sie mitunter sogar um Leib und Leben fürchten müssen – um wie viel schwieriger muss dann erst das Leben als Christ in Ländern sein, für die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht einmal ein Lippenbekenntnis ist? Totalitäre Staaten wie Nordkorea, das bei der weltweiten Rangfolge fehlender Religionsfreiheit von „Kirche in Not“ stets Spitzenplätze belegt. Oder muslimische Länder wie Pakistan. Dort kommt es immer wieder zu Übergriffen auf Christen. Ein Blasphemiegesetz bedroht Nicht-Muslime, denen vorgeworfen wird, den Islam, seinen Stifter Mohammed oder den Koran herabzuwürdigen, mit Haft und sogar mit Tod.

Bei den Ausschreitungen im indischen Bundesstaat Manipur zerstörte Fahrzeuge einer kirchlichen Einrichtung. (Foto: © Kirche in Not)

Zu den Sorgenkindern in Sachen Religionsfreiheit zählt zunehmend auch Indien. Seit Anfang Mai halten nach Angaben von „Kirche in Not“ im ostindischen Bundesstaat Manipur Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten an. Das Hilfswerk vermutet dahinter einen Plan, den hinduistischen Teil der Bevölkerung im Vorfeld der kommenden Parlamentswahlen auf Kurs der Regierungspartei BJP zu bringen und die Bevölkerung zu spalten. Dies vermutet ein katholischer Bischof, der aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genannt werden möchte. „Im April 2024 wird in Indien gewählt, und so wollen die Hindu-Nationalisten die Menschen vorher terrorisieren. Sie werden Christen und Muslime unter Druck setzen und wollen dadurch die Hindus für sich gewinnen“, sagt er.

Weit über 100 Tote

Der Bundesstaat Manipur grenzt an Myanmar. Immer wieder kommt es dort zu Spannungen zwischen der mehrheitlich hinduistischen Volksgruppe der Meitei und den christlichen Kuki und Naga. Letztere werden laut „Kirche in Not“ von der Regierung als „geschützter Stamm“ anerkannt. Das bringe bestimmte Privilegien mit sich. Landbesitz zum Beispiel. Die Meitei fordern diese Privilegien nun ebenfalls für sich ein. Nach Demonstrationen Anfang Mai brachen schwere Unruhen aus. Die Zahl der Toten soll unbestätigten Angaben zufolge mittlerweile bei weit über 100 liegen. Nach Angaben der indischen Erzdiözese Imphal sind bereits mehr als eine halbe Million Menschen geflohen. 

Niedergebrannt und verwüstet wurde dieses katholische Gemeindezentrum im ostindischen Erzbistum Imphal. (Foto: © Kirche in Not)

Behörden und Medien sprechen von einem rein ethnischen Konflikt. Der Gesprächspartner von „Kirche in Not“ betont jedoch, die Ausschreitungen seien mittlerweile zu einem interreligiösen Problem geworden. „Der eigentliche Grund für den Konflikt ist die Größe der christlichen Bevölkerung. Die Hindus sind der Meinung, dass es ihnen erlaubt sein sollte, Land zu besitzen, das den Christen gehört.“ Rund 250 Kirchen wurden nach Angaben des Bistums Imphal zerstört. Auch Gotteshäuser der christlichen Minderheit unter den Meitei. „Das ist ein starkes Indiz dafür, dass es hier nicht nur um Land geht“, sagt der Bischof.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Das ungesühnte Massaker von Sivas

Am 2. Juli 1993, vor genau 30 Jahren, starben bei einem mutmaßlich islamistisch motivierten Brandanschlag im türkischen Sivas 37 Menschen. Die weitaus meisten Opfer waren Aleviten. In der Türkei gehören dieser muslimischen Glaubensgemeinschaft Schätzungen zufolge gut 15 Prozent der Bevölkerung an. Bis heute ist das Verbrechen in der zentralanatolischen Stadt ungesühnt. Weder juristisch noch politisch wurde es jemals aufgearbeitet. Das kritisiert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen scharf. Und mahnt zugleich ein Ende der Unterdrückung der alevitischen Gemeinschaft an. Auch im jüngsten Wahlkampf habe es wieder massive Hetze gegen Aleviten gegeben. 

Täter auf freiem Fuß

Der Brandanschlag von 1993 traf das Hotel Madımak. 35 der Opfer waren nach Angaben der GfbV alevitischer Herkunft, bei zwei weiteren handelte es sich um Angestellte des Hotels. „Viele der Täter sind bis heute auf freiem Fuß“, kritisieren die Göttinger Menschenrechtler. „Neun von ihnen sollen inzwischen in Deutschland leben, einige die deutsche Staatsbürgerschaft haben.“ In der Bundesrepublik leben den Angaben zufolge etwa eine Million Aleviten. In der Türkei seien sie seit Jahrzehnten Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. „Es gab immer wieder Pogrome“, heißt es von der GfbV. Allein in der Region Dersim starben 1938 etwa 70.000 Aleviten bei Übergriffen. Die Göttinger Gesellschaft rückt diese Taten in die Nähe eines Genozids. Der Grund für den Hass? Viele sunnitische Muslime betrachten ihre alevitischen Glaubensgeschwister als Häretiker.

Bei einer Demonstration in Hannover zeigen Aleviten ein Plakat mit den Porträts von 33 Künstlern, die 1993 bei dem Brandanschlag in Sivas starben. (Foto: Bernd Schwabe in Hannover/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Dem Anschlag war ein alevitisches Kulturfestival zu Ehren des alevitischen Dichters Pir Sultan Abdal vorausgegangen, der im Jahr 1550 gestorben sein soll. Zuverlässige historische Überlieferungen zu seinem Leben existieren allerdings nicht. Bei dem Festival erklärte dem Internet-Lexikon Wikipedia zufolge der Schriftsteller Aziz Nesin, er halte einen Teil der türkischen Bevölkerung für „feige und dumm“, da sie nicht den Mut hätten, für die Demokratie einzutreten. Dies soll konservative Sunniten derart provoziert haben, dass sich am 2. Juli eine aufgewühlte Menschenmenge vor jenem Hotel Madımak versammelte. Dort wohnten Aziz Nesin und andere Teilnehmer des Festivals. Die nach Schätzungen bis zu 20.000 Sunniten kamen teils direkt von ihrem Freitagsgebet.

