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Tödliche Kollision überm Bodensee

Mehr als 70 Tote, auseinandergerissene Familien, eine Ferienregion in Schockstarre und ein Schrecken, der mit der Katastrophe nicht endete. Am 1. Juli 2002 kollidierten über dem Bodensee zwei Flugzeuge. Niemand an Bord überlebte. Nahe der badischen Stadt Überlingen, wo die Trümmer der zerstörten Maschinen auf die Erde fielen, erinnern zwei Gedenkstätten an die Opfer der Tragödie. Es war das schlimmste Unglück in der bundesdeutschen Luftfahrt-Geschichte. Lediglich der Absturz einer Aeroflot-Maschine 1986 in Ost-Berlin und die Flugzeug-Katastrophe von Königs Wusterhausen 1972 in der damaligen DDR forderten mehr Todesopfer.

Nacht zum 2. Juli 2002

Wie schon im vergangenen Jahr, so steht das Gedenken auch 21 Jahre nach dem Unglück im Schatten des Kriegs in der Ukraine. Ein Unglück, das in der Nacht auf den 2. Juli 2002 seinen Lauf nahm. Für Fluglotse Peter Nielsen, Flugverkehrsleiter bei der Schweizer Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, war es zunächst ein Abend wie unzählige zuvor. Gegen 23.20 Uhr meldet sich DHL-Flug 611 aus Bergamo bei Skyguide an. Als Bezirkskontrollstelle ist das Schweizer Unternehmen mit der Flugsicherung im äußersten Süden Baden-Württembergs betraut. Später sollte das Landgericht Konstanz dies als rechtswidrig verurteilen.

DHL-Flug 611 aus Bergamo steuert direkt auf die Tupolew der Bashkirian Airlines zu. (Foto: Anynobody/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Auf Anfrage von DHL-Kapitän Paul Phillips gestattet Nielsen der Frachtmaschine einen Anstieg auf rund elf Kilometer. Dass sich auf derselben Höhe ein anderes Flugzeug nähert, bemerkt er nicht. Es ist eine Tupolew der russischen Gesellschaft Bashkirian Airlines. An Bord von Flug 2937 befinden sich 69 Menschen. Die meisten von ihnen sind Schulkinder aus der russischen Republik Baschkortostan rund um Ufa. Weil der zweite Fluglotse Pause hat, muss Nielsen zwei Radarschirme beaufsichtigen. Und ist einen Moment abgelenkt. Als er die gefährlichen Flugbewegungen erkennt, befiehlt er der Tupolew sofort, in den Sinkflug zu gehen. Nahezu zeitgleich ordnet an Bord das Kollisionswarnsystem den Steigflug an.

Bashkirian-Pilot Alexander Gross und seine Cockpit-Crew sind irritiert und diskutieren die Anweisung. Schließlich gehorchen sie dem Fluglotsen. DHL-Kapitän Phillips folgt derweil der Anweisung seines Bord-Warnsystems und geht mit der Boeing ebenfalls in den Sinkflug. Beide Maschinen befinden sich nun erst recht auf Kollisionskurs! Als Gross ein Ausweichmanöver beginnt, ist es zu spät. Um 23.35 Uhr zertrümmert die DHL-Maschine den Rumpf der Tupolew und lässt sie nördlich von Überlingen abstürzen. Die Boeing trudelt noch ein paar Kilometer durch die Luft und kracht bei Taisersdorf in einen Wald.

Kinder aus Russland

Alle 71 Menschen an Bord sterben. Auch die 49 Kinder aus Baschkortostan. Die Schüler, die bei dem Unglück zu Tode kommen, waren auf dem Weg nach Barcelona zu einer Ferienfreizeit. Daran hätten sie als Belohnung für herausragende schulische Leistungen teilnehmen dürfen. Weil ihr Bus den Moskauer Flughafen zu spät erreichte, waren sie gezwungen, auf die Unglücksmaschine umzubuchen. Ihre Familien sollten die Kinder nie mehr wiedersehen. Manche der Angehörigen zerbrachen an der Schreckensnachricht aus Deutschland. So wie Witali Kalojew, der bei Überlingen seine Frau und zwei Kinder verlor. Für ihn ist Fluglotse Peter Nielsen ein Mörder.

Ein Fluglotse der Schweizer Flugsicherung Skyguide im Kontrollturm des Flughafens Zürich. (Foto: Petar Marjanovic/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Und so endet das Sterben nicht in jener Nacht zum 2. Juli 2002. Nielsen sollte zum 72. Opfer der Tragödie werden. Knapp zwei Jahre nach dem Unglück. Obwohl technische Probleme zu der Kollision beitrugen, gibt Witali Kalojew dem diensthabenden Fluglotsen die Schuld. Gerade einmal vier Jahre alt war Kalojews Tochter Diana, als sie bei Überlingen aus dem Leben gerissen wurde – das jüngste Opfer des Unglücks. Noch während die Staatsanwaltschaft in der Schweiz wegen fahrlässiger Tötung gegen Nielsen ermittelt, lauert Kalojew dem 36-Jährigen im Februar 2004 auf und ersticht ihn.

Technische Probleme

Zwar trägt Nielsen eine Mitverantwortung für die Kollision. Doch versagt hat auch die Technik. Bei Skyguide funktionierten an jenem Abend die Telefone nicht. Und auch das bodengestützte Warnsystem, das die Gefahr von Kollisionen in der Luft anzeigen sollte, war außer Betrieb. Massive technische Probleme gab es auch im vergangenen Jahr wieder bei Skyguide. Mehrere Stunden lang waren im Juni 2022 in der gesamten Schweiz weder Flugzeugstarts noch Landungen oder Überflüge möglich. Der gesamte Luftraum war gesperrt. Offenbar hatte es Schwierigkeiten mit der Computertechnik gegeben. Menschliche Eingriffe, etwa einen Hackerangriff, schloss Skyguide aus.

Am Ort des Absturzes der Tupolew-Maschine erinnert das Mahnmal „Die zerrissene Perlenkette“ an die Flugzeugkatastrophe vom 1. Juli 2002 und an die Opfer, darunter 49 russische Schulkinder. (Foto: privat)

Bis heute ist das Unglück über dem Bodensee in der Ferienregion nicht vergessen. Viele Menschen in Überlingen und Umgebung erinnern sich an jene Nacht, als plötzlich Explosionsgeräusche die nächtliche Stille zerrissen. Zwei Gedenkstätten halten die Erinnerung an die Katastrophe und die 71 Opfer des 1. Juli 2002 wach. Wo der Rumpf der Tupolew aufschlug und die meisten Todesopfer geborgen wurden, beim Überlinger Ortsteil Brachenreute, ziehen mächtige Edelstahlkugeln die Blicke auf sich. Wie silberne Glieder einer zerrissenen Perlenkette liegen sie am Rand eines Wäldchens, das mit Birken, Eschen und Sibirischen Zirbelkiefern bepflanzt ist.

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Ostdeutsche: Diffamiert und missverstanden

Rund die Hälfte der Menschen in Ost- und Mitteldeutschland stimmt rechtsextremen Positionen zu. Gut sieben Prozent haben sogar ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Leipzig. In einzelnen Regionen ist der Wert noch deutlich höher. In Sachsen-Anhalt etwa beträgt er mehr als elf Prozent. Frühere Untersuchungen geben teils weit niedrigere Zahlen an. Die federführend von dem gleichen Forscher-Team durchgeführte Studie „Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten“ aus dem vergangenen Jahr 2022 etwa nennt für die neuen Bundesländer gerade einmal 2,1 Prozent Rechtsextreme.

Rechtsextreme im Westen

Laut jener Untersuchung im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung und der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung liegt der Anteil der Menschen mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“ im Westen der Bundesrepublik bei 2,9 Prozent. Also sogar höher als in Ost- und Mitteldeutschland! Zugleich stellt die Studie einen anhaltend abnehmenden Trend fest. Rechtsextremistische Ansichten gehen also seit Jahren zurück. Grundsätzlich gilt das auch für den deutschen Osten. Auch wenn die Wissenschaftler hier über die Jahre teils „deutliche Schwankungen“ feststellten: von 8,0 Prozent 2002 über 15,8 im Jahr 2012 bis hin zu den 2,1 Prozent 2022.

Ein Aufmarsch von echten Rechtsextremisten in München. (Foto: Rufus46/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Bei Detailfragen unterscheiden sich Ost und West oft nur unwesentlich. Auffällig ist allerdings, dass die Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Verfassung festgelegt ist“ 2022 in Ost- und Mitteldeutschland mit über 90 Prozent sogar mehr als zehn Prozentpunkte höher lag als in der alten Bundesrepublik. Dort waren nur rund 79 Prozent mit dem demokratischen System zufrieden. Bei der Frage nach der Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“ lagen sowohl Ost als auch West zwischen 50 und 60 Prozent.

Sinnloses Engagement

Und nun also die aktuelle Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Uni Leipzig. Mehr als sieben Prozent mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“. Dazu bewertet nicht einmal die Hälfte der befragten Ost- und Mitteldeutschen den Zustand der Demokratie hierzulande als positiv. Fast zwei Drittel halten es sogar für sinnlos, sich politisch zu engagieren. Gut drei Viertel gehen davon aus, ohnehin keinen Einfluss darauf zu haben, „was die Regierung tut“. Hinzu kommt die Schlussfolgerung, einzelnen rechtsextremen Positionen hänge rund die Hälfte der Menschen an. Etwa dem Wunsch nach einer „starken Partei“, die die „Volksgemeinschaft“ verkörpere.

