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Wenn der Heilige Geist auf den Zeitgeist trifft

Die Kernkompetenz der christlichen Kirchen liegt in der Glaubenslehre. Seit 2000 Jahren vermitteln Priester, Geistliche und Seelsorger den Glauben an Jesus Christus. In ihm sehen Milliarden Christen auf der ganzen Welt den Sohn Gottes. Und selbst wer ihn nur als außergewöhnlichen Menschen begreift, der erkennt doch in seiner Botschaft mitunter eine heilbringende Lehre zum Wohl der Menschheit. Eine Botschaft des Friedens und der Versöhnung. Seit geraumer Zeit steht diese Lehre nicht mehr allein. Statt sich auf den Glauben zu fokussieren, betätigt sich die Kirche zunehmend tagespolitisch. Kritiker sprechen von einer Anbiederung an den „woken“ Zeitgeist.

Welcher Geist herrscht in den christlichen Kirchen des Jahres 2023? Ist es noch der Heilige Geist der Glaubenslehre – oder doch eher der „woke“ Zeitgeist? (Foto: Pixabay)

Dass Bischöfe und Priester Umwelt- und Naturschutz propagieren, dürfte für die meisten noch nachvollziehbar sein. Der Auftrag zur „Bewahrung der Schöpfung“ geht direkt aus der Bibel hervor. Dazu gehört auch der Appell, schonend mit den natürlichen Ressourcen umzugehen. Wenn der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, die Deutschen angesichts der Energiekrise zum Verzicht aufruft und sich so den Appellen der Mächtigen anschließt, hat dieses Plädoyer für manchen Gläubigen aber einen schalen Beigeschmack. Die Kirche als Lautsprecher der Regierung: Das trifft auf Widerspruch im „Volk Gottes“.

Klima-Aktivismus und Waffen

Erst recht aber, wenn sich evangelische Kirchenführer mit den radikalen Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ gemein machen, ist für viele Christen eine Grenze des Zumutbaren erreicht. Die Aktionen seien „berechtigter gewaltloser ziviler Ungehorsam“, hört man. Doch damit nicht genug. Auch die Unterstützung von Waffen-Lieferungen an die Ukraine trifft unter zahlreichen Gläubigen auf Unverständnis. Der Aufruf zum Frieden, zur Gewaltlosigkeit ist schließlich als eine der Hauptforderungen Jesu überliefert. Und wenn der Synodale Weg, der Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland, nun faktisch Transsexualität als normal akzeptiert, wenn Bistümer eine „queer-sensible“ Seelsorge einführen, verstehen viele die Welt nicht mehr. In ihrer Betonung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen gehen Bibel und Biologie nämlich Hand in Hand.

Politisch korrekt gibt sich auch die Freisinger Bischofskonferenz, das gemeinsame Gremium der katholischen Bischöfe in Bayern. In ihrer jüngsten Vollversammlung betonte sie, „ein klares Zeichen gegen Rechtsextremismus, Populismus und menschenverachtende Einstellungen“ gesetzt zu haben. Durch ein „Kompetenzzentrum für Demokratie und Menschenwürde“ (KDM). „Die radikale und extreme Rechte“, liest man in der Pressemitteilung der Bischöfe, habe sich die Krisen des vergangenen Jahres zunutze gemacht. Vor allem die in Folge des „russischen Angriffskriegs“ auf die Ukraine „stark gestiegenen Energiepreise und Lebenshaltungskosten“.

„Seltsame moderne Strömungen“

Der Kirchenkampf gegen Rechts treibt mitunter merkwürdige Blüten. Dann nämlich, wenn selbst Kernthesen der christlichen Verkündigung der hohen Geistlichkeit als populistisch und extremistisch gelten. Einen Ordenspriester, der in seiner Predigt zum Weihnachtsfest die biblische Botschaft gegen den Zeitgeist verteidigte, stellte seine eigene Abtei an den Pranger. Der Benediktiner-Pater Joachim Wernersbach hatte es gewagt, von „seltsamen modernen Strömungen“ zu sprechen. „Von Gender und Transgender, von Transhumanismus und reproduktiver Gesundheit, von Wokeness und LGBTIQ, von Diversität und Identität, von multiplen Geschlechtern und Geschlechtsumwandlungen.“ Seinen Kritikern gilt der Pater damit als homophob.

Die Regenbogen-Fahne ist eines der Symbole für die Homo- und Transsexuellen-Bewegung. Historisch war der Regenbogen dagegen ein Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen. (Foto: Pixabay)

Ganz offensichtlich zieht der Benediktiner den Heiligen Geist dem Zeitgeist vor. „Schon die Begriffe, meine Lieben, sind absolut befremdlich“, predigte Wernersbach im sächsischen Wittichenau. „Sie haben alle eines gemeinsam: Es fehlt ihnen an Schönheit, es fehlt ihnen an Stimmigkeit und es fehlt ihnen an Natürlichkeit! Es fehlt einfach der Wohlklang. Sie sind sperrig und bringen unsere Seele, unser Innerstes einfach nicht zum Schwingen. Sie sind nicht im Einklang, nicht in Harmonie mit der unvorstellbar schönen göttlichen Ordnung.“ Demgegenüber betonte Wernersbach die biblisch begründete „Heiligkeit der Familie“.

Lebensschutz extrem rechts?

Bei der Freisinger Bischofskonferenz fällt dies wohl unter das in de Abschlusserklärung scharf kritisierte „Agieren der radikalen Rechten in kirchlichen Kreisen“. Als extrem rechts gilt Politikern und Medien auch der Schutz des Lebens. Nicht selten ausgerechnet jenen, die in Corona-Zeiten die rigiden Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte mit dem Schutz des Lebens begründeten. Zunehmend sieht das offenbar auch die kirchliche Obrigkeit so. Der Schutz ungeborener Babys vor Abtreibung ist eine Sache für die AfD. Und die steht für viele Bischöfe zu weit rechts. So schlossen die Verantwortlichen des für Juni geplanten Evangelischen Kirchentags Organisationen wie die „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA) von dem Glaubenstreffen aus.

Jedes Leben ist lebenswert – davon sind christliche Abtreibungsgegner überzeugt. Wer sich für ungeborene Babys einsetzt, gilt mittlerweile als extrem rechts. (Foto: Pixabay)

„Der Schutz des menschlichen Lebens in allen Phasen seiner Existenz ist nicht nur Pflicht und Aufgabe aller Christen, sondern auch des Staats“, betont ALfA-Vorsitzende Cornelia Kaminski. „Nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach erklärt, dass bereits dem ungeborenen Leben Würde und Schutz zukommt. Insofern ist es höchst verwunderlich, dass die Leitung des Evangelischen Kirchentags beschlossen hat, ausgerechnet die ehrenamtlichen Organisationen vom Evangelischen Kirchentag auszuschließen, die sich genau dieser Aufgabe verschrieben haben und ihr unter hohem persönlichem Einsatz nachgehen.“

„Nicht nachvollziehbar“

Der Ausschluss erfolgte ohne Begründung. Und obwohl die ALfA laut Kaminski stets mit einem Stand auf dem Kirchentag präsent war und es nie zu Problemen gekommen war. „Es ist nicht nachvollziehbar, warum Funktionäre der evangelische Kirche, die ja stets betont, dass Dialogbereitschaft und Toleranz Fundamente ihres öffentlichen Handelns sind, nicht bereit sind, dies auch im Umgang mit ausgerechnet den Gruppen zu zeigen, die sich in besonderer Weise um die Schwächsten in unserer Gesellschaft bemühen.“ Mit Aktivisten der „Letzten Generation“ und der LGBT-Community hätten die Verantwortlichen auf dem Kirchentag vermutlich weniger Probleme.

Thomas Wolf

Die „Aktion Lebensrecht für Alle“ hat auf ihrer Webseite eine Petition gestartet, mit der sie gegen das Vorhaben protestieren will, den Lebensschutz vom Evangelischen Kirchentag zu verbannen. Und gegen einen ähnlichen Versuch, dies auch bei der Messe „didacta“ zu erreichen. Die Unterschriftenliste soll dem Kirchentag in Fulda sowie der Leitung der „didacta“ vorgelegt werden.

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Schwarz-Rot-Gold: eine Erfindung von 1815?