Kein Hotel mehr

Aus der Masse der wütend protestierenden Menschen flogen Brandsätze gegen das Hotel. Das Gebäude soll im Wesentlichen aus Holz gebaut gewesen sein. So breitete sich das Feuer rasend schnell aus. Weil die wütende Menschenmenge vor dem Hotel die Fluchtwege blockierte, gelangten die Eingeschlossenen nicht ins Freie. Und verbrannten. Aziz Nesin, dem der Anschlag womöglich in erster Linie galt, überlebte mit nur leichten Verletzungen. Der Tatort ist heute kein Hotel mehr. Das Gebäude wird als Kulturzentrum genutzt. Auch eine Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags befindet sich dort. Aleviten fordern immer wieder, aus dem Kulturzentrum ein „Friedens-Museum“ zu machen. Bislang vergebens.

Das wiederhergerichtete Hotel Madımak in Sivas. (Foto: gemeinfrei)

Ebenfalls nicht erfolgreich sind alevitische Verbände mit ihrer Forderung nach einer unabhängigen Aufklärung des Anschlags. „Abgesehen von Schauprozessen gegen Einzelne ist nichts passiert“, sagt GfbV-Nahostexperte Kamal Sido. Die meisten Täter seien auf freiem Fuß. Zu den Hintermänner, „auf deren Hetze die Verbrechen zurückgehen“, zählt Sido auch den heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie hätten sich weder entschuldigt noch daraus gelernt. „Im Gegenteil: Während des letzten Wahlkampfs haben Erdoğan und seine Anhänger in vielfältiger Form massiv gegen die alevitische Minderheit gehetzt.“ Wirklich überraschend ist das nicht: Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ist selbst Alevit. 

Nicht aufgearbeitet

Wäre das Verbrechen von Sivas politisch aufgearbeitet worden, meint Kamal Sido, hätte es im Wahlkampf weniger Hetze gegen Aleviten gegeben. „Es ist unerträglich, dass Menschen in der Türkei immer noch Angst haben, sich zu ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu bekennen und offen darüber zu sprechen“, kritisiet Sido. „Eine alevitische, kurdische, armenische, jesidische, christliche oder jüdische Herkunft ist kein Verbrechen. Ein Verbrechen ist es, jemanden wegen seiner Abstammung, seiner Sprache, seines Glaubens oder seiner politischen Überzeugung zu benachteiligen oder zu verfolgen.“ Diesen Grundsatz müsse auch die Türkei respektieren.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Tödliche Kollision überm Bodensee

Mehr als 70 Tote, auseinandergerissene Familien, eine Ferienregion in Schockstarre und ein Schrecken, der mit der Katastrophe nicht endete. Am 1. Juli 2002 kollidierten über dem Bodensee zwei Flugzeuge. Niemand an Bord überlebte. Nahe der badischen Stadt Überlingen, wo die Trümmer der zerstörten Maschinen auf die Erde fielen, erinnern zwei Gedenkstätten an die Opfer der Tragödie. Es war das schlimmste Unglück in der bundesdeutschen Luftfahrt-Geschichte. Lediglich der Absturz einer Aeroflot-Maschine 1986 in Ost-Berlin und die Flugzeug-Katastrophe von Königs Wusterhausen 1972 in der damaligen DDR forderten mehr Todesopfer.

Nacht zum 2. Juli 2002

Wie schon im vergangenen Jahr, so steht das Gedenken auch 21 Jahre nach dem Unglück im Schatten des Kriegs in der Ukraine. Ein Unglück, das in der Nacht auf den 2. Juli 2002 seinen Lauf nahm. Für Fluglotse Peter Nielsen, Flugverkehrsleiter bei der Schweizer Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, war es zunächst ein Abend wie unzählige zuvor. Gegen 23.20 Uhr meldet sich DHL-Flug 611 aus Bergamo bei Skyguide an. Als Bezirkskontrollstelle ist das Schweizer Unternehmen mit der Flugsicherung im äußersten Süden Baden-Württembergs betraut. Später sollte das Landgericht Konstanz dies als rechtswidrig verurteilen.

DHL-Flug 611 aus Bergamo steuert direkt auf die Tupolew der Bashkirian Airlines zu. (Foto: Anynobody/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Auf Anfrage von DHL-Kapitän Paul Phillips gestattet Nielsen der Frachtmaschine einen Anstieg auf rund elf Kilometer. Dass sich auf derselben Höhe ein anderes Flugzeug nähert, bemerkt er nicht. Es ist eine Tupolew der russischen Gesellschaft Bashkirian Airlines. An Bord von Flug 2937 befinden sich 69 Menschen. Die meisten von ihnen sind Schulkinder aus der russischen Republik Baschkortostan rund um Ufa. Weil der zweite Fluglotse Pause hat, muss Nielsen zwei Radarschirme beaufsichtigen. Und ist einen Moment abgelenkt. Als er die gefährlichen Flugbewegungen erkennt, befiehlt er der Tupolew sofort, in den Sinkflug zu gehen. Nahezu zeitgleich ordnet an Bord das Kollisionswarnsystem den Steigflug an.

Bashkirian-Pilot Alexander Gross und seine Cockpit-Crew sind irritiert und diskutieren die Anweisung. Schließlich gehorchen sie dem Fluglotsen. DHL-Kapitän Phillips folgt derweil der Anweisung seines Bord-Warnsystems und geht mit der Boeing ebenfalls in den Sinkflug. Beide Maschinen befinden sich nun erst recht auf Kollisionskurs! Als Gross ein Ausweichmanöver beginnt, ist es zu spät. Um 23.35 Uhr zertrümmert die DHL-Maschine den Rumpf der Tupolew und lässt sie nördlich von Überlingen abstürzen. Die Boeing trudelt noch ein paar Kilometer durch die Luft und kracht bei Taisersdorf in einen Wald.