Handelt es sich um echte neue Erkenntnisse der Leipziger Wissenschaftler? Hat die rechtsextremistische Einstellung zwischen Rügen und Erzgebirge wirklich so kurzfristig und so deutlich zugenommen? Innerhalb eines Jahres. Oder hat sich lediglich die Methodik der Forscher geändert? Zur Erinnerung: Die Werte für das rechtsextremistische Weltbild schwanken von Untersuchung zu Untersuchung und sind damit nur eingeschränkt deutbar. Allein die Frage, wann eine Aussage rechtsextrem ist, dürfte keineswegs allgemeingültig zu beantworten sein. Erst recht nicht in Zeiten, in denen laut Verfassungsschutz bereits das Bekenntnis zu einem ethno-kulturell verstandenen deutschen Volk als extremistisch gilt.

Mauer in den Köpfen

Und noch eine Möglichkeit besteht. Die Wissenschaftler, die an der aktuellen Studie beteiligt waren, stammen entweder aus den alten Bundesländern oder sind in einem Alter, dass sie mit Sicherheit nicht in der DDR, sondern gesamtdeutsch sozialisiert sind. Und das wiederum heißt im Wesentlichen: westdeutsch. Projizierten sie also lediglich ihre eigenen Vorurteile über ihre ost- und mitteldeutschen Landsleute in die Studie hinein? Böse Vorurteile wie jenes von „Dunkeldeutschland“? Die Mauer in den Köpfen – sie ist zwar kleiner geworden, aber auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer präsent.

Springer-Chef Mathias Döpfner (Zweiter von links) im Juni 2019 neben Verlegerin Friede Springer und dem früheren BILD-Herausgeber Kai Diekmann auf dem Dach der US-Botschaft in Berlin. Rechts im Bild: der später geschasste BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. (Foto: United States Department of State/gemeinfrei)

„Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ Dieses Pauschal-Urteil stammt von Mathias Döpfner. Es zeigt beispielhaft und anschaulich, welche Vorurteile gegen Ost- und Mitteldeutsche in westdeutschen Köpfen noch vorherrschen. Der milliardenschwere Chef des Springer-Verlags schrieb dergleichen in einer internen Nachricht, aus der die „Zeit“ zitierte. Nach massivem Protest in Politik und Medien musste Döpfner sich entschuldigen. Für die Masse der Medien und Politiker war die Sache damit erledigt. Wohlgemerkt: Medien und Politiker, die in ihrer großen Mehrheit westdeutsch geprägt sind.

Gleiches gilt für nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz und Wirtschaft sind mit Menschen aus den neuen Bundesländern besetzt. Dies rechnet der Leipziger Germanist Dirk Oschmann in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ vor. Ost- und Mitteldeutschland sind demnach massiv unterrepräsentiert. Dass dadurch ein Ungleichgewicht in der Darstellung und Wahrnehmung der Menschen im „Osten“ entsteht, dürfte kaum überraschen. Womöglich spricht dergleichen auch aus der jüngsten Leipziger Rechtsextremismus-Studie.

„Natürlich ein Nazi …“

Ein Sturm zieht seit Jahren über Millionen Ost- und Mitteldeutsche. „Fremdenfeindlich, chauvinistisch und natürlich ein Nazi“ sei der „Ossi“, treibt Oschmann die Angriffe auf die Spitze. Er selbst ist Jahrgang 1967 und stammt aus Thüringen. Die DDR hat er als Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Bezirk Erfurt miterlebt. Ab 1986 studierte er an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Oschmann ist also selbst „Ossi“ und weiß daher, wovon er spricht und schreibt. Apropos „Ossi“: Er ist dem Buch zufolge nichts als eine Erfindung von Westdeutschen, um sich von ihren ungeliebten Landsleuten aus der früheren DDR abzugrenzen.

Ja, es gibt „Nazis“ in Ost- und Mitteldeutschland. Rechtsextreme, die Demokratie und Menschenrechte ablehnen. Es gibt sie auch in Bayern, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen. Aber sie sind hier wie da weit davon entfernt, die Gesellschaft zu prägen. Denn nicht alles, was Politik, Medien oder „Antifa“-Aktivisten als rechts oder gar rechtsextrem bezeichnen, ist tatsächlich braun angehaucht. Die Wahl der nationalkonservativen AfD? – Demokratisches Recht. Die Ablehnung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete? – Pazifismus. Kritik an der Energie- und Klimaschutz-Politik der rot-grün-gelben Ampel-Koalition? – Meinungsfreiheit. Und wer Gender-Ideologie und Minderheiten-Politik zurückweist? – Der orientiert sich schlicht an biologischen Fakten.

1989 sind Mauer und Grenzanlagen gefallen, die Ost und West jahrzehntelang teilten. Die Mauer in den Köpfen aber besteht weiter. (Foto: RIA Novosti archive/image #428452/Boris Babanov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Wer das Klischee von „Dunkeldeutschland“ dennoch weiterträgt, der tut seinen Landsleuten Unrecht. Der will die Menschen in Mittel- und Ostdeutschland womöglich missverstehen. Oder sogar verletzen. Und er hat offensichtlich kein Interesse, den Bruch zu heilen, der mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer durch das Land geht. Ein Graben, den die „Doppelmoral und Heuchelei“ des Westens speist, wie Oschmann es ausdrückt. Dabei könnte das wiedervereinigte Deutschland den Graben leicht zuschütten. Wenn West und Ost besser aufeinander hören und voneinander lernen. Und wenn die Diffamierung der „Ossis“ endlich aufhört.

Frank Brettemer

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„Einheitsfront“ ohne Alternative

Der ARD-DeutschlandTrend ist so etwas wie das Flaggschiff der Meinungsumfragen hierzulande. Entsprechend groß ist die Aufmerksamkeit, die die Ergebnisse der repräsentativen Befragung erhalten. „Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, würde die Union laut Umfrage-Ergebnissen des aktuellen DeutschlandTrends für das ARD-Morgenmagazin klar stärkste Fraktion“, liest man bei der Tagesschau. „Sie könnte ihr Ergebnis von vor drei Wochen mit 29 Prozent halten.“ Die vielleicht bedeutendste Meldung kommt direkt im Anschluss. Die AfD würde demnach „mit 19 Prozent den höchsten jemals im ARD-DeutschlandTrend ermittelten Wert für diese Partei erreichen“.

SPD auf dem dritten Platz

Die AfD überholt damit auch in der ARD-Umfrage erstmals die Sozialdemokraten. Sie ist damit die aktuell zweitstärkste politische Kraft in Deutschland. „Die SPD würde von der AfD auf den dritten Platz verdrängt werden und bekäme 17 Prozent der Stimmen“, schreibt die Tagesschau. Das ist ein Prozentpunkt weniger als bei der vorigen Umfrage. Die Grünen kämen auf 15 Prozent. Die FDP würde einen Prozentpunkt verlieren und auf sechs Prozent kommen. Für die Linkspartei würden sich unverändert vier Prozent der Wähler entscheiden. Damit bliebe ihr ein Einzug in den Bundestag höchstwahrscheinlich verwehrt.

Der ARD-DeutschlandTrend sieht die AfD erstmals als zweitstärkste politische Kraft in Deutschland. (Foto: DAB)

Ja, die Alternative für Deutschland ist auf einem Höhepunkt ihrer Beliebtheit. Nicht nur bei der ARD-Umfrage. Andere Institute sehen die Partei sogar bereits bei 20 Prozent. Und das bei noch nicht einmal ausgeschöpftem Wähler-Potenzial. Die Zustimmungswerte könnten in den kommenden Wochen und Monaten also noch einmal deutlich ansteigen. Vielleicht auf fast 30 Prozent. Betrachtet man nur die neuen Bundesländer (außer Berlin), liegt die AfD bereits jetzt bei 32 Prozent. Der Grund für den Höhenflug liegt nach nahezu einhelliger Meinung von Beobachtern an der weitverbreiteten deutlichen Ablehnung der rot-grün-gelben Regierungspolitik. An Energiewende und Klimaschutz, am Selbstbestimmungsgesetz und der Gender-Politik, an den Russland-Sanktionen und und den Waffenlieferungen an die Ukraine.

Massive Angriffe

Je weiter die Umfrage-Werte der AfD nach oben klettern, desto massiver werden die Angriffe des politischen Gegners. Rechtsextrem sei die Alternative für Deutschland, heißt es nun fast einhellig von Regierung und Leitmedien. Zuvor hatte man sich oft noch mit der Beschreibung „rechtspopulistisch“ begnügt. Selbst die Union beteiligt sich am parteiübergreifenden Kampf gegen die Alternative. Der frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz nennt die AfD sogar „faschistisch“. Dabei hatten CDU und CSU zumindest bis zum Beginn der Ära Angela Merkel noch selbst vielen jener konservativen Strömungen bei sich eine Heimat geboten, die heute die Alternative für Deutschland vertritt.