Für das Online-Lexikon Wikipedia ist die Sache klar. Es gibt die gängige Sichtweise wieder. Die deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold sind demnach eine Erfindung des frühen 19. Jahrhunderts. Sie gehen, liest man bei Wikipedia, auf die Befreiungskriege gegen Napoleon 1813 bis 1815 zurück. „Verweise auf das Mittelalter sind nachträglich konstruiert, trugen aber im 19. Jahrhundert erheblich zu ihrer Popularisierung bei.“ Und weiter heißt es: „Die Urburschenschaft von 1815 führte diese Farben erstmals und machte sie zu einem Symbol für die deutsche Einheit.“ Wirklich? Ein genauerer Blick zeigt: Ganz so einfach ist die Sache nicht.

Beim Hambacher Fest 1832 trugen viele Teilnehmer schwarz-rot-goldene Fahnen. Die ungewohnte Reihenfolge der Farben auf dieser Darstellung könnte auf eine falsche Kolorierung zurückzuführen sein. (Foto: gemeinfrei)

Unstrittig ist, dass die schwarz-rot-goldene Trikolore, wie sie bis heute verwendet wird, in dieser Form erstmals beim Hambacher Fest 1832 zum Einsatz kam. Damals versammelten sich hunderte Demokraten und Liberale auf dem Schloss in der Pfalz, um für das zersplitterte und unter einem rigiden Regime leidende Deutschland Freiheit und nationale Einigung zu fordern. Eine zeitgenössische Darstellung dokumentiert die Fahnen zahlreicher Teilnehmer. Allerdings zeigt sie sie in ungewohnter Reihenfolge: Gold-Rot-Schwarz. Wie heute mitunter bei sogenannten Reichsbürgern. Womöglich ist das aber auf eine falsche nachträgliche Kolorierung zurückzuführen. Eine von Johann Philipp Abresch für das Fest angefertigte Fahne mit der pathetischen Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“, die erhalten blieb, beweist, dass die korrekte Reihenfolge schon damals Schwarz-Rot-Gold war.

Zeichen der Demokratie

Nach dem Hambacher Fest nahmen die deutschen Farben einen festen Platz in der nationalen und demokratischen Bewegung ein. Wer angesichts der Unterdrückung von Meinungsfreiheit und unabhängiger Presse durch den Deutschen Bund und seine fast 40 Mitgliedsstaaten für Volkssouveränität und Grundrechte eintrat, tat dies nahezu selbstverständlich im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold. Die deutschen Farben wurden so zu einem leuchtenden Zeichen für die Demokratie. Hoffmann von Fallersleben, liberaler Patriot und Dichter des „Liedes der Deutschen“, schrieb 1843 seine „Deutsche Farbenlehre“. Darin erklärt er Schwarz, Rot und Gold zu Farben der Hoffnung:

Über unserem Vaterland ruhet eine schwarze Nacht,
und die eigene Schmach und Schande hat uns diese Nacht gebracht.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Und es kommt einmal ein Morgen, freudig blicken wir empor:
Hinter Wolken lang verborgen, bricht ein roter Strahl hervor.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Und es zieht durch die Lande überall ein goldnes Licht,
das die Nacht der Schmach und Schande und der Knechtschaft endlich bricht.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Lange hegten wir Vertrauen auf ein baldig Morgenrot;
kaum erst fing es an zu grauen, und der Tag ist wieder tot.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Immer unerfüllt noch stehen Schwarz, Rot, Gold im Reichspanier:
Alles läßt sich schwarz nur sehen, Rot und Gold, wo bleibet ihr?
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Aus: Deutsche Salonlieder (1843)
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dargestellt von Ernst Henseler (1898). Das „Lied der Deutschen“ dichtete Hoffmann von Fallersleben 1841 auf Helgoland. (Foto: gemeinfrei)

Fünf Jahre nach Hoffmanns Dichtung stand Deutschland am Vorabend der Revolution. Nach dem Sturz des französischen „Bürgerkönig“ Louis-Philippe gingen auch in den deutschen Staaten immer mehr Menschen auf die Straße. Der Bundestag in Frankfurt musste den Massen entgegenkommen. Am 9. März 1848 erklärte er Schwarz-Rot-Gold zu Bundesfarben und einen rotbewehrten, schwarzen Doppelkopf-Adler auf goldenem Grund zum Bundeswappen. Der Deutsche Bund, der Staatenbund der deutschen Fürstentümer und freien Städte, legte damit erstmals nationale Symbole fest. Am 20. März ordneten die Delegierten an, dass die Festungen des Bundes und die Bundestruppen Schwarz-Rot-Gold flaggen sollten.

Gesprengte Ketten

Am 18. Mai 1848 trat in der Frankfurter Paulskirche das erste gesamtdeutsche demokratisch gewählte Parlament zusammen. Die Nationalversammlung tagte in einem Meer aus schwarz-rot-goldenen Fahnen und Bannern. Und über dem Präsidium hing das Ölgemälde einer friedfertigen, zugleich aber wehrhaften Germania. Natürlich auch in Schwarz-Rot-Gold. Hinter der als junge Frau dargestellten Personifikation Deutschlands geht die Sonne auf. Zu ihren Füßen liegen gesprengte Ketten. Statt einer Krone trägt sie einen Kranz aus Eichenlaub. Die Bedeutung der Symbole ist offenkundig. Freiheit statt Fürstenherrschaft.

Ganz im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold: die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Über dem Präsidium hängt die Germania in den Nationalfarben. (Foto: gemeinfrei)

So hoffnungsvoll der schwarz-rot-goldene Neuanfang gestartet war, so schnell endete er. Statt Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie setzten sich die Fürsten durch. Die verbliebenen Abgeordneten der Nationalversammlung flohen nach Stuttgart und wurden dort von Militär auseinandergetrieben. Die demokratische Revolution war gescheitert. Dennoch wehten Schwarz, Rot und Gold noch bis 2. September 1850 vom Turm der Paulskirche in Frankfurt. Und erst im August 1852 wurden sie am Frankfurter Bundespalais, dem Sitz des wiederhergestellten Deutschen Bundes, eingeholt. Noch 1866 zogen süddeutsche Truppen an Österreichs Seite mit schwarz-rot-goldener Armbinde in den Krieg gegen Preußen.

Eine neue Nationalflagge

Mit dem preußischen Sieg endete der Deutsche Bund. Und die Teilhabe Österreichs an Gesamt-Deutschland. Aus dem preußischen Weiß-Schwarz und dem Weiß-Rot der Hansestädte gestalteten die Sieger von 1866 eine neue Nationalflagge. Schwarz-Weiß-Rot wurde zum Symbol des Kaiserreichs. Und nach dessen Untergang zum Erkennungszeichen von Monarchisten und rechten Gruppierungen. Die weitere Geschichte ist bekannt. Die Weimarer Republik griff wieder auf Schwarz-Rot-Gold zurück. Und nach dem Hakenkreuz-Zwischenspiel der NS-Diktatur legten 1949 sowohl die westdeutsche Bundesrepublik als auch die DDR Schwarz-Rot-Gold als Nationalflagge fest.

Die Flagge der Bundesrepublik und der DDR wehen 1973 vor dem UN-Gebäude in New York. Das Rot der beiden Hoheitszeichen fällt ungewöhnlich dunkel aus. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-M0925-406/Joachim Spremberg/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)
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Die Demokratie: kein Import aus den USA

Fragt man Leitmedien und Politiker nach Sternstunden der deutschen Geschichte, erntet man womöglich nicht selten ein Schulterzucken. Die historischen Leistungen des eigenen Volkes sind weithin vergessen. Ein offizieller Blick zurück lässt meist nicht viel Positives übrig. Die Verbrechen des Nationalsozialismus überdecken alles, was Deutsche in der Vergangenheit erreichten. Hinzu kommen weitere dunkle Flecken, die die Medien vor allem in jüngerer Zeit stark betonen: Kolonialismus, vermeintlich struktureller Rassismus, Diktatur. Dazu das alte Narrativ vom Untertanengeist der Deutschen. Das Land der Dichter und Denker – es ist medial zu einem Land der Mörder und Henker verkommen.

Revolution vor 175 Jahren

Die Demokratie, heißt es oft, habe den Deutschen nach 1945 von den Siegermächten beigebracht werden müssen. Gemeint sind die Westalliierten, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika. Politisch mag die Behauptung der US-Herkunft der Demokratie in Deutschland opportun erscheinen. Historisch aber ist sie Unsinn. Schon 100 Jahre vor der US-amerikanischen Besatzung zementierten die Deutschen ein bleibendes demokratisches Fundament. Und zwar auf einem Weg, der ganz und gar nicht zum vermeintlichen Untertanengeist passen will: durch eine Revolution nämlich. Dieser Tage liegt sie genau 175 Jahre zurück.