Kinder aus Russland

Alle 71 Menschen an Bord sterben. Auch die 49 Kinder aus Baschkortostan. Die Schüler, die bei dem Unglück zu Tode kommen, waren auf dem Weg nach Barcelona zu einer Ferienfreizeit. Daran hätten sie als Belohnung für herausragende schulische Leistungen teilnehmen dürfen. Weil ihr Bus den Moskauer Flughafen zu spät erreichte, waren sie gezwungen, auf die Unglücksmaschine umzubuchen. Ihre Familien sollten die Kinder nie mehr wiedersehen. Manche der Angehörigen zerbrachen an der Schreckensnachricht aus Deutschland. So wie Witali Kalojew, der bei Überlingen seine Frau und zwei Kinder verlor. Für ihn ist Fluglotse Peter Nielsen ein Mörder.

Ein Fluglotse der Schweizer Flugsicherung Skyguide im Kontrollturm des Flughafens Zürich. (Foto: Petar Marjanovic/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Und so endet das Sterben nicht in jener Nacht zum 2. Juli 2002. Nielsen sollte zum 72. Opfer der Tragödie werden. Knapp zwei Jahre nach dem Unglück. Obwohl technische Probleme zu der Kollision beitrugen, gibt Witali Kalojew dem diensthabenden Fluglotsen die Schuld. Gerade einmal vier Jahre alt war Kalojews Tochter Diana, als sie bei Überlingen aus dem Leben gerissen wurde – das jüngste Opfer des Unglücks. Noch während die Staatsanwaltschaft in der Schweiz wegen fahrlässiger Tötung gegen Nielsen ermittelt, lauert Kalojew dem 36-Jährigen im Februar 2004 auf und ersticht ihn.

Technische Probleme

Zwar trägt Nielsen eine Mitverantwortung für die Kollision. Doch versagt hat auch die Technik. Bei Skyguide funktionierten an jenem Abend die Telefone nicht. Und auch das bodengestützte Warnsystem, das die Gefahr von Kollisionen in der Luft anzeigen sollte, war außer Betrieb. Massive technische Probleme gab es auch im vergangenen Jahr wieder bei Skyguide. Mehrere Stunden lang waren im Juni 2022 in der gesamten Schweiz weder Flugzeugstarts noch Landungen oder Überflüge möglich. Der gesamte Luftraum war gesperrt. Offenbar hatte es Schwierigkeiten mit der Computertechnik gegeben. Menschliche Eingriffe, etwa einen Hackerangriff, schloss Skyguide aus.

Am Ort des Absturzes der Tupolew-Maschine erinnert das Mahnmal „Die zerrissene Perlenkette“ an die Flugzeugkatastrophe vom 1. Juli 2002 und an die Opfer, darunter 49 russische Schulkinder. (Foto: privat)

Bis heute ist das Unglück über dem Bodensee in der Ferienregion nicht vergessen. Viele Menschen in Überlingen und Umgebung erinnern sich an jene Nacht, als plötzlich Explosionsgeräusche die nächtliche Stille zerrissen. Zwei Gedenkstätten halten die Erinnerung an die Katastrophe und die 71 Opfer des 1. Juli 2002 wach. Wo der Rumpf der Tupolew aufschlug und die meisten Todesopfer geborgen wurden, beim Überlinger Ortsteil Brachenreute, ziehen mächtige Edelstahlkugeln die Blicke auf sich. Wie silberne Glieder einer zerrissenen Perlenkette liegen sie am Rand eines Wäldchens, das mit Birken, Eschen und Sibirischen Zirbelkiefern bepflanzt ist.

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Im Blickpunkt

Ostdeutsche: Diffamiert und missverstanden

Rund die Hälfte der Menschen in Ost- und Mitteldeutschland stimmt rechtsextremen Positionen zu. Gut sieben Prozent haben sogar ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Leipzig. In einzelnen Regionen ist der Wert noch deutlich höher. In Sachsen-Anhalt etwa beträgt er mehr als elf Prozent. Frühere Untersuchungen geben teils weit niedrigere Zahlen an. Die federführend von dem gleichen Forscher-Team durchgeführte Studie „Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten“ aus dem vergangenen Jahr 2022 etwa nennt für die neuen Bundesländer gerade einmal 2,1 Prozent Rechtsextreme.

Rechtsextreme im Westen

Laut jener Untersuchung im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung und der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung liegt der Anteil der Menschen mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“ im Westen der Bundesrepublik bei 2,9 Prozent. Also sogar höher als in Ost- und Mitteldeutschland! Zugleich stellt die Studie einen anhaltend abnehmenden Trend fest. Rechtsextremistische Ansichten gehen also seit Jahren zurück. Grundsätzlich gilt das auch für den deutschen Osten. Auch wenn die Wissenschaftler hier über die Jahre teils „deutliche Schwankungen“ feststellten: von 8,0 Prozent 2002 über 15,8 im Jahr 2012 bis hin zu den 2,1 Prozent 2022.

Ein Aufmarsch von echten Rechtsextremisten in München. (Foto: Rufus46/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Bei Detailfragen unterscheiden sich Ost und West oft nur unwesentlich. Auffällig ist allerdings, dass die Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Verfassung festgelegt ist“ 2022 in Ost- und Mitteldeutschland mit über 90 Prozent sogar mehr als zehn Prozentpunkte höher lag als in der alten Bundesrepublik. Dort waren nur rund 79 Prozent mit dem demokratischen System zufrieden. Bei der Frage nach der Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“ lagen sowohl Ost als auch West zwischen 50 und 60 Prozent.