Auch der Verfassungsschutz zeigt zunehmendes Engagement gegen die AfD. So sehr, dass mancher Beobachter der Behörde bereits Parteilichkeit vorwirft. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang, selbst CDU-Mitglied, sagte kürzlich in einem ZDF-Interview: „Nicht allein der Verfassungsschutz ist dafür zuständig, die Umfragewerte der AfD zu senken.“ Er habe dazu auch keinerlei Möglichkeit, aber „wir können die Bevölkerung wachrütteln, Politiker wachrütteln“. Haldenwangs Vorgänger Hans-Georg Maaßen hatte ein Vorgehen seiner Behörde gegen die AfD noch abgelehnt. Er sei kein „Konkurrenzschutz“ für die großen Parteien.

Thomas Haldenwang ist CDU-Mitglied und Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Nach Ansicht von Verfassungsrechtlern hat er durch seine jüngsten Aussagen zur AfD seine Kompetenzen überschritten. (Foto: Christliches Medienmagazin pro/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Auch Verfassungsrechtler Volker Boehme-Neßler sieht in Haldenwangs Äußerungen eine „eindeutige Grenzüberschreitung“. Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz überschreite seine Kompetenzen ganz klar, sagte Boehme-Neßler der BILD-Zeitung. Wenn der Verfassungsschutz aus politischen Gründen agiere, sei das verfassungswidrig. Der Geheimdienst dürfe sich „von der Politik nicht instrumentalisieren lassen“, sei „keiner politischen Richtung verpflichtet“ und müsse „seinen Aufgaben im gesamten politischen Spektrum nachkommen“, machte Boehme-Neßler deutlich.

AfD an der Regierung?

Der Kampf gegen die AfD – er wird offenbar mit Verbissenheit geführt. Und bisweilen auch mit Anzeichen von Verzweiflung. So warf der beim ZDF als „Satiriker“ beschäftigte Jan Böhmermann seiner ARD-Kollegin Sandra Maischberger AfD-Nähe vor. Maischbergers Vergehen? Sie hatte AfD-Bundessprecher Tino Chrupalla in ihre Sendung eingeladen. „Sandra Maischberger lädt Nazis in ihre Talkshow ein, damit Nazis nach der Machtergreifung Sandra Maischberger auch ihre Talkshow einladen“, echauffierte sich Böhmermann bei Twitter. Beobachter mutmaßten daraufhin, der Moderator des „ZDF Magazin Royale“ gehe ernsthaft von einer baldigen Regierungsübernahme der AfD aus.

ZDF-Satiriker Jan Böhmermann ist umstritten. Eine Twitter-Nachricht, in der er AfD-Sprecher Tino Chrupalla als „Nazi“ bezeichnete, deutet an, dass Böhmermann von einer baldigen Regierungsübernahme der AfD ausgeht. (Foto: Superbass/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Davon ist Deutschland aber weit entfernt. Etwas anders ist die Situation im thüringischen Kreis Sonneberg. Dort könnte am Sonntag der erste Landrat der AfD gewählt werden. Beim ersten Wahlgang erreichte Robert Sesselmann rund 47 Prozent der Stimmen. Erfolgreichster Konkurrent war CDU-Mann Jürgen Köpper mit rund 35 Prozent, gegen den Sesselmann nun in der Stichwahl antritt. Um den bundesweit ersten AfD-Landrat zu verhindern, stellen sich alle wesentlichen politischen Kräfte hinter Köpper.

Parallel dazu sieht sich Sesselmann kurz vor dem Urnengang mit Ermittlungen des politischen Staatsschutzes konfrontiert. Bei einem Wortgefecht soll er einen Wahlhelfer der CDU verbal attackiert und ihn bedroht haben. Der Mann habe sich zuvor an Plakaten der AfD zu schaffen gemacht, heißt es von Sesselmann. Die Polizei sprach von einem „möglicherweise strafrechtlich relevanten Sachverhalt“. Derweil ließ die Staatsanwaltschaft Mühlhausen das Privathaus von Thüringens AfD-Chef Björn Höcke durchsuchen. Die Behörde ermittelt zwar nicht gegen ihn, sondern gegen seinen minderjährigen Sohn. Wegen Waffenbesitzes. Für Anhänger der AfD kommen solche Meldungen nicht zufällig. Sie vermuten dahinter ein System. Ein Kartell der Altparteien wolle damit dem politischen Gegner schaden.

„Alle gegen die AfD“

Dem ARD-DeutschlandTrend zufolge trifft diese Strategie des „Alle gegen die AfD“ auf Zustimmung. „Um AfD-Kandidaten bei Stichwahlen für Bürgermeister- oder Landratsämter zu verhindern, haben sich zuletzt die übrigen Parteien häufiger zusammengetan und eine Wahlempfehlung für Gegenkandidaten ausgesprochen. Dieses Vorgehen hält etwa jeder zweite Bürger (52 Prozent) für richtig“, heißt es bei der Tagesschau. Immerhin 35 Prozent lehnt dieses Vorgehen allerdings ab. Auch in Mittel- und Ostdeutschland, also in den Hochburgen der Nationalkonservativen, sprechen sich 47 Prozent der Befragten für einen gemeinsamen Kampf gegen die AfD aus. Rund 40 Prozent sind allerdings klar gegen ein solches Modell einer Art „Einheitsfront“ wie zu DDR-Zeiten. Und damit deutlich mehr als im Westen.

In der DDR bildeten Block-Parteien und Massenorganisationen die „Nationale Front“. (Foto: Bundesarchiv / Bild 183-S88622 / Igel / CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Auffällig ist, dass die 35- bis 49-Jährigen ein Zusammenwirken der Parteien gegen die AfD sogar bundesweit mehrheitlich ablehnen. Genau in dieser mittleren Altersgruppe genießt die AfD ihre größten Zustimmungswerte. Ohnehin ist die Frage, ob die Strategie der etablierten Parteien auf Dauer aufgeht. Bei der Wahl des Oberbürgermeisters in Schwerin am vorigen Wochenende gewann SPD-Kandidat Rico Badenschier mit mehr als zwei Dritteln der Stimmen deutlich gegen AfD-Herausforderer Leif-Erik Holm. Am Sonntag in Sonneberg dürfte es für die Etablierten schon bedeutend enger werden.

Thomas Wolf

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„Ich weigere mich, Angst zu haben“

Gut 15 Monate nach dem Einmarsch in der Ukraine hat der Krieg längst Russland selbst erreicht. Nahezu täglich steht das Land mittlerweile unter Beschuss. Vor allem der russische Grenzbezirk Belgorod nordwestlich der umkämpften Donbass-Regionen Lugansk und Donezk ist betroffen. Hier gelang kürzlich Kämpfern zweier pro-ukrainischer Milizen ein medialer Coup. Die „Legion Freiheit für Russland“ und das „Russische Freiwilligenkorps“ drangen auf russisches Territorium vor und leisteten den Sicherheitskräften mehr als 24 Stunden erbittert Widerstand. Sogar nach Einschätzung westlicher Medien stehen die beiden Milizen, die vorgeben, Russland befreien zu wollen, unter der Kontrolle von militanten Rechtsextremisten.

Kämpfer des „Russischen Freiwilligenkorps“ bei einer Pressekonferenz mit westlichen Journalisten. Führer der pro-ukrainischen Miliz ist der russische Rechtsextremist Denis Kapustin (im Bild), der eine Zeitlang in Köln lebte. Dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), galt er einst als einer der einflussreichsten Neonazis in Deutschland. (Foto: Oksana Ivanecz/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Selbst das mehr als 600 Kilometer von Belgorod entfernte Moskau ist nicht mehr sicher. Bereits Anfang Mai schoss die russische Luftabwehr eine Drohne über dem Kreml ab. Der schlagzeilen-trächtigen Attacke folgte am Dienstag ein massiver Angriff, an dem russischen Angaben zufolge rund 25 ferngesteuerte Kleinst-Flugzeuge beteiligt waren. Anfangs hörte man im Westen Stimmen, die mutmaßten, solch frontferne Angriffe seien inszeniert. Doch was hätte der Kreml davon? Offenbar verfolgen die Angreifer mit den Drohnen-Attacken den Zweck, in der russischen Hauptstadt für Angst und Schrecken zu sorgen. Und das Vertrauen der Moskauer und der Russen insgesamt in das eigene Militär und die Regierung zu schwächen.

„Seit etwa einem Monat“

Zunehmend gerät neben Belgorod und Moskau auch eine dritte Gegend ins Visier der Angreifer. „Es passiert seit etwa einem Monat immer wieder etwas in meiner Region“, erzählt Nina Popova, die die Telegram-Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“ betreibt. Ihre Region – das ist der Krasnodarskij Kraj am Schwarzen und am Asowschen Meer, der Bezirk um die südrussische Millionen-Stadt Krasnodar. „Als die Taman vor ein paar Wochen gebrannt hat, konnte ich es von meinem Fenster aus sehen“, sagt Popova. Der Drohnen-Angriff auf ein Öllager schaffte es auch in die Tagesschau. Taman ist etwa 20 Kilometer von Ninas Wohnort entfernt.