Ein früher Höhepunkt der Revolution: die Barrikadenkämpfe in Berlin am 18. März 1848. (Foto: gemeinfrei)

„Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können.“ Das schrieb der kommunistische Vordenker und Karl-Marx-Vertraute Friedrich Engels 1850 in seinem Buch „Der deutsche Bauernkrieg“. Er bezog sich damit zwar auf die andere große revolutionäre Erhebung der deutschen Geschichte: eben jene Serie von Bauern-Aufständen der Jahre um 1525. Doch wird seine Analyse durch die Revolution von 1848, an der er teilnahm, vollauf bestätigt.

Erste nationale Verfassung

Was 1525 unter den Schwertern und Kanonen der fürstlichen Heere blutig erstickte, setzte sich 1848/49 durch. Formell kam die Demokratie zwar nur kurz zur Entfaltung. Und noch dazu nur in Gestalt einer konstitutionellen Monarchie. Aber immerhin: Sie brachte dem deutschen Volk die erste nationale Verfassung, einen umfangreichen Grundrechte-Katalog, einen Rechtsstaat und die erste direkt gewählte nationale Volksvertretung. Und auch wenn das damals geschaffene demokratische Deutsche Reich von den Fürsten bald wieder zerschlagen wurde – die Fundamente der Verfassung von 1849 gerieten nie wieder in Vergessenheit. Sie befruchteten die Weimarer Reichsverfassung von 1919 ebenso wie das Grundgesetz.

Eine der letzten Briefmarken der DDR erinnerte an Thomas Müntzer, den Revolutionär des 16. Jahrhunderts. Der Block zeigt seine hauptsächlichen Wirkungsstätten. (Foto: Nightflyer/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Die deutsche Revolution von 1848 war eingebettet in eine Reihe von nationalen Volkserhebungen in mehreren europäischen Staaten. Bereits 1830 hatten die Franzosen im Rahmen ihrer Julirevolution erneut die Königsdynastie der Bourbonen gestürzt. Zum zweiten Mal nach 1789. Hinzu kamen Unabhängigkeitsbewegungen im damals russischen Polen, in Griechenland, Belgien und Italien. In Deutschland wiederum hoffte das unterdrückte Bürgertum auf einen Neuanfang. Der Freiheitswille des Volkes, der sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon 1806 bis 1815 gezeigt hatte, wurde durch die Macht der Fürsten unterdrückt. Presse- und Meinungsfreiheit waren nicht vorhanden.

Versuche, den Deutschen Bund, einen Staatenbund der deutschen Fürstentümer und freien Städte, liberal zu reformieren, scheiterten. Als die Franzosen erneut revoltierten und im Februar 1848 ihren „Bürgerkönig“ Louis-Philippe aus dem Amt jagten, sprang der revolutionäre Funke auf Deutschland über. Schon am 27. Februar forderten in Mannheim mehr als 2000 Menschen die allgemeine Volksbewaffnung, Grundrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit, Schwurgerichte und ein nationales deutsches Parlament. Bauern drängten auf die Beseitigung der Vorrechte des Adels. Handwerker, Tagelöhner und Fabrikarbeiter forderten soziale Gerechtigkeit.

Notwendigkeit einer Reform

Bald kam es in den Städten zu ersten Unruhen. Am 1. März 1848 besetzten aufgebrachte Bürger in Karlsruhe das Ständehaus des badischen Landtags. Auch in München und Berlin gingen die Menschen auf die Straße. In Wien musste der reaktionäre Staatskanzler Klemens von Metternich fliehen. Zahlreiche Fürsten lenkten ein und beriefen liberale Regierungen, die den Forderungen des Volkes entgegenkommen sollten. In Preußen reagierte König Friedrich Wilhelm IV. hinhaltend. Einerseits versprach er, auf die Wünsche des Volkes Rücksicht zu nehmen. Andererseits ließ er Truppen zusammenziehen. Der Deutsche Bund erkannte am 8. März die Notwendigkeit einer großen Bundesreform.

Eine verlassene Barrikade in der Breiten Straße in Berlin, wie sie Eduard Gaertner gezeichnet hat. Nur die schwarz-rot-goldene Fahne zeugt noch von der Revolution. (Foto: gemeinfrei)

Am 18. März eskalierte die Situation in Berlin. Bürger errichteten Barrikaden und lieferten sich Straßenkämpfe mit dem Militär. Dutzende starben. Als die Truppen die Kontrolle über die Stadt zurückerlangt hatten, ließ der König sie sogleich wieder abziehen. Am Tag darauf ver­neigte sich Friedrich Wilhelm sogar auf dem Schloss­platz vor den 100 aufgebahrten „Märzgefallenen“. Schließ­lich legte er sich eine schwarz-rot-goldene Schärpe um und versprach, sich an die Spitze der deutschen Nationalbewegung zu stellen. „Preußen geht fortan in Deutschland auf“, erklärte der König. Es war ein Etappensieg der Revolution.

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Unabhängige Journalistin oder Kreml-Troll?

Alina Lipp ist umstritten. Ihren Kanal „Neues aus Russland“ verfolgen auf der Nachrichtenplattform Telegram mehr als 180.000 Menschen. Damit hat Lipp eine Reichweite, die über der manch einer Tageszeitung liegt. Alina Lipp versteht sich selbst als Journalistin. Deutschen Leitmedien gilt sie dagegen als „Putins Infokriegerin“, „Russland-Troll“ oder „Propagandistin des Kreml“. Weil sie aus Russland und dem umkämpften Donbass berichtet und ihren Telegram-Abonnenten dabei die russische Perspektive auf den Konflikt schildert, ja sich durchaus auch mit ihr gemein macht, zweifeln deutsche Medien an ihrer Unabhängigkeit.

Alina Lipp mit Helm: kein Beleg für ihre Nähe zu den russischen Streitkräften, sondern nur eine Sicherheitsvorkehrung. (Foto: Lipp)

Seit Beginn der russischen Invasion hat sich die heute 29-Jährige zu einem der bekanntesten Gesichter der „prorussischen“ Berichterstattung entwickelt. Die russische Perspektive liegt Alina Lipp sozusagen in den Genen. 1993 wurde sie in Hamburg als Tochter eines Russen und einer Deutschen geboren. 2018 wanderte Vater Wladimir auf die russisch gewordene Halbinsel Krim aus. In ihrem Kanal verlinkt Alina immer wieder Videos, in denen er vom ländlichen Leben auf der Halbinsel berichtet. Lipp studierte Umweltsicherung und Nachhaltigkeitswissenschaften und war eine Zeitlang bei den Grünen politisch aktiv.

Heute sieht sie ihre einstige Partei äußerst kritisch: „Die Grünen haben sich leider zum Negativen verändert. Sie zeigen momentan, dass sie eine Partei sind, die ausschließlich die Interessen der USA umsetzt und nicht jene der deutschen Bevölkerung.“ Die ablehnende Haltung der Partei hinsichtlich der mittlerweile gesprengten Erdgas-Leitung „Nord Stream 2“ zeuge von der „fachlichen Inkompetenz der Parteivorsitzenden“, meint Alina Lipp. Statt auf günstiges Erdgas aus Russland müsse Deutschland nun auf teures und umweltschädliches Frackinggas aus den USA zurückgreifen. „Die deutsche Wirtschaft und die Bevölkerung sollen leiden, damit es Putin weh tut.“

„Die Wahrheit vermitteln“

Als 2014 die Proteste gegen den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch eskalierten und in der Folge im Donbass ein Bürgerkrieg ausbrach, begann Lipp, das westliche Narrativ zusehends zu hinterfragen. Sie befasste sich mit Heimat, Sprache und Kultur ihres Vaters und bereiste Russland. Im August 2021 kam sie zum ersten Mal ins umkämpfte Donezk. Zusammen mit einem Bekannten, der ursprünglich aus der Stadt stammt. „Ich war ziemlich geschockt über das, was ich da gesehen habe. Dass da Zivilisten umgebracht werden und in Deutschland nicht darüber berichtet wird“, sagt Lipp. Im Oktober fuhr sie wieder nach Donezk. Diesmal, um zu bleiben. Der Wunsch, „die Wahrheit nach Deutschland zu vermitteln“, war stärker als die Angst, in einem Kriegsgebiet zu leben, das regelmäßig von ukrainischen Truppen beschossen wird. 