Sinnloses Engagement

Und nun also die aktuelle Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Uni Leipzig. Mehr als sieben Prozent mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“. Dazu bewertet nicht einmal die Hälfte der befragten Ost- und Mitteldeutschen den Zustand der Demokratie hierzulande als positiv. Fast zwei Drittel halten es sogar für sinnlos, sich politisch zu engagieren. Gut drei Viertel gehen davon aus, ohnehin keinen Einfluss darauf zu haben, „was die Regierung tut“. Hinzu kommt die Schlussfolgerung, einzelnen rechtsextremen Positionen hänge rund die Hälfte der Menschen an. Etwa dem Wunsch nach einer „starken Partei“, die die „Volksgemeinschaft“ verkörpere.

Handelt es sich um echte neue Erkenntnisse der Leipziger Wissenschaftler? Hat die rechtsextremistische Einstellung zwischen Rügen und Erzgebirge wirklich so kurzfristig und so deutlich zugenommen? Innerhalb eines Jahres. Oder hat sich lediglich die Methodik der Forscher geändert? Zur Erinnerung: Die Werte für das rechtsextremistische Weltbild schwanken von Untersuchung zu Untersuchung und sind damit nur eingeschränkt deutbar. Allein die Frage, wann eine Aussage rechtsextrem ist, dürfte keineswegs allgemeingültig zu beantworten sein. Erst recht nicht in Zeiten, in denen laut Verfassungsschutz bereits das Bekenntnis zu einem ethno-kulturell verstandenen deutschen Volk als extremistisch gilt.

Mauer in den Köpfen

Und noch eine Möglichkeit besteht. Die Wissenschaftler, die an der aktuellen Studie beteiligt waren, stammen entweder aus den alten Bundesländern oder sind in einem Alter, dass sie mit Sicherheit nicht in der DDR, sondern gesamtdeutsch sozialisiert sind. Und das wiederum heißt im Wesentlichen: westdeutsch. Projizierten sie also lediglich ihre eigenen Vorurteile über ihre ost- und mitteldeutschen Landsleute in die Studie hinein? Böse Vorurteile wie jenes von „Dunkeldeutschland“? Die Mauer in den Köpfen – sie ist zwar kleiner geworden, aber auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer präsent.

Springer-Chef Mathias Döpfner (Zweiter von links) im Juni 2019 neben Verlegerin Friede Springer und dem früheren BILD-Herausgeber Kai Diekmann auf dem Dach der US-Botschaft in Berlin. Rechts im Bild: der später geschasste BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. (Foto: United States Department of State/gemeinfrei)

„Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ Dieses Pauschal-Urteil stammt von Mathias Döpfner. Es zeigt beispielhaft und anschaulich, welche Vorurteile gegen Ost- und Mitteldeutsche in westdeutschen Köpfen noch vorherrschen. Der milliardenschwere Chef des Springer-Verlags schrieb dergleichen in einer internen Nachricht, aus der die „Zeit“ zitierte. Nach massivem Protest in Politik und Medien musste Döpfner sich entschuldigen. Für die Masse der Medien und Politiker war die Sache damit erledigt. Wohlgemerkt: Medien und Politiker, die in ihrer großen Mehrheit westdeutsch geprägt sind.

Gleiches gilt für nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz und Wirtschaft sind mit Menschen aus den neuen Bundesländern besetzt. Dies rechnet der Leipziger Germanist Dirk Oschmann in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ vor. Ost- und Mitteldeutschland sind demnach massiv unterrepräsentiert. Dass dadurch ein Ungleichgewicht in der Darstellung und Wahrnehmung der Menschen im „Osten“ entsteht, dürfte kaum überraschen. Womöglich spricht dergleichen auch aus der jüngsten Leipziger Rechtsextremismus-Studie.

„Natürlich ein Nazi …“

Ein Sturm zieht seit Jahren über Millionen Ost- und Mitteldeutsche. „Fremdenfeindlich, chauvinistisch und natürlich ein Nazi“ sei der „Ossi“, treibt Oschmann die Angriffe auf die Spitze. Er selbst ist Jahrgang 1967 und stammt aus Thüringen. Die DDR hat er als Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Bezirk Erfurt miterlebt. Ab 1986 studierte er an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Oschmann ist also selbst „Ossi“ und weiß daher, wovon er spricht und schreibt. Apropos „Ossi“: Er ist dem Buch zufolge nichts als eine Erfindung von Westdeutschen, um sich von ihren ungeliebten Landsleuten aus der früheren DDR abzugrenzen.

Ja, es gibt „Nazis“ in Ost- und Mitteldeutschland. Rechtsextreme, die Demokratie und Menschenrechte ablehnen. Es gibt sie auch in Bayern, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen. Aber sie sind hier wie da weit davon entfernt, die Gesellschaft zu prägen. Denn nicht alles, was Politik, Medien oder „Antifa“-Aktivisten als rechts oder gar rechtsextrem bezeichnen, ist tatsächlich braun angehaucht. Die Wahl der nationalkonservativen AfD? – Demokratisches Recht. Die Ablehnung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete? – Pazifismus. Kritik an der Energie- und Klimaschutz-Politik der rot-grün-gelben Ampel-Koalition? – Meinungsfreiheit. Und wer Gender-Ideologie und Minderheiten-Politik zurückweist? – Der orientiert sich schlicht an biologischen Fakten.

1989 sind Mauer und Grenzanlagen gefallen, die Ost und West jahrzehntelang teilten. Die Mauer in den Köpfen aber besteht weiter. (Foto: RIA Novosti archive/image #428452/Boris Babanov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Wer das Klischee von „Dunkeldeutschland“ dennoch weiterträgt, der tut seinen Landsleuten Unrecht. Der will die Menschen in Mittel- und Ostdeutschland womöglich missverstehen. Oder sogar verletzen. Und er hat offensichtlich kein Interesse, den Bruch zu heilen, der mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer durch das Land geht. Ein Graben, den die „Doppelmoral und Heuchelei“ des Westens speist, wie Oschmann es ausdrückt. Dabei könnte das wiedervereinigte Deutschland den Graben leicht zuschütten. Wenn West und Ost besser aufeinander hören und voneinander lernen. Und wenn die Diffamierung der „Ossis“ endlich aufhört.