Nina Popova lebt im südrussischen Krasnodarskij Kraj. Die Flammen, die aus dem attackierten Öllager von Taman aufloderten, sah sie am Horizont. (Foto: privat)

Nur wenige Kilometer weiter liegt die Brücke, die über die Straße von Kertsch auf die Halbinsel Krim führt. Die Brücke wurde im vergangenen Herbst bei einem heftigen Anschlag stark beschädigt, kann mittlerweile aber wieder befahren werden. Die russischen Behörden machten die Ukraine für die Attacke mit einem Sprengstoff-Lkw verantwortlich. Amtlich zugegeben, dass es wirklich so war, hat Kiew allerdings erst vor wenigen Tagen. „Ich wohne nah an der Brücke“, sagt Nina Popova. Und fügt hinzu: „Wäre doch eine Ironie: Deutsche Raketen treffen eine deutsche Staatsbürgerin.“ Dann entschuldigt sie sich im Gespräch für ihren „schwarzen Humor“.

Extra auf die Kinder gewartet?

Popova ist 40 Jahre alt, lebte rund drei Jahrzehnte in der Bundesrepublik und hat einen deutschen Pass. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Sie liebt Deutschland und setzt sich über ihre beiden Telegram-Kanäle auch für die deutsch-russische Versöhnung ein. Seit 2019 ist Nina zurück in Russland, wo sie mit ihrem russischen Mann und einer Tochter lebt. Dass die Angriffe gerade jetzt zunehmen, kann sie nicht verstehen. „Das Schreckliche ist, dass jetzt hier Ferien sind und die Menschen ihre Kinder hierher bringen. Sie haben extra gewartet, dass hier viele Kinder sind. Ich empfehle mittlerweile jedem, dieses Jahr nicht mehr hierhin zu kommen.“

Die Region Krasnodar am Schwarzen Meer ist ein Touristen-Magnet, besonders im Sommer. Ausgerechnet jetzt, am Beginn der warmen Jahreszeit, intensiviert die Ukraine ihre Angriffe. (Foto: SpartanDav/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Dann wendet sich Nina Popova an Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock. „Ich hoffe, ihr schlaft gut und euch raubt der Gedanke nicht den Schlaf, dass die Ukrainer bis zum Sommer gewartet haben.“ Scholz und Baerbock tragen die politische Hauptverantwortung für die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Zunächst hatte die Ampel-Koalition nur Schutzhelme und Verbandsmaterial liefern wollen. Mittlerweile rollen wieder schwere deutsche Panzer gegen Russland. Dagegen findet die Lieferung von Kampfflugzeugen bislang keine Mehrheit in der deutschen Politik. Wirklich ausgeschlossen hat die Regierung sie allerdings nicht. „Deutschland hat Terroristen ausgestattet“, ist Nina angesichts der Angriffe in Russland überzeugt.

„Die Kuban war nie ukrainisch“

Warum ist gerade die Kuban-Region um Krasnodar zu einem der Zentren ukrainischer Angriffe geworden? „Das Problem ist, dass hier unkontrolliert Ukrainer als Flüchtlinge reingekommen sind“, erzählt Popova. Sie könnten strategische Positionen an feindliche Kämpfer verraten, mutmaßt sie. „Nun soll jeder einzelne besser überprüft werden. Etwa 1,5 Millionen sind bereits russische Staatsbürger. Die anderen bekommen ab jetzt keine Auszahlungen mehr. Bisher haben die überall Gelder bekommen – ungeachtet der Staatsangehörigkeit.“ Ukrainische Nationalisten, erklärt Nina, betrachten das Gebiet um Krasnodar als Teil der Ukraine. „Sie haben schon vor 2014 davon geträumt, es Russland wegzunehmen. Doch die Kuban war noch nie ukrainisch.“

Die Grenzziehung der Groß-Ukraine, wie sie die ukrainische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 vorschlug. Die Region um Krasnodar ist auf der französischen Karte als „Kouban“ eingetragen. (Foto: gemeinfrei)

Die Begehrlichkeiten dürften Gründe haben, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Gut 100 Jahre nämlich. Bis in die Zeit der Ukrainischen Volksrepublik, die als erster ukrainischer Nationalstaat gilt. Das Staatswesen, das sich im Januar 1918 für unabhängig erklärte, beanspruchte Gebiete, die weit über die heutige Ukraine hinausgehen. Bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg in Paris präsentierte eine ukrainische Delegation ihre Forderungen. Rostow am Don wäre demnach ebenso ukrainisch geworden wie die Krim-Halbinsel und die Region Kuban bis zur georgischen Grenze. Im Westen hätten sich Ausläufer dieser Groß-Ukraine fast bis vor die Tore Krakaus ausgedehnt. Im Süden wären Transnistrien und Teile Moldawiens an Kiew gefallen.

„So viele töten wie möglich“

Die einheimischen Medien, erzählt Popova, berichten wenig von den Angriffen in Russland. „Das ist ja das Problem. Die Medien versuchen, die Leute nicht in Panik zu versetzen, und bewirken das Gegenteil.“ Dabei sei Panik genau das, was die Angreifer auslösen wollten, meint Nina. „Sie sagen ja offen, was sie wollen: so viele töten wie möglich.“ Der Westen wolle das aber nicht hören. Ganz im Gegenteil: „Sie bekennen sich immer zuerst, freuen sich, bis man sie vom Westen her zwingt zu widerrufen. Es läuft immer nach dem gleichen Muster.“

Angst habe sie trotz der zunehmenden Angriffe in Russland und auf ihre Heimat keine, bekräftigt Nina auf Nachfrage. „Ich weigere mich, Angst zu haben.“ Das hat auch mit ihrem christlichen Glauben zu tun. „Ich vertraue auf Gott“, sagt die 40-Jährige. „Er hat mich hierher geführt. Er hat mich mein Leben lang beschützt. Ich soll wohl jetzt hier sein und alles selbst sehen.“

Thomas Wolf

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Stichwahl und Zweifel am Urnengang

Die Türken machen es spannend. Bei der gestrigen Präsidentenwahl erreichte Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan nach Angaben der nationalen Wahlbehörde 49,51 Prozent der Stimmen. Seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP wählten demnach 44,88 Prozent. Erdoğan verpasste damit seine Wiederwahl knapp und muss sich am 28. Mai einer Stichwahl stellen. In Umfragen vor dem Urnengang war bisweilen sogar Kılıçdaroğlu vorne gelegen. In Deutschland fiel die Zustimmung für den islamisch-konservativen Präsidenten erwartungsgemäß deutlicher aus. Annähernd zwei Drittel der türkischen Wähler hierzulande stimmten für Erdoğan. Lediglich unter den Türken in Berlin lagen der Amtsinhaber und praktisch Kılıçdaroğlu gleichauf.

Absolute Mehrheit verteidigt

Bei der zeitgleichen Parlamentswahl konnte Erdoğans Partei AKP ihre Führung verteidigen. Sie verlor zwar deutlich an Stimmen und landet bei nur noch rund 35 Prozent. Gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner, der ultrarechten „Partei der Nationalistischen Bewegung“ (MHP), kommt die AKP aber auf die absolute Mehrheit der Stimmen in der Großen Nationalversammlung. Kılıçdaroğlus CHP erreichte rund 25 Prozent. Der Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe (SPD), der die Wahlbeobachter-Mission des Europarats leitet, berichtet von Behinderungen bei der Abstimmung. Sie fallen aber offenbar nicht sehr ins Gewicht. Die Wahl bewege sich „im Rahmen des Rechts“. Das Ergebnis gebe wider, wie die Menschen abgestimmt haben, sagte Schwabe.

Ein Blick in den Plenarsaal der Großen Nationalversammlung der Türkei. (Foto: Yıldız Yazıcıoğlu/gemeinfrei)

Deutliche Kritik äußert dagegen die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen „waren vor allem in den kurdischen Gebieten der Türkei weder fair noch demokratisch“, heißt es in einer Mitteilung. In der kurdisch geprägten Provinz Siirt seien etwa am Tag des Urnengangs zwei spanische Wahlbeobachter festgenommen worden. „In der kurdischen Provinz Sirnak sollen türkische Sicherheitskräfte aus gepanzerten Fahrzeugen wahllos Tränengasgranaten in Straßen und Wohnviertel geschossen haben. Auch bewaffnete Anhänger Erdoğans hätten wahllos das Feuer eröffnet“, berichtet GfbV-Nahostreferent Kamal Sido.

Die Menschen einschüchtern

Nach Ansicht Sidos versuchten „das Militär und die bewaffneten Anhänger Erdoğans“, die Menschen so einzuschüchtern, dass sie nicht wählen gehen. „Denn die Kurden unterstützen mehrheitlich das kleinere Übel: den Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu.“ Auch von ihm und seinem oppositionellen „Bündnis der Nation“, dem türkisch-nationalistische und islamistische Kräfte angehören, halten die Kurden zwar nicht viel. Sie unterstützen Sido zufolge aber den politischen Wandel in der Türkei. Kılıçdaroğlu, der der muslimischen Gemeinschaft der Aleviten angehört, beruft sich auf den säkularen und türkisch-nationalistischen Kurs von Staatsgründer Kemal Atatürk. Erdoğan dagegen stehe sowohl für aggressiven Nationalismus als auch für sunnitischen Islamismus, sagt Sido.