Durch Beschuss im Bürgerkrieg wurde das Haus dieser Menschen im Donbass zerstört. (Foto: Lipp)

„Ich hatte zwei Monate überlegt, weil ich genau wusste: Das könnte Konsequenzen für mein Leben haben.“ Sie sollte Recht behalten. Ob sie jemals in die Bundesrepublik zurückkehren kann, ist fraglich. Für ihre Berichterstattung droht ihr hierzulande eine Freiheitsstrafe. Bis zu drei Jahre Haft. Denn nach Paragraf 140 des deutschen Strafgesetzbuchs ist es verboten, bestimmte Straftaten „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts“ zu billigen. Zu jenen Straftaten gehören Kriegsverbrechen und völkerrechtswidrige Angriffskriege. Nach westlicher Sichtweise liegt beides im Fall der russischen Invasion in der Ukraine vor.

„Jemand, der filmt, was er sieht“

Just wenige Monate vor dem Beginn von Russlands „spezieller Militäroperation“ in der Ukraine zog Lipp nach Donezk. Dass sie sich dort zum Kreml-Troll entwickelte, steht für viele deutsche Medien außer Frage. Sie selbst weist das entschieden zurück: „Ich finde das eine Frechheit, mich als Putin-Troll oder Infokrieger zu bezeichnen. Ich bin einfach jemand, der vor Ort ist, filmt, was er dort sieht, und Gespräche vor Ort ins Deutsche übersetzt. Ohne irgendwelche Aufträge zu haben.“ Nie, betont Lipp, habe sie sich als Propagandistin präsentiert. Nie habe sie sich vor die Kamera gestellt und gesagt, sie unterstütze die Spezialoperation. „Wenn man mein Material anguckt, sieht man, dass ich meistens einfach die Kamera rumschwenke und die Leute reden lasse.“ 

Die „Volksrepublik Donezk“, aus der Lipp seit Herbst 2021 berichtet, spaltete sich 2014 nach einem international kritisierten Referendum von der Ukraine ab. Seit einem nicht minder umstrittenen erneuten Volksentscheid im vergangenen Jahr gehört Donezk zur Russischen Föderation. Zumindest nach russischer Lesart. Für den Westen bildet die „Volksrepublik“ nach wie vor einen Oblast (Bezirk) der Ukraine. Meist teilt Alina Lipp in ihrem Kanal Meldungen anderer – und verbreitet so auch Inhalte, die sich dann als „Fake News“ erweisen. Das macht sie angreifbar für ihre Kritiker im Westen, die in der Deutsch-Russin nur ein junges, attraktives Gesicht der Kreml-Propaganda sehen. Sie selbst betont: „Ich habe noch nie absichtlich Fakes verbreitet. Wenn ich auf einen Fake reingefallen bin, stelle ich das immer richtig.“

Wiederaufbau geht voran

Ihre Videos, die sie selbst bei Fahrten in die Nähe der Front, ins russisch besetzte Mariupol oder in andere „befreite“ Orte der „Volksrepublik Donezk“ aufnimmt, sind wichtige Primärquellen. Das, was die Menschen ihr – so wirkt es – bereitwillig in die Kamera erzählen, weicht teils beträchtlich von dem ab, was westliche Medien und Politiker spätestens seit dem 24. Februar 2022 verbreiten. Dass für den Donbass der Krieg bereits 2014 begann. Dass das ukrainische Militär Zivilisten beschießt und als menschliche Schutzschilde missbraucht. Auch wenn der Wahrheitsgehalt der Aussagen von Deutschland aus oft nicht überprüft werden kann, so bleibt doch der Eindruck, dass die Menschen im Donbass den russischen Einmarsch großteils begrüßen. Auch der Wiederaufbau der zerstörten Orte geht zügig voran. Lipps Botschaft stimmt häufig mit dem überein, was andere westliche Journalisten aus dem Donbass berichten.

Bereits im September 2021, also Monate vor der Invasion, als Lipp noch primär von der Krim schrieb, traf die junge Deutsche in Moskau Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums. Westlichen Medien ist das ein weiteres Mosaiksteinchen in der Argumentation, Alina Lipp sei nichts weiter als eine Marionette des Kremls. Dagegen betont die 29-Jährige, Sacharowa habe lediglich „das Buch eines norwegischen Kollegen der Krim-Freunde signiert, bei denen ich Mitglied bin. Er hatte mich dazu mitgenommen.“ Bei einer Konferenz jener Krim-Freunde im März 2022 sah Lipp Sacharowa dann noch einmal. „Maria Sacharowa ist mit einer kleinen Rede aufgetreten und dann abgehauen.“

Teil eines Medienkriegs

Finanzieren lässt sich Alina Lipp von privaten Unterstützern, sagt sie. Das ist nicht ganz unproblematisch. Der Bezahldienstleister Paypal kündigte ihr das Konto. Ebenso ihre Direktbank. Lipp sieht die Kündigung als Teil eines Medienkriegs gegen sie. Wie viel Spenden sie erhält, behält die 29-Jährige für sich. „Aussagen über das Geld, das ich bekomme, mache ich nicht.“ Deutlich wird sie allerdings auf die Frage, ob sie jemals Geld von russischen Staatsmedien oder gar vom Kreml angenommen habe.

Mit Helm und Seit’ an Seit’ mit Wladimir Putin: So zeigte das Nachrichtenportal T-Online Alina Lipp. (Foto: Screenshot T-Online.de)

„Das war dieser blöde Artikel von T-Online, der das Gerücht gestreut hat, ich würde für Staatsmedien arbeiten. Das stimmt überhaupt nicht. Als unabhängiger Journalist verkauft man sein Material. Man bekommt keine Aufträge. Wenn jemandem etwas gefällt, kauft er das. Das ist völlig normale Praxis für freie Journalisten.“ Ein einziges Mal habe sie Sputnik Deutschland beliefert. „Das war vor der Spezialoperation. Da habe ich Sputnik drei kurze Videos geschickt, die alle nur etwa eine Minute oder so dauerten. Erst nach Monaten bekam ich dafür einen Mini-Betrag.“ Absehen davon habe sie nie Geld von russischen Medien erhalten.

Wer also ist Alina Lipp? Verbreitet sie für den Kreml russische Propaganda? Ist sie die „Friedensjournalistin“, als die sie sich selbst sieht? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? „Ich bin einfach eine Journalistin, die Ungerechtigkeit gesehen hat und versucht, diese Ungerechtigkeit bekannt zu machen und aufzudecken“, sagt Lipp. Ihre Gegner an der medialen Front wird sie damit nicht überzeugen. Alle anderen vielleicht schon.

Thomas Wolf

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„Gibt kaum jemanden, der objektiver sein könnte“

Vor genau einem Jahr marschierten die russischen Streitkräfte in der Ukraine ein. Dem zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren andauernden Bürgerkrieg im Donbass brachte dies eine neue Eskalation. Die junge Deutsche Alina Lipp erlebte den Beginn der Invasion vor Ort mit. Sie war im Herbst 2021 nach Donezk in der gleichnamigen separatistischen „Volksrepublik“ gezogen, um von dort zu berichten. Ihre Videos und Nachrichten, die sie großteils über Telegram verbreitet, widersprechen spätestens seit Beginn der „speziellen Militäroperation“ dem gängigen westlichen Narrativ.

Das folgende Interview gab Alina Lipp kurz nach Kriegsbeginn. Es sollte in einer überregionalen deutschen Wochenzeitung erscheinen. Da der Chefredakteur den Vorwurf vermeintlicher „Russlandnähe“ fürchtete, flog der Beitrag kurzfristig aus dem Blatt. Erstmals veröffentlicht wurde er erst in der Januar-Ausgabe des monatlich erscheinenden Stichpunkt-Magazins.

Alina Lipp bereist den Donbass und dokumentiert Zerstörungen. (Foto: Lipp)

Frau Lipp, die deutsche Öffentlichkeit nimmt den russischen Einmarsch in der Ukraine als verbrecherischen Angriffskrieg wahr. Sie betonen dagegen, man dürfe die Vorgeschichte der Invasion nicht außer Acht lassen. Wie stellt sich diese für Sie dar?