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

„Einheitsfront“ ohne Alternative

Der ARD-DeutschlandTrend ist so etwas wie das Flaggschiff der Meinungsumfragen hierzulande. Entsprechend groß ist die Aufmerksamkeit, die die Ergebnisse der repräsentativen Befragung erhalten. „Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, würde die Union laut Umfrage-Ergebnissen des aktuellen DeutschlandTrends für das ARD-Morgenmagazin klar stärkste Fraktion“, liest man bei der Tagesschau. „Sie könnte ihr Ergebnis von vor drei Wochen mit 29 Prozent halten.“ Die vielleicht bedeutendste Meldung kommt direkt im Anschluss. Die AfD würde demnach „mit 19 Prozent den höchsten jemals im ARD-DeutschlandTrend ermittelten Wert für diese Partei erreichen“.

SPD auf dem dritten Platz

Die AfD überholt damit auch in der ARD-Umfrage erstmals die Sozialdemokraten. Sie ist damit die aktuell zweitstärkste politische Kraft in Deutschland. „Die SPD würde von der AfD auf den dritten Platz verdrängt werden und bekäme 17 Prozent der Stimmen“, schreibt die Tagesschau. Das ist ein Prozentpunkt weniger als bei der vorigen Umfrage. Die Grünen kämen auf 15 Prozent. Die FDP würde einen Prozentpunkt verlieren und auf sechs Prozent kommen. Für die Linkspartei würden sich unverändert vier Prozent der Wähler entscheiden. Damit bliebe ihr ein Einzug in den Bundestag höchstwahrscheinlich verwehrt.

Der ARD-DeutschlandTrend sieht die AfD erstmals als zweitstärkste politische Kraft in Deutschland. (Foto: DAB)

Ja, die Alternative für Deutschland ist auf einem Höhepunkt ihrer Beliebtheit. Nicht nur bei der ARD-Umfrage. Andere Institute sehen die Partei sogar bereits bei 20 Prozent. Und das bei noch nicht einmal ausgeschöpftem Wähler-Potenzial. Die Zustimmungswerte könnten in den kommenden Wochen und Monaten also noch einmal deutlich ansteigen. Vielleicht auf fast 30 Prozent. Betrachtet man nur die neuen Bundesländer (außer Berlin), liegt die AfD bereits jetzt bei 32 Prozent. Der Grund für den Höhenflug liegt nach nahezu einhelliger Meinung von Beobachtern an der weitverbreiteten deutlichen Ablehnung der rot-grün-gelben Regierungspolitik. An Energiewende und Klimaschutz, am Selbstbestimmungsgesetz und der Gender-Politik, an den Russland-Sanktionen und und den Waffenlieferungen an die Ukraine.

Massive Angriffe

Je weiter die Umfrage-Werte der AfD nach oben klettern, desto massiver werden die Angriffe des politischen Gegners. Rechtsextrem sei die Alternative für Deutschland, heißt es nun fast einhellig von Regierung und Leitmedien. Zuvor hatte man sich oft noch mit der Beschreibung „rechtspopulistisch“ begnügt. Selbst die Union beteiligt sich am parteiübergreifenden Kampf gegen die Alternative. Der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz nennt die AfD sogar „faschistisch“. Dabei hatten CDU und CSU zumindest bis zum Beginn der Ära Angela Merkel noch selbst vielen jener konservativen Strömungen bei sich eine Heimat geboten, die heute die Alternative für Deutschland vertritt.

Auch der Verfassungsschutz zeigt zunehmendes Engagement gegen die AfD. So sehr, dass mancher Beobachter der Behörde bereits Parteilichkeit vorwirft. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang, selbst CDU-Mitglied, sagte kürzlich in einem ZDF-Interview: „Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken.“ Er habe dazu auch keinerlei Möglichkeit, aber „wir können die Bevölkerung wachrütteln, Politiker wachrütteln“. Haldenwangs Vorgänger Hans-Georg Maaßen hatte ein Vorgehen seiner Behörde gegen die AfD noch abgelehnt. Er sei kein „Konkurrenzschutz“ für die großen Parteien.

Thomas Haldenwang ist CDU-Mitglied und Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Nach Ansicht von Verfassungsrechtlern hat er durch seine jüngsten Aussagen zur AfD seine Kompetenzen überschritten. (Foto: Christliches Medienmagazin pro/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Auch Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler sieht in Haldenwangs Äußerungen eine „eindeutige Grenzüberschreitung“. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz überschreite seine Kompetenzen ganz klar, sagte Boehme-Neßler der BILD-Zeitung. Wenn der Verfassungsschutz aus politischen Gründen agiere, sei das verfassungswidrig. Der Geheimdienst dürfe sich „von der Politik nicht instrumentalisieren lassen“, sei „keiner politischen Richtung verpflichtet“ und müsse „seinen Aufgaben im gesamten politischen Spektrum nachkommen“, machte Boehme-Neßler deutlich.

AfD an der Regierung?

Der Kampf gegen die AfD – er wird offenbar mit Verbissenheit geführt. Und bisweilen auch mit Anzeichen von Verzweiflung. So warf der beim ZDF als „Satiriker“ beschäftigte Jan Böhmermann seiner ARD-Kollegin Sandra Maischberger AfD-Nähe vor. Maischbergers Vergehen? Sie hatte AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla in ihre Sendung eingeladen. „Sandra Maischberger lädt Nazis in ihre Talkshow ein, damit Nazis nach der Machtergreifung Sandra Maischberger auch ihre Talkshow einladen“, echauffierte sich Böhmermann bei Twitter. Beobachter mutmaßten daraufhin, der Moderator des „ZDF Magazin Royale“ gehe ernsthaft von einer baldigen Regierungsübernahme der AfD aus.