Recep Tayyip Erdoğan mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. Die Türkei hat im Ukraine-Konflikt unter Erdoğan eine neutrale Haltung eingenommen. (Foto: President.gov.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

In den Kurden-Gebieten der Türkei herrschen nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker seit jeher das türkische Militär und die Polizei mit harter Hand. Nach dem Putschversuch gegen Erdoğan 2016 seien die wenigen kurdischen Medien verboten und tausende Medienschaffende, gewählte Bürgermeister und andere Volksvertreter unter Terrorismusverdacht inhaftiert worden. Wegen eines drohenden Parteiverbots habe sich die pro-kurdische HDP gezwungen gesehen, auf Listen einer anderen Partei, der links-grünen „Yeşil Sol Parti“, an den Wahlen teilnehmen. Immer wieder kam es demnach im Vorfeld des Urnengangs zu Razzien türkischer Sicherheitskräfte gegen kurdische Wahlkämpfer. Viele seien verhaftet worden.

Übergriffe von Erdoğan-Gegnern?

Auf der anderen Seite werfen Beobachter auch Erdoğan-Gegnern Übergriffe und Gewaltanwendung vor. So griffen Anfang des Monats in Mersin Bewaffnete eine Gruppe junger Wahlkämpfer der kurdischen Hür Dava Partisi an. Jene „Partei der Freien Sache“ gilt als islamisch-nationalistisch und pro-kurdisch – gehört aber Erdoğans Wahlbündnis „Volksallianz“ an. Die linksgerichtete HDP stritt jegliche Verbindung mit der Attacke ab.

Thomas Wolf

Türkische Soldaten bei einer Übung. Nach Ansicht der Gesellschaft für bedrohte Völker ergreift das Militär in den Kurden-Gebieten zugunsten Erdoğans Partei. (Foto: MoserB/gemeinfrei)
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Das Ende des „Diktators“ Erdoğan?

Mehr als 60 Millionen türkische Wähler sind heute aufgerufen, ihren Präsidenten zu bestimmen. Erstmals seit Jahren prognostizieren Umfragen ein enges Rennen zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und seinem sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu vom oppositionellen „Bündnis der Nation“. Teils liegt Kılıçdaroğlu sogar deutlich vorn. Türken in Deutschland dagegen dürften mit großer Mehrheit für den amtierenden Präsidenten stimmen. Erdoğan steht seit 20 Jahren in wechselnden Ämtern in Regierungsverantwortung. Zunächst war er Ministerpräsident, dann Staatsoberhaupt. Seit der Verfassungsänderung von 2018 ist er als Präsident auch wieder Regierungschef.

Im Schatten des Erdbebens

Zugleich mit dem Staatsoberhaupt wählen die Türken auch ein neues Parlament. Auch hier dürfte es für Erdoğans islamisch-konservative AKP eng werden. Umfragen sehen die AKP zwar weiterhin als stärkste Kraft. Die bisherige Koalition mit der nationalistischen MHP aber könnte scheitern. Der Urnengang steht im Schatten des verheerenden Erdbebens vom Februar. Ihm fielen im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Bürgerkriegsland Syrien rund 60.000 Menschen zum Opfer. Die Regierung Erdoğan steht wegen ihrer Katastrophen-Hilfe seither massiv in der Kritik. Ironischerweise würde eine Wahl-Niederlage das im Westen verbreitete Narrativ vom Diktator Erdoğan wohl nahezu unhaltbar machen.

Kemal Kılıçdaroğlu (Zweiter von links) hat gute Chancen, Recep Tayyip Erdoğan als Präsident der Türkei abzulösen. (Foto: CHP – Cumhuriyet Halk Partisi/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)

Ethnische und religiöse Minderheiten in den Nachbarländern der Türkei jedenfalls hoffen auf einen Regierungswechsel, sagt Kamal Sido, Nahost-Experte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen. Für die kurdischen Gebiete in Syrien und im Irak könne ein Machtwechsel das Ende der täglichen Angriffe bedeuten, betonte Sido nach einer Reise in die Region. „Die Menschen leiden dort sehr unter der Gewalt, die von der Türkei ausgeht. Während ich in der Nähe von Amuda in Nordsyrien war, wurde ein kurdischer Bauer auf seinem Feld von türkischen Grenzposten angeschossen – völlig grundlos. Er überlebte nur knapp“, berichtet Sido.

Angriffe auf die Zivilbevölkerung

Weiter südlich, bei Tal Hamis, sei ein Fahrzeug von einer türkischen Drohne angegriffen worden. „Eine junge Kurdin, die bei der autonomen Selbstverwaltung angestellt ist, berichtete, dass ihre beiden kleinen Kinder jedes Mal weinen, wenn sie etwas am Himmel hören. Sie schreien: Mama, Mama, Drohnen am Himmel!“. Viele Menschen in der Region hegten die Hoffnung, dass eine neue türkische Regierung die ständigen Angriffe auf die Zivilbevölkerung einstellt. „Vor allem dort, wo das Erdbeben Anfang Februar alles zerstört hat, sind die Menschen verzweifelt“, sagt Sido. „Denn die Türkei lässt weiterhin kaum humanitäre Hilfe zu. Nur Waffen für islamistische Milizen kommen ungehindert ins Land.“

Zugleich warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker aber auch vor dem säkularen Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu. Der Vorsitzende der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP kündigte an, nach einem Wahlsieg in direkte Verhandlungen mit der „legitimen Regierung Syriens“ eintreten zu wollen. Also mit Baschar al-Assad. Der gilt westlichen Politikern und Medien seit Beginn des Bürgerkriegs in seinem Land nicht mehr als Präsident, sondern bestenfalls als „Machthaber“. Die GfbV nennt ihn sogar „Diktator und Massenmörder“.

Necmettin Erbakan gilt als Ziehvater von Präsident Erdoğan. Die von ihm gegründete Partei der Glückseligkeit gehört dagegen dem oppositionellen „Bündnis der Nation“ an. (Foto: Zest at the Turkish language Wikipedia/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Zu Kılıçdaroğlus Wahlbündnis gehören neben der sozialdemokratischen CHP die nationalistische İyi Parti von Meral Akşener, die liberal-konservative Demokratische Partei und die islamistische Partei der Glückseligkeit. Sie steht der radikalen Bewegung Millî Görüş (Nationale Sicht) nahe, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Ihr Mitbegründer Necmettin Erbakan, der in den 1990er Jahren kurzzeitig türkischer Ministerpräsident war, gilt wiederum als politischer Ziehvater von Recep Tayyip Erdoğan.

Erst einmal gewinnen

Nach Ansicht der GfbV ist Kılıçdaroğlu „in ein System eingebunden, das alles Kurdische ablehnt“ und steht für einen türkisch-nationalistischen Kurs. „Viel wird davon abhängen, welche Politik eine neue Regierung gegenüber der kurdischen und anderen Minderheiten innerhalb und außerhalb der Türkei anstrebt“, gibt Kamal Sido zu bedenken. „Und davon, ob Kılıçdaroğlu den Mut hat, ehrlich über eine friedliche Lösung der Kurdenfrage zu verhandeln.“ Doch dafür müsse die Opposition die Wahlen erst einmal gewinnen.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Ehrentage der Eltern unter Beschuss

In einer Zeit, in der Kinder als schlimme „Klimasünder“ gelten, haben es Mutter- und Vatertag nicht einfach. Zunehmend geraten die einstigen Ehrentage der Eltern unter Beschuss. Durchaus nicht nur seitens säkularer Kreise, die Familie und Nachwuchs per se kritisch gegenüberstehen. Etwa Klimaschutz-Aktivisten der „Letzten Generation“, die sich sterilisieren lassen, weil sie keine Kinder bekommen möchten. Kinder, lassen sich die Aktivisten in einer umstrittenen Studie vorrechnen, seien schließlich eine schwere Hypothek auf die Zukunft. In ihrem Leben, heißt es, werden sie und ihre eigenen Kinder für den Ausstoß von durchschnittlich fast 60 Tonnen Kohlendioxid-Äquivalent verantwortlich sein. Pro Jahr. Also besser kein Nachwuchs – so die fragwürdige Logik der selbsternannten Weltretter.

Deko mit Blümchen und Herzen ist zum Muttertag recht beliebt. Mit selbstgebastelten Geschenken machen Kinder ihren Mamas eine Freude. (Foto: Pixabay)

Neuerdings steht der Muttertag auch aus Kreisen der Gesellschaft heraus unter Beschuss, in deren Welt- und Familienbild Kinder bislang eine zentrale Rolle gespielt haben. Aus der Kirche. „Seid fruchtbar und mehret euch“, liest man bereits im Buch Genesis, dem ersten Buch des biblischen Alten Testaments. Über die Jahrtausende hinweg war dieser Bibelvers Juden wie Christen gleichermaßen Auftrag und Anliegen. Das ist offenbar für immer mehr Theologen und Mitarbeiter des organisierten Protestantismus und Katholizismus in Deutschland nicht mehr der Fall.

Geschlechterübergreifender „Elterntag“

Maren Bienert etwa, Professorin für evangelische Theologie in Hildesheim, möchte den Muttertag am liebsten durch einen geschlechterübergreifenden „Elterntag“ ersetzen. Dieser solle Männer, Frauen, „queere“ und „nonbinäre“ Menschen, die familiäre Verantwortung übernehmen, gleichermaßen würdigen. „Damit würden gleich mehrere Familienkonstellationen aufgewertet und Menschen sichtbar gemacht, die für Kinder Eltern sind und familiale Verantwortung übernehmen“, sagt die evangelische Theologin, die ein fächerübergreifendes Forschungsprojekt zu Sexual- und familienethischen Fragen plant.