2014 fand in Kiew ein Umsturz statt, infolgedessen eine neue west­orientierte Regierung an die Macht kam – gestützt von ultranationalisti­schen, anti­russischen Kräften. Der russischsprachige Osten des Landes, der Donbass, und die Krim-Bevölkerung haben diesen Putsch nicht unterstützt und sich von der Uk­raine losgesagt. Daraufhin schickte die illegal an die Macht gekomme­ne Regierung Armee, Polizei sowie Geheimdienste, um die abtrünnigen Gebiete mit Gewalt zurückzuholen.

Die Armee wollte nicht so rich­tig gegen ihr eigenes Volk kämpfen. Deshalb mobilisierten die Putschis­ten Rechtsradikale, bewaffnete diese und schickten sie in die abtrünnigen Republiken. Später haben Vertreter dieser paramilitärischen Einheiten wie „Asow“, „Donbass“, „Ajdar“ in der Armee, in den Geheimdiensten und in der Polizei Schlüsselpositionen übernommen.

Viele Verbrechen wurden gefilmt

Der Terror im Osten begann. Menschen verschwanden, wurden gefoltert und ermordet. Viele Ver­brechen wurden gefilmt. Ich habe selber einige grauenhafte Szenen ge­sehen. Die Menschen im Osten wurden pauschal zu Terroristen erklärt. Die Regierung startete eine „antiterroristische Operation“, die schnell in einen echten Krieg ausartete. Seit 2014 sind nach UN-Angaben rund 14.000 Menschen ums Leben gekommen. Laut OSZE gingen 75 Prozent davon auf das Konto der Ukraine.

Veteranen des umstrittenen Asow-Regiments marschieren 2019 durch Kiew. Ihr Erkennungszeichen, von dem sich die Einheit mittlerweile offiziell distanziert, ist eine Wolfsangel, die auch von NS-Verbänden genutzt wurde. (Foto: Goo3/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das Minsker Abkommen brachte die Hoffnung, dass durch gegenseitige Zugeständnisse Frieden einkehrt. Doch die Ukraine hat es in acht Jahren nicht geschafft, die Schlüsselpunkte des Abkommens umzusetzen. Die Rechtsradikalen haben immer wieder gedroht, die Regierung in Kiew zu stürzen, wenn diese irgendwelche Zugeständnisse machen würde. Sie forderten die gewaltsame Lösung des Konflikts.

Russland will die Ukraine „entnazifizieren“. Im Westen heißt es dagegen, die Ultranationalisten spielten in Parlament und Regierung keine Rolle. Und ist es nicht absurd, wenn ausgerechnet der jüdische Präsident Wolodymyr Selenskyi in die Nähe der Nazis gerückt wird?

Das finde ich nicht absurd. Ein „Nazi“ ist nicht automatisch ein Antisemit, sondern jemand, der ra­dikale Ansichten über andere Men­ schengruppen oder Ethnien vertritt. In der Ukraine wurden Gesetze verabschiedet, die den russischsprachigen Teil der Bevölkerung zu Bürgern zweiter Klasse machen: Behörden und Dienstleister dürfen Russisch als Sprache im Wesentlichen nicht mehr verwenden. Russischsprachige Schulen wurden geschlossen.

Durch das „Gesetz über die ein­ heimischen Völker“ werden die Bürger der Ukraine nach völkischen Kriterien in drei Kategorien eingeteilt, die unterschiedliche Rechte haben. Russen gehören zur dritten Kategorie und haben damit weniger Rechte und Ansprüche auf finanzielle Unterstützung als Ukrainer. Stellen Sie sich vor, ein europäisches Land würde solche Gesetze verabschieden – das wäre ein Skandal!

„Russische Untermenschen“

Möglich ist eine solche Gesetz­ gebung in der Ukraine, weil Ultranationalisten eben doch eine Rolle in Parlament und Regierung spielen. Es gibt staatlich subventionierte Ferienlager, in denen Kinder lernen, man müsse „russische Untermenschen“ erschießen. Das Asow-Regiment untersteht dem Verteidigungsministerium. Die Verwendung von Nazi-Symbolik ist gut belegt. Auch das ZDF hat darüber berichtet.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission. (Foto: European Commission/Dati Bendo via Wikimedia Commons)

Selenskyi trat sein Amt als Präsident 2019 mit dem Versprechen an, den Konflikt im Donbass zu beenden. Warum ist er gescheitert?

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Selenskyi mit guten und ehrlichen Absichten antrat, den Frie­den wiederherzustellen. Gescheitert scheint er am Widerstand der nationalistischen Kräfte zu sein. Sobald er auch nur andeutete, Zugeständnisse gegenüber der abgespaltenen Republiken in Erwägung zu ziehen, versammelten sich radikale Nationalisten mit Molotow-Cocktails vor dem Regierungsgebäude.

Wenn es Russland um die „Befreiung“ des Donbass geht – warum marschiert es dann auf breiter Front ein und greift auch Kiew, Lemberg oder Charkiw an, die hunderte Kilometer von Donezk und Lugansk entfernt liegen?

Einfach nur die Donbass-Republiken mit Soldaten zu unterstützen hätte nichts gebracht, da die ukrainische Armee mit Raketen auf die Republiken schießt. Deshalb muss Russland die ukrainischen Einheiten so weit wie möglich zurückdrängen – und sicherstellen, dass danach nicht wieder vorgerückt wird.

Russland hat sich die Demilitari­sierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine als Ziel gesetzt, da die nationalistischen Kräfte ansonsten im­mer wieder versuchen würden, den Donbass anzugreifen. Russland zerstört daher militärstrategische Ziele überall im Land, um die ukrainische Armee zu schwächen: Waffen­ und Öllager, Übungsplätze, militärische Flughäfen.

Warum hat Russland jetzt angegriffen – und nicht bereits 2014?

Wenn Wladimir Putin der blutrünstige Aggressor wäre, als der er in westlichen Medien meist dargestellt wird, hätte er wohl 2014 angegriffen. Das tat er aber nicht. Russland hat sich aus dem Konflikt weitgehend herausgehalten. Die im Donbass abgehaltenen Referenden, nach denen sich Donezk und Lugansk zu „Volksrepubliken“ erklärten, wurden durch Russland acht Jahre lang nicht anerkannt. Putin legte den Republiken sogar nahe, dass er ihren Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation nicht annehmen würde, sollten sie einen solchen stellen. Viele Menschen im Donbass haben gefragt, warum Russland ihnen nicht helfe. Einige waren sogar richtig sauer.

Die heftigen Kampfhandlungen in Mariupol ließen auch zahlreiche Wohngebiete zerstört und verwüstet zurück. (Foto: Lipp)

Ukraine in die NATO

Aktuell wurde Russland durch mehrere Umstände gezwungen, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen. Erstens nahm der Beschuss der Donbass-Bevölkerung, von der ein Großteil die russische Staatsbürgerschaft besitzt, extrem zu. Zweitens lehnten NATO und USA Russlands Vorschläge für gegenseitige Sicherheitsgarantien ab. Damit signalisierten sie, die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen, womit die Errichtung von NATO-Stützpunkten unmittelbar an der russischen Grenze ermöglicht würde. Putin hat immer wieder da­ vor gewarnt, dass dies eine rote Linie überschreiten und Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Und drittens verkündete Selenskyi auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass er in Erwägung zieht, den im Budapester Abkommen geregelten Verzicht der Ukrai­ne auf den Besitz von Atomwaffen zurückzunehmen.

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Türkei diskriminiert bei Erdbeben-Hilfe

Alevitische Gemeinden in Pazarcik und Elbistan im Süden der Türkei beklagen systematische Diskriminierung bei Hilfsgütern, Nothilfen und der Bergung von Erdbebenopfern. Das berichtet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen unter Berufung auf alevitisch-kurdische Quellen und Ali Toprak, den Bundesvorsitzenden der Kurdischen Gemeinde in Deutschland.