ZDF-Satiriker Jan Böhmermann ist umstritten. Eine Twitter-Nachricht, in der er AfD-Sprecher Tino Chrupalla als „Nazi“ bezeichnete, deutet an, dass Böhmermann von einer baldigen Regierungsübernahme der AfD ausgeht. (Foto: Superbass/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Davon ist Deutschland aber weit entfernt. Etwas anders ist die Situation im thüringischen Kreis Sonneberg. Dort könnte am Sonntag der erste Landrat der AfD gewählt werden. Beim ersten Wahlgang erreichte Robert Sesselmann rund 47 Prozent der Stimmen. Erfolgreichster Konkurrent war CDU-Mann Jürgen Köpper mit rund 35 Prozent, gegen den Sesselmann nun in der Stichwahl antritt. Um den bundesweit ersten AfD-Landrat zu verhindern, stellen sich alle wesentlichen politischen Kräfte hinter Köpper.

Parallel dazu sieht sich Sesselmann kurz vor dem Urnengang mit Ermittlungen des politischen Staatsschutzes konfrontiert. Bei einem Wortgefecht soll er einen Wahlhelfer der CDU verbal attackiert und ihn bedroht haben. Der Mann habe sich zuvor an Plakaten der AfD zu schaffen gemacht, heißt es von Sesselmann. Die Polizei sprach von einem „möglicherweise strafrechtlich relevanten Sachverhalt“. Derweil ließ die Staatsanwaltschaft Mühlhausen das Privathaus von Thüringens AfD-Chef Björn Höcke durchsuchen. Die Behörde ermittelt zwar nicht gegen ihn, sondern gegen seinen minderjährigen Sohn. Wegen Waffenbesitzes. Für Anhänger der AfD kommen solche Meldungen nicht zufällig. Sie vermuten dahinter ein System. Ein Kartell der Altparteien wolle damit dem politischen Gegner schaden.

„Alle gegen die AfD“

Dem ARD-DeutschlandTrend zufolge trifft diese Strategie des „Alle gegen die AfD“ auf Zustimmung. „Um AfD-Kandidaten bei Stichwahlen für Bürgermeister- oder Landratsämter zu verhindern, haben sich zuletzt die übrigen Parteien häufiger zusammengetan und eine Wahlempfehlung für Gegenkandidaten ausgesprochen. Dieses Vorgehen hält etwa jeder zweite Bürger (52 Prozent) für richtig“, heißt es bei der Tagesschau. Immerhin 35 Prozent lehnt dieses Vorgehen allerdings ab. Auch in Mittel- und Ostdeutschland, also in den Hochburgen der Nationalkonservativen, sprechen sich 47 Prozent der Befragten für einen gemeinsamen Kampf gegen die AfD aus. Rund 40 Prozent sind allerdings klar gegen ein solches Modell einer Art „Einheitsfront“ wie zu DDR-Zeiten. Und damit deutlich mehr als im Westen.

In der DDR bildeten Block-Parteien und Massenorganisationen die „Nationale Front“. (Foto: Bundesarchiv / Bild 183-S88622 / Igel / CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Auffällig ist, dass die 35- bis 49-Jährigen ein Zusammenwirken der Parteien gegen die AfD sogar bundesweit mehrheitlich ablehnen. Genau in dieser mittleren Altersgruppe genießt die AfD ihre größten Zustimmungswerte. Ohnehin ist die Frage, ob die Strategie der etablierten Parteien auf Dauer aufgeht. Bei der Wahl des Oberbürgermeisters in Schwerin am vorigen Wochenende gewann SPD-Kandidat Rico Badenschier mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen deutlich gegen AfD-Herausforderer Leif-Erik Holm. Am Sonntag in Sonneberg dürfte es für die Etablierten schon bedeutend enger werden.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

„Ich weigere mich, Angst zu haben“

Gut 15 Monate nach dem Einmarsch in der Ukraine hat der Krieg längst Russland selbst erreicht. Nahezu täglich steht das Land mittlerweile unter Beschuss. Vor allem der russische Grenzbezirk Belgorod nordwestlich der umkämpften Donbass-Regionen Lugansk und Donezk ist betroffen. Hier gelang kürzlich Kämpfern zweier pro-ukrainischer Milizen ein medialer Coup. Die „Legion Freiheit für Russland“ und das „Russische Freiwilligenkorps“ drangen auf russisches Territorium vor und leisteten den Sicherheitskräften mehr als 24 Stunden erbittert Widerstand. Sogar nach Einschätzung westlicher Medien stehen die beiden Milizen, die vorgeben, Russland befreien zu wollen, unter der Kontrolle von militanten Rechtsextremisten.

Kämpfer des „Russischen Freiwilligenkorps“ bei einer Pressekonferenz mit westlichen Journalisten. Führer der pro-ukrainischen Miliz ist der russische Rechtsextremist Denis Kapustin (im Bild), der eine Zeitlang in Köln lebte. Dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), galt er einst als einer der einflussreichsten Neonazis in Deutschland. (Foto: Oksana Ivanecz/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Selbst das mehr als 600 Kilometer von Belgorod entfernte Moskau ist nicht mehr sicher. Bereits Anfang Mai schoss die russische Luftabwehr eine Drohne über dem Kreml ab. Der schlagzeilen-trächtigen Attacke folgte am Dienstag ein massiver Angriff, an dem russischen Angaben zufolge rund 25 ferngesteuerte Kleinst-Flugzeuge beteiligt waren. Anfangs hörte man im Westen Stimmen, die mutmaßten, solch frontferne Angriffe seien inszeniert. Doch was hätte der Kreml davon? Offenbar verfolgen die Angreifer mit den Drohnen-Attacken den Zweck, in der russischen Hauptstadt für Angst und Schrecken zu sorgen. Und das Vertrauen der Moskauer und der Russen insgesamt in das eigene Militär und die Regierung zu schwächen.