Eine katholische Kita in Hessen will keine Mutter- und Vatertags-Geschenke mehr gemeinsam mit den Kindern basteln. Begründung: Die „Konstellation Mutter Vater Kind/er“ sei nicht mehr die Norm. Es gebe auch Familien ohne Vater. (Foto: Pixabay)

In Hessen ist derweil eine katholische Kindertagesstätte in die Schlagzeilen geraten. Ein Schreiben teilt den Eltern der Kita-Kinder mit, dass man in einer „gemeinsamen Teamsitzung“ beschlossen habe, ab diesem Jahr zum Vater- und zum Muttertag keine Geschenke mehr mit den Kindern gestalten werde. „In der heutigen Zeit“, heißt es zur Begründung, „in der die Diversität einen immer höheren Stellenwert erhält, möchten wir diese vorleben und keinen Menschen ausschließen.“ Auch würden zum Mutter- und Vatertag „stereotypische Geschenke angefertigt, wie z. B. Blumen für die Mutter oder Werkzeug für den Vater“.

Dies sei vielleicht eine tolle Geste, schließe aber „einen Teil der Gesellschaft aus und ist nicht individuell für alle Menschen“. Die ideologische Krönung des Schreibens liest sich so: „Außerdem ist die Konstellation Mutter Vater Kind/er nicht mehr die Norm in heutigen Familien.“ Ein Vatertags-Geschenk „ohne Vater in der Familie“ sei „nicht nur ohne Wert, sondern kann die Identität eines Kindes in Frage stellen. Um allen Menschen gerecht zu werden, müssten wir mit jedem einzelnen Kind ein individuelles Geschenk anfertigen.“

„Danke für ihren Megaeinsatz“

Im Internet löste der Brief massive Proteste aus. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Bundesvorsitzender der Jungen Union, Tilman Kuban, twitterte: „Dem Wahnsinn sind keine Grenzen mehr gesetzt… Irgendwie find ich es ziemlich cool, wenn man Kindern beibringt seiner Mutter einfach mal Danke zu sagen für ihren Megaeinsatz Tag für Tag!“ Weil er das Schreiben der Kita zunächst veröffentlicht hatte, ohne die Adresse zu schwärzen, warf die hessische SPD ihm vor, die Kita „an den Pranger gestellt“ und „zum Shitstorm-Ziel“ gemacht zu haben. Auch Ruprecht Polenz, ehemals Generalsekretär der CDU, kritisierte Kuban und sprach von „kulturkämpferischem Eifer“.

Ein Tweet des CDU-Abgeordneten Tilman Kuban machte das Schreiben der hessischen Kita bekannt. (Foto: Olaf Kosinsky/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Ob eine Vandalismus-Tat im Zusammenhang mit dem Brief steht, ist unklar. In einer Gartenhütte auf dem Kita-Gelände wurde jedenfalls nach Angaben der Polizei eine Scheibe eingeschlagen. In einer zweiten Hütte wurde die Tür aufgebrochen. Es entstand ein Sachschaden von geschätzt rund 800 Euro. Das katholische Bistum Fulda, in dessen Zuständigkeit die Kita fällt, sprach von „Irritationen und Missverständnissen“, die durch das Schreiben entstanden seien. Die Kita habe weiterhin ein katholisches Profil und werde sich für das christliche Familienbild einsetzen. Andere Lebensmodelle würden jedoch nicht ausgeschlossen.

„Schule queer denken“

Zwar nicht am Muttertag, aber immerhin nur zwei Tage danach (und zwei Tage vor dem Vatertag) veranstaltet Baden-Württemberg einen „LSBTTIQ+-Aktionstag“ in allen Schulen des Landes. Anlass ist der „Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie“. Für die Aktion werden den Schulen nach Informationen des Bündnisses „Demo für alle“ Materialien und Projektideen zur Verfügung gestellt. Hintergrund sei die „Daueraufgabe“ des grün geführten Kultusministeriums, „Schule queer denken“ zu wollen. „Die Schule wird inzwischen schamlos als Ideologen-Schmiede und zur Sexualisierung der zur Anwesenheit verpflichteten Schüler missbraucht“, kommentiert Bündnis-Sprecherin Hedwig vom Beverfoerde. „Mit aller Macht will man offensichtlich Kindern ihr natürliches Verständnis für die Familie austreiben.“

Erfunden hat den Muttertag die US-Amerikanerin Anna Marie Jarvis (1864-1948). Sie wollte damit ihrer eigenen Mutter und ihrem sozialen Engagement ein Denkmal setzen. Am zweiten Mai-Sonntag 1908 ehrte die methodistische Kirche sie erstmals mit einem Gottesdienst. Seit 1914 ist der Muttertag in den USA nationaler Feiertag. In Deutschland wird er seit 100 Jahren begangen. Der zunehmenden Kommerzialisierung des Muttertags durch den Handel stand Jarvis kritisch gegenüber. Kurz vor ihrem Tod 1948 erzählte sie einem Journalisten, sie bedauere, den Tag ins Leben gerufen zu haben.

Kinder in Wladiwostok basteln Dekoration für den Internationalen Frauentag am 8. März. In Russland der er bis heute einen großen Stellenwert. (Foto: RIA Novosti archive/image #591523/Vitaliy Ankov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

In der DDR beging man statt des Muttertags den Internationalen Frauentag am 8. März. Ähnlich wie in anderen damals sozialistischen Staaten. Bis heute hat der Tag in Russland einen hohen Stellenwert. Der Muttertag ist in dem Land hingegen erst seit 1998 von Bedeutung, erklärt Nina Popova, die von der südrussischen Region Krasnodar aus die Telegram-Kanäle „Politik für Blondinen“ und „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ betreibt. Anders als in Deutschland oder den USA findet er jedoch am letzten Sonntag im November statt. Ebenfalls anders: Zum Muttertag gratuliere man den Müttern meist nur. „Geschenke“, erläutert Popova, „gibt es eher am 8. März.“ Für alle Frauen. „Am 8. März braucht man nur weiblich zu sein“, sagt die 40-Jährige und schmunzelt. Für Vertreter der politischen Korrektheit im Westen klingt das fast schon reaktionär.

Thomas Wolf

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Kommentar

Ein Tag der Befreiung – aber nicht für alle

Der 8. Mai steht wie kaum ein anderer Tag für das Ende und zugleich für einen Neuanfang. Dem Endes des Zweiten Weltkriegs, dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische „Dritte Reich“, folgte eine neue Ära im besiegten Deutschland. Ein Neuanfang in Trümmern und Hoffnung. Heute zeigen sich auch deutsche Spitzenpolitiker dankbar für die Niederlage. Der 8. Mai – er ist ein Tag der Befreiung auch für Deutschland. Ein mörderisches Regime war besiegt, unzählige Nazi-Opfer konnten aufatmen, ihre Fesseln abstreifen. Für sie war der 8. Mai ein Tag der Freiheit. Ebenso für Millionen Deutsche, die nicht nur das Ende des Krieges herbeigesehnt hatten, sondern auch das der braunen Tyrannei. Des Rassenwahns. Der ständigen Angst davor, wegen eines „falschen“ Gedankens im Lager zu landen.

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, unterzeichnet die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst. (Foto: gemeinfrei)

Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Zumindest für eine Hälfte des damaligen Reichsgebiets steht der 8. Mai nicht für Freiheit. In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, wurde lediglich die braune Diktatur durch eine neue Herrschaft der Unfreiheit ersetzt. In Speziallagern – nicht selten KZs der Nazis unter neuem Namen – starben Tausende. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Frauen wurden Opfer von Übergriffen und Vergewaltigungen. Von rund 100.000 deutschen Soldaten, die nach der Niederlage von Stalingrad in sowjetische Hände fielen, sahen nur rund 6000 die Heimat wieder. Und aus den sogenannten Ostgebieten mussten Millionen fliehen, wurden deportiert oder in Todesmärschen verjagt. Bis zu zwei Millionen starben.

Der Böse ist immer der Russe?

Der Böse ist immer der Russe. So jedenfalls könnte man die westliche Sicht auf das Kriegsende und die Nachkriegszeit zusammenfassen. Exzesse von Soldaten der Roten Armee, Übergriffe auf Zivilisten und Gewalt gegen Frauen waren tatsächlich keine Seltenheit. „Wenn du nicht pro Tag wenigstens einen Deutschen getötet hast, war es ein verlorener Tag“, heißt es 1942 in dem Aufruf „Töte!“ des sowjetischen Journalisten Ilja Ehrenburg. Zur Wahrheit gehört aber auch: Ehrenburg stand damit weitgehend allein. Nicht selten wird er auch propagandistisch fehlinterpretiert. Und: Vor allem nach der Kapitulation der Wehrmacht, als das Kriegs(un)recht vom Besatzungsrecht ersetzt wurde, gingen sowjetische Offiziere meist rigoros gegen ihre Soldaten vor, wenn diesen ein Fehlverhalten vorzuwerfen war.