Ein zerstörtes Haus in der türkischen Stadt Hatay. (Foto: Hilmi Hacaloğlu/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

„Augenzeugen berichten uns, dass der staatliche Katastrophenschutz insbesondere die alevitischen Dörfer um Pazarcik erst Tage nach dem Erbeben aufgesucht hat“, erklärt Tabea Giesecke, GfbV-Referentin für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten. Die Behörden hätten zivile Hilfen behindert, die Hilfskräfte Dörfer, in denen Menschen noch in den Trümmern lagen. „Das zeigt beispielhaft, wie die türkische Regierung die Katastrophe nutzt, um Minderheiten im Land auszulöschen.“

Erschüttertes Vertrauen

Seit dem Erdbeben gibt es immer mehr alevitisch-kurdische Initiativen, die Hilfsgüter und Nothilfen leisten und auch aus dem Ausland Spenden in betroffene Gebiete bringen. „Das Vertrauen der Menschen in die türkische Regierung und den Katastrophenschutz ist zutiefst erschüttert. Die Zivilbevölkerung leistet jetzt die Hilfe, die der Staat systematisch zurückhält. Und selbst das ist diesem Staat ein Dorn im Auge“, meint Giesecke.

In der alevitischen Gemeinde in Pazarcik hat der Gouverneur von Maraş (Kahramanmaraş) zivile Helfer dazu aufgefordert, ihre Arbeit zu beenden und Hilfsgüter beschlagnahmt. Ein staatlicher Verwalter soll nun die Verteilung organisieren. „Das ist ein Schlag ins Gesicht für die alevitische Gemeinde. Betroffene werden dadurch von für sie gedachten Hilfen abgeschnitten. Es zeigt, wie tief die Diskriminierung sitzt“, kritisiert Giesecke.

Kurden-Gebiet bombardiert

Bereits zuvor hat die GfbV darauf hingewiesen, dass die türkischen Streitkräfte trotz des Erdbebens kurdische Siedlungsgebiete im Norden Syriens attackieren. „Es ist skandalös, dass ein NATO-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert“, kritisiert Kamal Sido, Nahost-Referent der GfbV. Auch Hilfslieferungen nach Syrien habe die Türkei blockiert. Nicht nur Syriens umstrittener Präsident Assad verhindere die Versorgung der kurdischen Gebiete.

Dem historischen Beben fielen mindestens 42.000 Menschen zum Opfer. Davon allein 36.000 in der Türkei. Zehntausende könnten noch unter den zerstörten Gebäuden verschüttet sein. In manchen Gebieten verschoben die Erdstöße das Land um mehrere Meter. Das Beben erreichte eine Magnitude von etwa 7,8 und übertraf damit die Katastrophe von Gölcük und Izmit 1999. Damals starben 18.000 Menschen.

Helfer im Nordwesten Syriens bergen einen Verschütteten. (Foto: Foreign, Commonwealth & Development Office/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)
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Bomben gegen Erdbeben-Opfer

Ein verheerendes Erdbeben hat gestern Teile Syriens und der Türkei verwüstet. In beiden Ländern zählen die Behörden bereits mehr als 5000 Todesopfer. Viele Menschen werden noch vermisst. Die Stärke des Bebens übertrifft mit einer Magnitude von etwa 7,8 sogar die Katastrophe von 1999. Damals starben im Umkreis der türkischen Millionen-Metropole Istanbul mehr als 18 000 Menschen. Das neuerliche schwere Erdbeben hält die Türkei offenbar nicht davon ab, kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien zu bombardieren. Das meldet aktuell die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen.

Während die internationale Hilfe für die Erdbebengebiete anläuft, bombardiert die Türkei den Norden Syriens. (Foto: Voice of America/gemeinfrei)

„Gegen Mitternacht griff die Türkei das vom Beben betroffene Umland von Tal Rifaat an. In der Gegend nördlich von Aleppo haben kurdische Vertriebene aus der Region Afrin Zuflucht gefunden“, berichtet Kamal Sido, Nahost-Experte der GfbV. Und kritisiert: „Es ist skandalös, dass ein NATO-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert. Von anderen NATO-Ländern kommt dazu kein Wort der Kritik.“ Immer wieder attackiert die Türkei den Norden des Nachbarlands. Die seit Jahren andauernde Blockade der kurdisch kontrollierten Gebiete Syriens durch die Türkei und ihre westlichen Partner verschlimmert nach Ansicht der GfbV nun die Lage in den Erdbeben-Gebieten zusätzlich.

Jahrelange Blockade

„Das gesamte medizinische Versorgungssystem lag wegen des andauernden Bürgerkriegs sowie syrischer und russischer Angriffe bereits in Trümmern. Jetzt können viele Verletzte nicht versorgt werden“, sagt Sido. „Die Versorgung der kurdischen Gebiete wurde und wird nicht nur von Assad verhindert. Besonders die Türkei hat die Grenzübergänge in die kurdischen Gebiete Nordsyriens für humanitäre Lieferungen geschlossen gehalten. Die Konsequenzen dieser jahrelangen Blockade tragen nun die traumatisierten, frierenden Menschen vor Ort.“

Aus Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei habe die deutsche Bundesregierung keine humanitäre Hilfe an die von Kurden besiedelten Gebiete zugelassen. „In ihren Verlautbarungen zum Erdbeben verschweigen die Vertreter der deutschen Bundesregierung diese Tatsache. Nahezu alle Grenzübergänge in Nordsyrien sind unter der Kontrolle der Türkei. Sie bräuchte keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrats, um sie zu öffnen“, erklärt Sido. „Für islamistische Kämpfer und moderne Waffen“ sei die Grenze dagegen stets geöffnet gewesen. „Jetzt müssen endlich auch humanitäre Lieferungen für Nordsyrien und für ganz Syrien durchgelassen werden.“

Bergungsarbeiten nach dem Beben in Diyarbakir im Südosten der Türkei. (Foto: Voice of America/gemeinfrei)
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Ein veganer Monat, der niemals endet

Fleisch ist schlecht und sollte am besten gar nicht gegessen werden. Vor allem das von Schwein und Rind. Einheimisches Fleisch. So wollen es insbesondere Klimaschützer. Sie argumentieren, durch die in Mitteleuropa übliche Tierhaltung werde das Klima geschädigt. Deshalb besser: kein Fleisch. Und weil es auch für tierische Produkte wie Eier der Tierhaltung bedarf, sollte der Mensch am besten vegan leben. Völlig ohne tierische Nahrung. Oder zumindest ohne Rind, Schwein und Geflügel. Insekten dagegen gelten als unbedenklich. Sie schädigten das Klima nicht, heißt es. Mittlerweile sind sie in der EU als Nahrungsmittel zugelassen.

Vegane Lebensmittel gelten Politik und Medien als klimafreundlich – anders als das Fleisch heimischer Tiere. (Foto: Pixabay)

Einen ganzen Monat lang haben führende Supermarkt-Ketten den „Veganuary“ angepriesen. Den fleischfreien Januar. Statt zu Rindersteak und Schweineschnitzel sollte der Kunde zu pflanzlichen Ersatzprodukten greifen. Ob „Hühnchen“-Nuggets aus Tofu, Hamburger aus Pflanzensamen oder Bohnenmus. „Fisch“-Stäbchen, die keinen Fisch enthalten, Haferdrinks und Sojamilch – vegane Lebensmittel sind seit geraumer Zeit auf dem Vormarsch. So auffällig und offensiv beworben wie bei Edeka, Rewe, Aldi und Co. im veganen Januar werden sie aber selten. Konsequent vegan leben tut nur eine kleine Minderheit.

Vegetarisch reicht nicht

Das ist der internationalen Initiative „Veganuary“ zu wenig. Sie will immer mehr Menschen davon überzeugen, sich nicht nur vegetarisch zu ernähren. Also fleischlos. Es muss schon vegan sein. Auch Eier, Milch, Joghurt oder Butter sind dann tabu. In Zeiten einer angeblich drohenden Klima-Katastrophe, von „Fridays for Future“ und den Aktionen der „Letzten Generation“ gilt die vegane Lebensweise als „hip“. Gegründet wurde „Veganuary“ 2014 in Großbritannien. In Deutschland warb die Initiative 2019 erstmals für den veganen Januar. Im vergangenen Jahr beteiligen sich nach Angaben der Organisation mehr als 600.000 Menschen an der Aktion. Mehr als 1500 „neue vegane Produkte und Menüs“ seien zum Januar 2022 auf den Markt gebracht worden.