„Seit etwa einem Monat“

Zunehmend gerät neben Belgorod und Moskau auch eine dritte Gegend ins Visier der Angreifer. „Es passiert seit etwa einem Monat immer wieder etwas in meiner Region“, erzählt Nina Popova, die die Telegram-Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“ betreibt. Ihre Region – das ist der Krasnodarskij Kraj am Schwarzen und am Asowschen Meer, der Bezirk um die südrussische Millionen-Stadt Krasnodar. „Als die Taman vor ein paar Wochen gebrannt hat, konnte ich es von meinem Fenster aus sehen“, sagt Popova. Der Drohnen-Angriff auf ein Öllager schaffte es auch in die Tagesschau. Taman ist etwa 20 Kilometer von Ninas Wohnort entfernt.

Nina Popova lebt im südrussischen Krasnodarskij Kraj. Die Flammen, die aus dem attackierten Öllager von Taman aufloderten, sah sie am Horizont. (Foto: privat)

Nur wenige Kilometer weiter liegt die Brücke, die über die Straße von Kertsch auf die Halbinsel Krim führt. Die Brücke wurde im vergangenen Herbst bei einem heftigen Anschlag stark beschädigt, kann mittlerweile aber wieder befahren werden. Die russischen Behörden machten die Ukraine für die Attacke mit einem Sprengstoff-Lkw verantwortlich. Amtlich zugegeben, dass es wirklich so war, hat Kiew allerdings erst vor wenigen Tagen. „Ich wohne nah an der Brücke“, sagt Nina Popova. Und fügt hinzu: „Wäre doch eine Ironie: Deutsche Raketen treffen eine deutsche Staatsbürgerin.“ Dann entschuldigt sie sich im Gespräch für ihren „schwarzen Humor“.

Extra auf die Kinder gewartet?

Popova ist 40 Jahre alt, lebte rund drei Jahrzehnte in der Bundesrepublik und hat einen deutschen Pass. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Sie liebt Deutschland und setzt sich über ihre beiden Telegram-Kanäle auch für die deutsch-russische Versöhnung ein. Seit 2019 ist Nina zurück in Russland, wo sie mit ihrem russischen Mann und einer Tochter lebt. Dass die Angriffe gerade jetzt zunehmen, kann sie nicht verstehen. „Das Schreckliche ist, dass jetzt hier Ferien sind und die Menschen ihre Kinder hierher bringen. Sie haben extra gewartet, dass hier viele Kinder sind. Ich empfehle mittlerweile jedem, dieses Jahr nicht mehr hierhin zu kommen.“

Die Region Krasnodar am Schwarzen Meer ist ein Touristen-Magnet, besonders im Sommer. Ausgerechnet jetzt, am Beginn der warmen Jahreszeit, intensiviert die Ukraine ihre Angriffe. (Foto: SpartanDav/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Dann wendet sich Nina Popova an Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock. „Ich hoffe, ihr schlaft gut und euch raubt der Gedanke nicht den Schlaf, dass die Ukrainer bis zum Sommer gewartet haben.“ Scholz und Baerbock tragen die politische Hauptverantwortung für die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Zunächst hatte die Ampel-Koalition nur Schutzhelme und Verbandsmaterial liefern wollen. Mittlerweile rollen wieder schwere deutsche Panzer gegen Russland. Dagegen findet die Lieferung von Kampfflugzeugen bislang keine Mehrheit in der deutschen Politik. Wirklich ausgeschlossen hat die Regierung sie allerdings nicht. „Deutschland hat Terroristen ausgestattet“, ist Nina angesichts der Angriffe in Russland überzeugt.

„Die Kuban war nie ukrainisch“

Warum ist gerade die Kuban-Region um Krasnodar zu einem der Zentren ukrainischer Angriffe geworden? „Das Problem ist, dass hier unkontrolliert Ukrainer als Flüchtlinge reingekommen sind“, erzählt Popova. Sie könnten strategische Positionen an feindliche Kämpfer verraten, mutmaßt sie. „Nun soll jeder einzelne besser überprüft werden. Etwa 1,5 Millionen sind bereits russische Staatsbürger. Die anderen bekommen ab jetzt keine Auszahlungen mehr. Bisher haben die überall Gelder bekommen – ungeachtet der Staatsangehörigkeit.“ Ukrainische Nationalisten, erklärt Nina, betrachten das Gebiet um Krasnodar als Teil der Ukraine. „Sie haben schon vor 2014 davon geträumt, es Russland wegzunehmen. Doch die Kuban war noch nie ukrainisch.“

Die Grenzziehung der Groß-Ukraine, wie sie die ukrainische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 vorschlug. Die Region um Krasnodar ist auf der französischen Karte als „Kouban“ eingetragen. (Foto: gemeinfrei)

Die Begehrlichkeiten dürften Gründe haben, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Gut 100 Jahre nämlich. Bis in die Zeit der Ukrainischen Volksrepublik, die als erster ukrainischer Nationalstaat gilt. Das Staatswesen, das sich im Januar 1918 für unabhängig erklärte, beanspruchte Gebiete, die weit über die heutige Ukraine hinausgehen. Bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg in Paris präsentierte eine ukrainische Delegation ihre Forderungen. Rostow am Don wäre demnach ebenso ukrainisch geworden wie die Krim-Halbinsel und die Region Kuban bis zur georgischen Grenze. Im Westen hätten sich Ausläufer dieser Groß-Ukraine fast bis vor die Tore Krakaus ausgedehnt. Im Süden wären Transnistrien und Teile Moldawiens an Kiew gefallen.