Ein US-amerikanischer GI und ein sowjetischer Soldat liegen sich im April 1945 nahe Torgau an der Elbe in den Armen. Die Besatzungspolitik von West-Alliierten und Sowjets unterschied sich mitunter kaum. (Foto: Cassowary Colorizations/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Was gerade in der alten Bundesrepublik gerne vergessen wird: Auch im Westen stand das Jahr 1945 zunächst nicht unbedingt für Befreiung. „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.“ – So legte es die US-Direktive JCS 1067 im April 1945 fest. Demgemäß verhielten sich die US-amerikanischen GIs. Auch sie, sagen Historiker, nahmen sich „deutsche Frolleins“ und vergewaltigten sie. Deutsche Soldaten wurden oft wahllos erschossen. Gerade Männer, denen man vorwarf, der Waffen-SS anzugehören, hatten kaum Gnade zu erwarten. Unabhängig davon, ob sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Von den anglo-amerikanischen Bombenangriffen mit Hunderttausenden zivilen Toten, die sich bis in die letzten Kriegsmonate hinzogen, ganz zu schweigen.

Auf offener Straße erschossen

Während die Zahl der Vergewaltigungs-Opfer im sowjetischen Machtbereich offenbar propagandistisch überhöht wurde, wird die im Westen bis heute meist weit unterschätzt. Die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt sagt: „Was mir selbst auch unbekannt gewesen war, waren die Vergewaltigungen der GIs, die eigentlich nach dem gleichen Schema auch abgelaufen sind; also die meistens Hausdurchsuchungen gestartet haben, dann haben sie geplündert, Essensvorräte mitgenommen, Wertsachen, Souvenirs und dann eben sehr häufig auch gemeinschaftlich sich über die Frauen hergemacht. Und das konnte dann auch alle Frauen treffen.“

Marokkanische und dunkelhäutige Soldaten der französischen Armee im Elsass im Februar 1945. (Foto: National Archives at College Park/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Insbesondere marokkanische Soldaten, die mit der französischen Armee den deutschen Südwesten besetzten, müssen furchtbar in den Dörfern gehaust haben. Zeitzeugen erzählen von Fäkalien in Wohnungen, von mutwilliger Zerstörung, Gewalt und Unrecht. Auf offener Straße seien Menschen erschossen worden. Die Leichen blieben liegen. Franzosen und Marokkaner missbrauchten laut dem US-Historiker Norman M. Naimark proportional gesehen so oft wie sowjetische Soldaten. Zur Verantwortung gezogen wurden sie wie auch andere Angehörige westlicher Streitkräfte nur selten. Anders als offenbar in der Roten Armee, wo für Vergewaltigung mitunter sogar die Todesstrafe drohte.

Gräueltaten an Deutschen

Vor Jahren las ich in den Lebenserinnerungen eines deutschen Soldaten, der am Kriegsende in polnische Gefangenschaft geriet. Er überlebte einen Todesmarsch – anders als viele seiner Kameraden, die die Bewacher am Wegesrand einfach erschossen. In seinen Erinnerungen beklagt er, die Presse hierzulande berichte stets nur über deutsche Verbrechen. Gräueltaten an wehrlosen Deutschen dagegen blieben meist unerwähnt. Ich finde: Der 8. Mai ist der passende Tag, um auch an diese Verbrechen zu erinnern. Die Dankbarkeit angesichts der Befreiung vom Nazi-Joch schmälert das nicht.

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

„Deutschland gegenüber positiv eingestellt“

Nina Popova ist 40 Jahre und lebt in der russischen Region Krasnodar nahe der Küste des Schwarzen Meeres. Auf Telegram betreibt sie die deutschsprachigen Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“. Deutschland kennt und liebt sie, seit sie als Kind mit ihrer Familie in die Bundesrepublik kam. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Zurück in Russland ist sie seit 2019. Im Interview erzählt Nina von ihrer neuen und alten Heimat, ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine, der russischen Liebe zu Deutschland und der Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen.

Nina Popova lebt in der südrussischen Region Krasnodar. (Foto: privat)

Nina, in westlicher Wahrnehmung gibt es in Russland praktisch keine privaten Medien mehr, sondern nur noch staatliche. Wie sieht die Situation tatsächlich aus? 

Es gibt einige freie Journalisten, die ich sehr gerne lese. Als Journalist ist man in Russland frei zu schreiben, was man will, solange keine Gesetze verletzt werden. Die Gesetze sind im übrigen den westlichen ähnlich. Solange keine radikalen Aufrufe enthalten sind, darf man schreiben. Die Situation der freien Medien wird eher vom Westen her erschwert. So hat man mit einer russischen IP-Adresse keinen Zugriff auf deutsche Medien. Russland sperrt keine Nachrichten aus. Es werden sogar Tipps gegeben, wie man westliche Medien weiterhin lesen kann. 

Das heißt konkret: Wie informierst Du Dich?

Ich nutze wie empfohlen VPN, um weiterhin alle Nachrichten aus aller Welt zu lesen. Selbstverständlich lese ich alle großen deutschen Nachrichtenagenturen, ebenso englischsprachige Medien und natürlich die in russischer Sprache. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass ich so am besten fahre. Wobei die westlichen Medien mittlerweile sehr viel behaupten und nicht wirklich prüfen. 

Wie berichten russische Medien über den Krieg in der Ukraine?

Vielseitig. Das trifft es wohl am besten. Es gibt Berichte direkt von der Front, Augenzeugenberichte usw. Was mich hier sehr erstaunt, ist, dass gegen andere Länder oder Menschen in keiner Weise gehetzt wird. 

Du betreibst zwei Telegram-Kanäle mit Nachrichten aus Russland. Welche Rolle spielen Fake News in Deiner täglichen Arbeit?

Fake News erschweren meine Arbeit. Ich gebe mir Mühe, alles zu prüfen, was ich veröffentliche. Mir ist es wichtig, dass man nicht schockiert oder nur kritisiert. Ich möchte, dass man sich informieren kann. Natürlich ist es gerade bei dringenden Nachrichten schwierig, immer gleich zu prüfen, ob sich keine Fake News dahinter verbergen. Bisher hatte ich Glück oder einfach ein Gefühl dafür, was nicht stimmt. Sollte es mir dennoch mal passieren, so würde ich das selbstverständlich auch berichten.

Der Krieg ist ihr nah: Als die Brücke über die Straße von Kertsch attackiert wurde, war Nina Popova Ohrenzeugin der Explosion. Im Bild: die Grenze zur Volksrepublik Donezk. (Foto: privat)

Du lebst in der Nähe von Krasnodar, nicht weit von der Brücke über die Straße von Kertsch auf die Krim-Halbinsel. Wie nah ist Dir der Krieg?

Dieser Krieg ist mir nah. Im Oktober bin ich von der Explosion der Brücke aufgewacht. Aber auch menschlich ist er uns nah. Ich habe Verwandte in der Ukraine. Ich sehe täglich Flüchtlinge aus der Ukraine. Wie viele Menschen hier tun auch mir diese Menschen, die alles verloren haben, leid.

Du bist schon mehrfach in Frontnähe gewesen und hast Soldaten besucht. Wie sehen diese Besuche konkret aus – was macht Ihr dort?

Ich habe Freunde, die eingezogen worden sind. Wir sind sozusagen die Feldpost. Wie bringen Briefe oder Päckchen von den Familien der Jungs. Ich bin vor allem mitgefahren, weil ich mir ein eigenes Bild machen wollte und einfach musste. 

Dieses zerstörte Haus in Mariupol hat Nina Popova lange beschäftigt. Auf der Tür steht „Kinder“. Die Warnung bedeutet nach Ninas Aussage, dass sich während der Kämpfe Kinder in dem Haus versteckt haben. (Foto: privat)

Wie organisiert Ihr die Besuche? Welche Rolle spielen dabei der Staat oder das Militär?

Wir fahren mit anderen Freiwilligen. Selbstverständlich bedarf es der Erlaubnis von der Armee. Der Staat spielt bei unseren Unternehmungen nur soweit eine Rolle, dass wir eine Erlaubnis brauchen. Ansonsten ist es wie gesagt freiwillig. Wir tragen die Kosten selbst.

Du warst im Zuge Deiner Besuche vor einiger Zeit auch in Mariupol. Die Stadt ist eines der Symbole für den Krieg und die Zerstörungen, die er verursacht. Zumindest im Westen. Wie ist die Situation dort?

Die Stadt hat mich unheimlich berührt. Es ist für mich kaum vorstellbar, was diese Menschen ertragen haben müssen. Diese Stadt ist eine Stadt der Gegensätze geworden. Man erahnt ihre einstige Schönheit. Und sie erwach wieder zum Leben. Ich habe die Neubaugebiete selbst gesehen. Aber es ist noch viel zu tun. 
Mich hat die Freundlichkeit der Menschen dort berührt. 

Das Industriegelände von Asowstal wurde während des Kampfs um Mariupol zum Rückzugsorts ukrainischer Soldaten und ultranationalistischer Einheiten. Heute ist das Gebiet gesperrt. Fotoaufnahmen aus der Nähe sind verboten. (Foto: privat)

Du hast große Teile Deiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht, bist deutsche Staatsbürgerin und wohnst erst seit wenigen Jahren wieder in Russland. Worin unterscheidet sich das Leben in beiden Ländern?