Für dieses Jahr vermelden Medien eine neue Rekordbeteiligung am „Veganuary“. Mehr als 850 aus unterschiedlichsten Bereichen hätten sich an der Aktion beteiligt. Vor einem Jahr seien es dagegen nur etwas mehr als 200 gewesen. Die Initiative selbst spricht von der erfolgreichsten Kampagne seit ihrer Gründung. Der Discounter Aldi, liest man, habe ein „veganes Steak“ eingeführt. Und die Deutschen Bahn eine vegane Curry-„Wurst“ serviert. „Dieser Veganuary hat gezeigt, dass es immer selbstverständlicher und auch einfacher wird, sich im Alltag für pflanzliche Alternativen zu entscheiden“, sagt Ria Rehberg, internationale Geschäftsführerin der Kampagne.

Wie in zahlreichen anderen Supermarkt-Ketten stand auch bei Rewe der Januar ganz im Zeichen der veganen Ernährung. (Foto: © REWE)

Der Kölner Einzelhändler Rewe wies im Rahmen der Aktion erstmals sogenannte Klimapreise aus. „Wie müssten Preise für Lebensmittel eigentlich ausgezeichnet werden, wenn auch die Klimaauswirkungen berücksichtigt werden? Immer noch in Euro und Cent? Oder hat unser Planet eine andere Währung, mit der er für unseren Einkauf bezahlt?“, fragte das Unternehmen auf seiner Webseite. Und lieferte die Antwort gleich mit: „Wahrscheinlich wären für den Planeten Angaben in Emissionen und Belastungen der realistischere Ansatz.“ Also preisten die Kölner fünf ausgewählte Produkte mit der „Währung“ CO2e/kg aus.

„Je öfter du nämlich zu veganen Alternativen greifst, desto mehr mundet dein Einkauf auch dem Klima. Das fühlt sich nicht nur richtig an, sondern kann auch unfassbar gut schmecken. Noch nicht überzeugt? Dann probier dich doch einfach mal durch unsere breite Auswahl an veganen Produkten!“ So spricht Rewe seine Kunden an. Und versucht damit, jedem Käufer von Schwein, Rind, Eiern oder Käse ein schlechtes Gewissen einzureden. Die meisten veganen Produkte seien mit dem Zusatz „Für mehr Klimaschutz“ versehen. „So erkennst du schon auf den ersten Blick, dass du mit deiner Wahl einen wertvollen Nachhaltigkeitsbeitrag leistest.“

Dauerhaft weg vom Fleisch

Auch Lidl beteiligt sich an „Veganuary“. Der Neckarsulmer Discounter geht aber noch weiter. Er will offenbar seine Kunden dauerhaft vom Fleisch wegbringen. Nicht nur im Januar. Das Sortiment werde angepasst, der Anteil an Produkten tierischen Ursprungs verkleinert, liest man. Der Lidl-Chefeinkäufer für den deutschen Markt, Christoph Graf, bezeichnete dies anlässlich der „Grünen Woche“ in Berlin als alternativlos. Weil „es keinen zweiten Planeten“ gebe. „Die Manager der Supermarktkette Lidl outen sich als Klima-Pädagogen“, kommentiert das Portal reitschuster.de. „Mit anderen Worten: Sie wenden sich von der Marktwirtschaft ab, in der die Wirtschaft sich nach den Bedürfnissen der Verbraucher zu richten hat. Und setzen statt dessen auf Planwirtschaft – in der die Wirtschaft den Verbrauchern vorschreibt, was sie zu verbrauchen haben.“

Selbst Burger stehen immer häufiger in einer fleischlosen Variante auf der Speisekarte. Statt Käse kommt ein pflanzliches Ersatzprodukt zum Einsatz. (Foto: Pixabay)
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„Viele haben zum ersten Mal demonstriert“

Die Maskenpflicht im öffentlichen Nah- und Fernverkehr erlischt. Fast auf den Tag genau drei Jahre nach den ersten Corona-Fällen in Deutschland. Damit bestehen in der Bundesrepublik nahezu keine Corona-Einschränkungen mehr. Selbst der Fall der Maskenpflicht in Krankenhäusern und Pflegeheimen gilt als ausgemachte Sache. Die Corona-Pandemie ist nun auch von Staats wegen beendet. Es bleibt die Erinnerung an ein Notstands-Regime, das es in dieser Form noch nie in Deutschland gab. Das private Treffen verbot, dessen Regeln und der Umgang mit ihnen die Gesellschaft spalteten. Ein Regime, das die Impfung für alle zur Pflicht machen wollte. Das drei Jahre lang nahezu keinen Widerspruch duldete. Und dessen Positionen von vielen Medien kritiklos übernommen wurden.

Protest gegen die Notstandsregeln artikulierte sich im Internet, etwa bei Messengern wie Telegram, und auf der Straße. Zeitweise nahmen Hunderttausende an Demonstrationen gegen Kontakt-Verbote, Maskenpflicht und Impfkampagne teil. Vor allem der Osten Deutschlands war ein Zentrum des Protests. Aber auch Bayern, dessen Regierung gerade während der ersten Corona-Welle einen besonders harten Kurs fuhr. Einer jener Demonstranten, die ihre Ablehnung der Maßnahmen regelmäßig an die Öffentlichkeit trugen, ist ein junger Mann. Wir nennen ihn an dieser Stelle „Markus“.

Auch Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) trägt das Ende der Maskenpflicht mit. Er rät jedoch dazu, weiter freiwillig einen Mund-Nase-Schutz zu tragen. (Foto: Sandro Halank/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das folgende Interview ist eine Art Vermächtnis: Dass die Auswüchse des Corona-Regimes, die auch von Virologen immer wieder kritisiert wurden, nicht vergessen werden mögen. Das Interview wurde zwar bereits vor einigen Monaten geführt. Veröffentlicht wird es aber erst jetzt. Mit freundlicher Genehmigung der Beteiligten exklusiv beim „anderen Blickwinkel“. Zugleich sind die Antworten von „Markus“ auch ein möglicher Ausblick auf die Zukunft. Denn der Protest auf den Straßen geht weiter. Nicht mehr die Corona-Maßnahmen sind das Thema, sondern die Energiekrise. Waffenlieferungen an die Ukraine. Die westliche Haltung gegenüber Russland. Oder die zunehmende „Wokeness“ nicht nur in Politik und Medien, sondern auch im Sport und selbst in der Kirche.

Markus, warum gehen Sie gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße?

Ich bin kein Demonstrant der ersten Stunde. Anfangs fand ich die Maßnahmen gegen Corona noch nachvollziehbar. Und bis Ende 2020 war ich fest überzeugt, dass der Staat unsinnige Maßnahmen irgendwann von alleine einstellen würde. Dann wurde mir klar, wie stark der Impfdruck werden würde. Wie radikal die Gesprächsführung, wie unmenschlich die Ausgrenzung und die Repressionen für Andersdenkende. Dann habe ich nach Möglichkeiten des Protests gesucht.

Besonders mutig bin ich nicht. Mir fällt es schwer, in Diskussionen meinen Standpunkt zu erklären und zu verteidigen. Ich lasse mich verunsichern, sodass ich nicht mehr schlagfertig bin. Aber ich kann einer unter vielen sein, um einen Umzug zu vergrößern, dachte ich mir. Man macht verhältnismäßig wenig, ist aber nicht vollkommen unaktiv. Anfangs kannte ich die Kanäle nicht, unter denen sich Menschen zu Umzügen verabreden. Ich war verwundert, dass in der Zeitung gar keine Ankündigung stand, wie es doch sonst bei jedem Hinterhof-Flohmarkt ist. Seit Mitte 2021 bin ich dabei. 

Wie fühlte es sich an zu demonstrieren?

Es hat mir Hoffnung gegeben. Und Sinn. Viele von uns, auch ich, haben zum ersten Mal demonstriert. Rufen, Singen und Schilder tragen war sehr ungewohnt. Anfangs hatten viele noch mit Kuli geschriebene Schilder, die man eigentlich nur lesen kann, wenn man direkt danebensteht. Ich habe mich einsam gefühlt, denn meine Altersklasse stand größtenteils auf der anderen Seite, zeigte mit dem Finger auf uns und schüttelte den Kopf. Zum Teil habe ich Bekannte dort gesehen.

Einmal wurden wir von der Polizei eingekesselt, obwohl wir vollkommen friedlich durch die Straßen liefen. Es herrschte ein Abstandsgebot. Die Polizei hat uns aber so zusammengetrieben, dass wir es nicht einhalten konnten. Man hat den Beamten zum Teil angesehen, dass sie sich bei solchen Handlungen unwohl fühlen. Wenn man selbst dabei war und hinterher die Zeitungsberichte gelesen hat, in denen etwas vollkommen anderes stand, als man mit eigenen Augen gesehen hat, erschüttert es das Vertrauen in Medien und Gesellschaft noch mehr. Es wurde von Gewalt und Ausschreitungen berichtet, das hat einfach nicht gestimmt. Das macht hilflos! Zugleich gibt die Teilnahme Auftrieb. Die Gleichgesinnten trösten.