„So viele töten wie möglich“

Die einheimischen Medien, erzählt Popova, berichten wenig von den Angriffen in Russland. „Das ist ja das Problem. Die Medien versuchen, die Leute nicht in Panik zu versetzen, und bewirken das Gegenteil.“ Dabei sei Panik genau das, was die Angreifer auslösen wollten, meint Nina. „Sie sagen ja offen, was sie wollen: so viele töten wie möglich.“ Der Westen wolle das aber nicht hören. Ganz im Gegenteil: „Sie bekennen sich immer zuerst, freuen sich, bis man sie vom Westen her zwingt zu widerrufen. Es läuft immer nach dem gleichen Muster.“

Angst habe sie trotz der zunehmenden Angriffe in Russland und auf ihre Heimat keine, bekräftigt Nina auf Nachfrage. „Ich weigere mich, Angst zu haben.“ Das hat auch mit ihrem christlichen Glauben zu tun. „Ich vertraue auf Gott“, sagt die 40-Jährige. „Er hat mich hierher geführt. Er hat mich mein Leben lang beschützt. Ich soll wohl jetzt hier sein und alles selbst sehen.“

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Stichwahl und Zweifel am Urnengang

Die Türken machen es spannend. Bei der gestrigen Präsidentenwahl erreichte Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan nach Angaben der nationalen Wahlbehörde 49,51 Prozent der Stimmen. Seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP wählten demnach 44,88 Prozent. Erdoğan verpasste damit seine Wiederwahl knapp und muss sich am 28. Mai einer Stichwahl stellen. In Umfragen vor dem Urnengang war bisweilen sogar Kılıçdaroğlu vorne gelegen. In Deutschland fiel die Zustimmung für den islamisch-konservativen Präsidenten erwartungsgemäß deutlicher aus. Annähernd zwei Drittel der türkischen Wähler hierzulande stimmten für Erdoğan. Lediglich unter den Türken in Berlin lagen der Amtsinhaber und praktisch Kılıçdaroğlu gleichauf.

Absolute Mehrheit verteidigt

Bei der zeitgleichen Parlamentswahl konnte Erdoğans Partei AKP ihre Führung verteidigen. Sie verlor zwar deutlich an Stimmen und landet bei nur noch rund 35 Prozent. Gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner, der ultrarechten „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), kommt die AKP aber auf die absolute Mehrheit der Stimmen in der Großen Nationalversammlung. Kılıçdaroğlus CHP erreichte rund 25 Prozent. Der Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe (SPD), der die Wahlbeobachter-Mission des Europarats leitet, berichtet von Behinderungen bei der Abstimmung. Sie fallen aber offenbar nicht sehr ins Gewicht. Die Wahl bewege sich „im Rahmen des Rechts“. Das Ergebnis gebe wider, wie die Menschen abgestimmt haben, sagte Schwabe.

Ein Blick in den Plenarsaal der Großen Nationalversammlung der Türkei. (Foto: Yıldız Yazıcıoğlu/gemeinfrei)

Deutliche Kritik äußert dagegen die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen „waren vor allem in den kurdischen Gebieten der Türkei weder fair noch demokratisch“, heißt es in einer Mitteilung. In der kurdisch geprägten Provinz Siirt seien etwa am Tag des Urnengangs zwei spanische Wahlbeobachter festgenommen worden. „In der kurdischen Provinz Sirnak sollen türkische Sicherheitskräfte aus gepanzerten Fahrzeugen wahllos Tränengasgranaten in Straßen und Wohnviertel geschossen haben. Auch bewaffnete Anhänger Erdoğans hätten wahllos das Feuer eröffnet“, berichtet GfbV-Nahostreferent Kamal Sido.

Die Menschen einschüchtern

Nach Ansicht Sidos versuchten „das Militär und die bewaffneten Anhänger Erdoğans“, die Menschen so einzuschüchtern, dass sie nicht wählen gehen. „Denn die Kurden unterstützen mehrheitlich das kleinere Übel: den Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu.“ Auch von ihm und seinem oppositionellen „Bündnis der Nation“, dem türkisch-nationalistische und islamistische Kräfte angehören, halten die Kurden zwar nicht viel. Sie unterstützen Sido zufolge aber den politischen Wandel in der Türkei. Kılıçdaroğlu, der der muslimischen Gemeinschaft der Aleviten angehört, beruft sich auf den säkularen und türkisch-nationalistischen Kurs von Staatsgründer Kemal Atatürk. Erdoğan dagegen stehe sowohl für aggressiven Nationalismus als auch für sunnitischen Islamismus, sagt Sido.

Recep Tayyip Erdoğan mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Türkei hat im Ukraine-Konflikt unter Erdoğan eine neutrale Haltung eingenommen. (Foto: President.gov.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

In den Kurden-Gebieten der Türkei herrschen nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker seit jeher das türkische Militär und die Polizei mit harter Hand. Nach dem Putschversuch gegen Erdoğan 2016 seien die wenigen kurdischen Medien verboten und tausende Medienschaffende, gewählte Bürgermeister und andere Volksvertreter unter Terrorismusverdacht inhaftiert worden. Wegen eines drohenden Parteiverbots habe sich die pro-kurdische HDP gezwungen gesehen, auf Listen einer anderen Partei, der links-grünen „Yeşil Sol Parti“, an den Wahlen teilnehmen. Immer wieder kam es demnach im Vorfeld des Urnengangs zu Razzien türkischer Sicherheitskräfte gegen kurdische Wahlkämpfer. Viele seien verhaftet worden.

Übergriffe von Erdoğan-Gegnern?

Auf der anderen Seite werfen Beobachter auch Erdoğan-Gegnern Übergriffe und Gewaltanwendung vor. So griffen Anfang des Monats in Mersin Bewaffnete eine Gruppe junger Wahlkämpfer der kurdischen Hür Dava Partisi an. Jene „Partei der Freien Sache“ gilt als islamisch-nationalistisch und pro-kurdisch – gehört aber Erdoğans Wahlbündnis „Volksallianz“ an. Die linksgerichtete HDP stritt jegliche Verbindung mit der Attacke ab.

Thomas Wolf

Türkische Soldaten bei einer Übung. Nach Ansicht der Gesellschaft für bedrohte Völker ergreift das Militär in den Kurden-Gebieten zugunsten Erdoğans Partei. (Foto: MoserB/gemeinfrei)