Ich habe 30 Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht. Ich mag beide Länder sehr gerne, aber in Russland ist das Leben entschleunigt. Man hat irgendwie mehr Zeit – also wenn man nicht gerade in Moskau lebt. In Deutschland hatte ich oft wenig Zeit für meine Familie. Hier ist die Ausrichtung der Werte viel mehr auf Kinder und Familie ausgerichtet. Ich arbeite und habe dennoch mehr Zeit. 

Wie denkst Du heute über Deutschland?

Ich habe viele Freunde und auch Teile der Familie immer noch in Deutschland. Mir ging es auch in Deutschland gut. Ich habe mich aus persönlichen Gründen für den Umzug entschieden. Wobei ich sagen muss, dass ich die heutige Regierung in Deutschland nicht ganz verstehe und mir aus meiner Sicht mehr Neutralität wünschen würde. 

Was stört Dich an Russland?

Es sind eher meine angewöhnten Eigenheiten oder Sachen, die ich aus Deutschland gewohnt war – wie Pünktlichkeit. Die ist hier manchmal ein dehnbarer Begriff. Außer der russischen Bahn: Die ist auf die Sekunde pünktlich! Und mich stört die Grundentspanntheit mancher Handwerker. 

Wie könnte für Deutschland und Russland ein Ausweg aus der aktuellen Spirale von Sanktionen, Hetze und Hass aussehen? Wie könnten sie zurückfinden zu alter Freundschaft?

Ich wünsche mir, dass Deutschland wieder mehr Neutralität walten lässt. Der radikale Kurs der deutschen Regierung wird auch eine zukünftige diplomatische Zusammenarbeit unmöglich machen. In Russland wird nicht gegen das deutsche Volk gehetzt. Niemand wünscht sich, Deutschland zu zerstören. Ich lese ja diese Sachen in den deutschen Medien und bin bestürzt. In Russland sind die Menschen Deutschland gegenüber immer positiv eingestellt gewesen. Man schätzt hier deutsche Autos, deutsches Bier und die Industrie in Deutschland. „Made in Germany“ ist ein Qualitätsmerkmal. Als ich meine Kanäle schuf, wollte ich, dass unsere Völker das Verständnis füreinander nicht verlieren.

Interview: Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Nur Putin-Freunde wollen Frieden

Ostern ist nicht nur das christliche Fest der Auferstehung Jesu Christi. Die Ostertage sind in Deutschland auch traditionell die Zeit der Ostermärsche. In vielen Städten prägen die Kundgebungen für den Frieden das verlängerte Osterwochenende. Auch in diesem Jahr. Eine „unterm Strich positive Bilanz“ ziehen die Organisatoren. Mehr als 120 Demonstrationen brachten Zehntausende Menschen auf die Straße. Kern des Anliegens wie schon im vergangenen Jahr: Frieden in der Ukraine. Damit machen sich die Ostermarschierer angreifbar. Denn Frieden wollen nur Putin-Freunde. So jedenfalls scheint es, wenn man Äußerungen deutscher Politiker und Medien zugrunde legt.

Die Ostermärsche standen in diesem Jahr ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs. Im bayerischen Hof trugen Teilnehmer ein Plakat mit der Aufschrift „Für Frieden und Abrüstung“. (Foto: PantheraLeo1359531/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

„Wer über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit Putin verlangt, der steht auf der falschen Seite der Geschichte.“ So sieht es Stephan Thomae, der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag. Eine Waffenruhe würde „dem russischen Aggressor diejenigen Gebiete ausliefern, die dieser durch Bruch des Völkerrechts und mit unerträglicher Brutalität erobert hat“. Und weiter: „Wir müssen alles tun, um die Ukraine in diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu unterstützen.“

Freiheit statt Frieden

Auch der frühere Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) lehnt die Forderungen der Ostermarschierer ab. Ihren Pazifismus bezeichnet er im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst als naiv. „Aber er ist zugleich nötig als kritischer Maßstab. Es gibt bei diesen schwierigen Abwägungen keine widerspruchsfreien Lösungen. Natürlich verlängert eine Waffenlieferung das Töten und Sterben. Wenn man das ablehnt, muss man sich aber im Klaren sein, dass der Preis dafür wahrscheinlich Unfreiheit ist. Letztlich geht es also um die Frage: Ist Frieden oder Freiheit wichtiger? Für mich ist Freiheit wichtiger als Frieden. Das ist mein Vorwurf an den Pazifismus.“

Bereits im vergangenen Jahr hatte der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff die Teilnehmer der Ostermärsche als „fünfte Kolonne“ Putins bezeichnet. Kommentatoren sprachen angesichts dessen von „verrückten Zeiten“. In der Tat steht die Welt Kopf seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022. Wer seine Stimme für Frieden und Verhandlungen erhebt, muss sich als Unterstützer eines „völkerrechtswidrigen Angriffskriegs“ beschimpfen lassen. Wer die Lieferung schwerer Waffen in das Kriegsgebiet kritisiert, fällt demnach der Ukraine in den Rücken. Und wer die Gesprächskanäle zu Russland nicht abreißen lassen möchte oder sich gar der Ablehnung alles Russischen entgegenstellt, ist bestenfalls „Putin-Versteher“.

FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff (links) sieht in den Teilnehmern der Ostermärsche die „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins. (Foto: Kuhlmann/MSC/CC BY 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Eine jener angeblichen „Putin-Versteherinnen“ ist Margot Käßmann. Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland bekräftigte kurz vor Ostern ihre ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine. „Anfangs hieß es, wir würden reine Verteidigungswaffen liefern, jetzt sind daraus ganz klar Angriffswaffen geworden“, sagte sie im Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Mit den gelieferten deutschen Panzern werde auf russische Soldaten geschossen. „Das kann doch auch keine Lösung sein“, sagte Käßmann.

Verhandlung, nicht Kapitulation

Dabei machte die einstige Landesbischöfin von Hannover auch deutlich, dass sie durchaus keine „Putin-Freundin“ ist. Den russischen Einmarsch sieht sie als Angriffskrieg eines Diktators auf ein freies Land. Dennoch müsse es durch Friedensverhandlungen schnellstmöglich zu einem Ende des Tötens kommen. „Verhandlung heißt nicht Kapitulation“, betonte Käßmann. Der Ukraine spricht sie nicht das Recht ab, sich zu verteidigen. Aber sie fürchte, sagt sie, dass Deutschland durch Waffenlieferungen nach und nach selbst zur Kriegspartei werde. Über allem steht für die Theologin die Vision einer „Welt ohne Waffen“. Sie wolle sie nicht aufgeben.

Kaum jemand vertritt die Forderungen nach schweren westlichen Waffen für die Ukraine seit der russischen Invasion so vehement wie mancher Grünen-Politiker. Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) offenbar noch hoffte, mit Helmen und Munition sei es getan, forderte Anton Hofreiter bereits deutsche Panzer für die Front im Donbass. Statt eines schnellen Friedens für die Ukraine stand bald ein Sieg über Russland auf der politischen und militärischen Agenda. „Wie irre ist die ehemalige Friedenspartei geworden?“, fragte Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht bereits vor einem Jahr.

Deutsche Kampfpanzer des Typs Leopard 2 A5 bei einer Lehr- und Gefechtsvorführung. (Foto: © Bundeswehr/Modes/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Mittlerweile sind deutsche Panzer in der Ukraine längst Realität. Selbst „Leopard 2“, deren Lieferung Kanzler Scholz lange abgelehnt hatte, sind im Einsatz gegen Russland. Kiew hätte nun gern moderne westliche Kampfflugzeuge. MiG-29 aus Polen und der Slowakei befinden sich bereits im Land. Noch zögert die Bundesregierung, lehnt die Lieferung eigener Jets ab. Doch wirklich ausgeschlossen hat dies niemand. Erst recht nicht für alle Zukunft. Er halte es nicht für richtig, „jetzt darüber zu reden“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor gut zwei Monaten. „Wir tun nur Dinge, die uns nicht zur Kriegspartei werden lassen. Wobei nicht ganz klar ist, wo diese Linie verläuft.“

Westen ist „Konfliktpartei“

Genau das ist das Problem. Während der Westen betont, die Lieferung von Kampfpanzern und selbst Flugzeugen sei keine Kriegsbeteiligung, sieht Russland das naturgemäß anders. Im Kreml betonte man bereits vor Monaten, man betrachte den Westen als „Konfliktpartei“. Was immer das konkret bedeutet. Die Gefahr einer weiteren Eskalation jedenfalls ist groß. Und dürfte sich mit jeder weiteren Waffenlieferung noch vergrößern. Im schlimmsten Fall droht die äußerste Eskalation: der Atomkrieg zwischen Ost und West. Davor warnte auch Kanzler Scholz.

Vor einem handverlesenen Publikum fragte NS-Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-J05235/Schwahn/CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

„Wollt ihr den totalen Krieg?“, schleuderte Joseph Goebbels, der Propagandaminister der Nazis, im Februar 1943 bei seiner Rede im Berliner Sportpalast dem ausgewählten Publikum verbal entgegen. „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ besagte ein Transparent über der Bühne, auf der Goebbels sprach. Heute wäre der kürzeste totale Krieg ein nuklearer. Er würde aller Wahrscheinlichkeit nach zur weitgehenden Vernichtung der menschlichen Zivilisation führen. Das wissen die Russen. Und das wissen die Amerikaner. Aber wissen es auch diejenigen, die nach immer mehr schweren Waffen rufen?

Frank Brettemer