Zeitweilig gingen Hunderttausende gegen die Corona-Maßnahmen auf die Straße. (Foto: Ivan Radic/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Haben Sie das Gefühl, dass der Protest auf der Straße etwas bringt?

Genau sagen kann man es natürlich nicht. Peter Hahne hat in einem Interview von Insider-Informationen gesprochen, dass politische Entscheidungen sehr wohl von den Protesten beeinflusst wurden. Ich kann speziell das nicht beurteilen. Aber schon allein die Menge an Menschen, die gemeinsam aktiv wird, ist ein Signal, das Verantwortliche weder übersehen noch überhören können. Auch in der Bevölkerung erhält der Protest Aufmerksamkeit, weil Straßen gesperrt werden und Autos, Busse und Straßenbahnen eine Weile nicht fahren können. Die Aufmerksamkeit ist zwar nicht unbedingt positiv, weil Unbeteiligte durch die fehlenden Ankündigungen in der Presse vollkommen überraschend behindert werden und sich dann selbstverständlich ärgern. Hier wird von den Presseorganen die Wut auf die Demonstranten statt auf die Zustände gelenkt.

Man kommt außerdem an die Menschen ran, die keine alternativen Medien lesen und von der anderen Seite wenig mitbekommen. Von vielen Menschen, die genauso denken, hört man aber leider schon: „Das bringt doch nichts.“ Oft klingt es resigniert. Aber die pauschale, abwinkende Aussage finde ich nicht in Ordnung. Da würde ich gerne die Frage umkehren und fragen: „Was bringt denn etwas?“ Und als Antwort mehr als ein Schulterzucken erwarten. Auf jeden Fall sollte sich jeder Unzufriedene diese Demos mal ansehen oder sich zumindest überlegen, wie man anders aktiv werden kann.

Wie muss es weitergehen?

Umzüge können nur einen Teil beitragen. Man muss sich meiner Meinung nach zusammenschließen und gemeinsam verweigern oder Maßnahmen ergreifen. Manche Menschen verabreden sich, Politiker und Verantwortliche oder Behörden anzurufen und zur Rede zu stellen. Sie sind wirklich hartnäckig. Einige zeigen Politiker für Aussagen an und animieren weitere, das auch zu tun. Andere haben sich zusammengeschlossen, um ohne Maske Bus zu fahren oder einzukaufen. So etwas macht es schwerer, einzugreifen.

Gemeinsames Auftreten macht mehr Eindruck und gibt Mut, zu seiner Meinung zu stehen und ein Nein auch in die Tat umzusetzen. Ganz lange habe ich geglaubt, dass 3G sich im Freizeitbereich gar nicht etabliert, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand nur wegen eines Kino- oder Restaurantbesuchs, ohne den es schon monatelang gehen musste, zum Test oder zur Spritze rennt. Wir haben uns zu lange auf den Gedanken „Es ist ja nur“ verlassen. 2G hat dann zum Einbruch bei Verkaufszahlen geführt und etwa die Händler dazu gebracht, die Stimme zu erheben.

Die Polizei geht mit Wasserwerfern gegen eine Corona-Demo vor. (Foto: Leonhard Lenz/CC0 via Wikimedia Commons)
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Habecks Traum von verlorener Souveränität

Im Internet macht ein Video die Runde und sorgt für einigen Wirbel. Es zeigt einen Ausschnitt aus einem in englischer Sprache gehaltenen Redebeitrag des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Habeck äußert sich darin zu seinen Vorstellung einer Europäischen Union der Zukunft. Er wünsche sich, sagt der grüne Spitzenpolitiker, eine „federal European republic“. Also eine „europäische Bundesrepublik“, einen europäischen Superstaat anstelle der aktuellen EU, die nach deutschem Rechtsverständnis als bloßer „Staatenverbund“ gilt.

Noch mehr Macht für Brüssel

In den sozialen Medien stößt Habecks Äußerung auf viel Kritik. Schließlich ginge eine Bundesrepublik EU mit einem deutlichen Souveränitätsverlust für ihre Gliedstaaten einher. Soll heißen: noch mehr Macht für Brüssel. Statt für Berlin, Paris oder Rom. Wirklich neu ist das nicht. Seit Jahren fordern gerade deutsche Politiker die immer weitergehende Vertiefung der europäischen Integration. Dies würde notwendigerweise dazu führen, dass Deutschland und die europäischen Nationalstaaten in einem Superstaat unter Brüsseler Führung aufgehen würden. Von Charles de Gaulles Vision eines „Europas der Vaterländer“ hat sich die Bundesrepublik lange schon verabschiedet.

Neu sind Habecks Überlegungen nicht. Schon im Januar 2020 sagte er in einem Vortrag an der Georgetown-Universität in Washington, er sehe die Zukunft Deutschlands in einer weitergehenden europäischen Einigung. „Dazu gehören die Übertragung weiterer Hoheitsrechte, die Steuerhoheit, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und letztlich die Entstehung einer europäischen Bundesrepublik.“ Zugleich dankte Habeck den USA für den Sieg über den „deutschen Faschismus“. Dies habe den Deutschen die Chance gegeben, sich „in Europa als friedliche Mitbürger zu beweisen“. Indem sie ihre Souveränität aufgeben?

Einheitliches europäisches Wahlrecht

Auch die rot-grün-gelbe Ampelkoalition spricht sich in ihrem Koalitionsvertrag für die Weiterentwicklung der EU „zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ aus. Dieser solle dezentral „nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert“ sein. „Wir werden der Gemeinschaftsmethode wieder Vorrang geben, aber wo nötig mit einzelnen Mitgliedstaaten vorangehen. Wir unterstützen ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit teils transnationalen Listen und einem verbindlichen Spitzenkandidatensystem.“

Die Ampel-Politiker Volker Wissing (FDP), Michael Kellner (Grüne) und Lars Klingbeil (SPD) präsentieren den unterzeichneten Koalitionsvertrag. (Foto: Sandro Halank/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte 2018 noch deutlich zurückhaltendere Formulierungen gebraucht. „Wir wollen den Zusammenhalt Europas auf Basis seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Werte auf allen Ebenen vertiefen und das Prinzip der wechselseitigen Solidarität stärken“, hieß es darin etwa. Und: „Wir wollen ein Europa der Demokratie mit einem gestärkten Europäischen Parlament und einem lebendigen Parlamentarismus auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene.“ Die EU solle „in ihrer Handlungsfähigkeit“ gestärkt werden, insbesondere finanziell.

Europäische Staatlichkeit

Traditionell firmieren die Forderungen nach einer europäischen Staatlichkeit unter dem Schlagwort der „Vereinigten Staaten von Europa“. Der Begriff selbst tauchte erstmals 1776 in einem Brief des späteren ersten US-Präsidenten George Washington auf. „Eines Tages werden, nach dem Muster der Vereinigten Staaten, die Vereinigten Staaten von Europa gegründet werden. Sie werden Gesetzgeber aller Nationalitäten sein“, schrieb der US-Revolutionär. Sein Landsmann, der Publizist und Naturwissenschaftler Benjamin Franklin, plädierte zwei Jahre später mit Blick auf Europa für die „Schaffung eines Bundesstaates und einer großen Republik aus all den verschiedenen Staaten und Königreichen“.

Benjamin Franklin skizzierte bereits 1778 die Grundzüge eines europäischen Bundesstaats. (Foto: gemeinfrei)

In den 1920er Jahren griff die SPD die „Bildung der Vereinigten Staaten von Europa“ als politische Vision auf. Einen europäischer Superstaat wie in Habecks Träumen schwebte den Sozialdemokraten aber offenbar nicht vor. Stattdessen war im Heidelberger Programm von 1925 die Rede von einer „europäischen Wirtschaftseinheit“, die „aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend“ geworden sei und der „Interessensolidarität der Völker aller Kontinente“ dienen solle. Das Paneuropa-Konzept des österreichisch-japanischen Autors und Politikers Richard Coudenhove-Kalergi sah dagegen eine auch politische Union vor.