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Wer Terror sät, wird Tod ernten

Es ist ein über die Jahre bekanntes Vorgehen. Um sich gegen die israelische Besatzung zu wehren, greifen die Palästinenser zu selbstgebastelten Bomben, attackieren Grenzposten oder sprengen sich in israelischen Bussen in die Luft. So war das vor zehn, vor 20 Jahren. Terrorismus ist der Krieg der Armen, sagte der deutsch-britische Schauspieler Sir Peter Ustinov (1921-2004) zu derlei Attacken, für die der Nahe Osten berüchtigt war. Doch das war einmal – und es war grauenvoll genug.

Beispielloser Mord

Was jetzt aber am Wochenende in Israel geschah, ist beispiellos in der Geschichte des palästinensischen Terrors. Der Großangriff von Hamas und „Islamischem Dschihad“ stellt alles in den Schatten. Binnen weniger Stunden ermordeten die Terroristen mehr als 900 Israelis. Die ganz große Mehrheit Zivilisten: Frauen, Männer und Kinder. Sie mussten wohl aus einem einzigen Grund sterben: weil sie Israelis waren, Juden. Zum Vergleich: Während der Al-Aqsa-Intifada von 2000 bis 2005, dem letzten großen Palästinenser-Aufstand, waren es nur wenige israelische Opfer mehr. Allerdings in fast fünf Jahren.

Der weltweite Schock über die Terror-Attacken auf wehrlose israelische Zivilisten ist groß. In Berlin versammelten sich zahlreiche Menschen vor dem Brandenburger Tor, um ihre Solidarität mit Israel auszudrücken. (Foto: Leonhard Lenz/CC0 via Wikimedia Commons)

„Seit dem Holocaust haben wir nicht mehr erlebt, wie jüdische Frauen und Kinder, Großeltern – sogar Holocaust-Überlebende – in Lastwagen gepfercht und in die Gefangenschaft gebracht wurden. Wir werden mit voller Kraft und unerschütterlichem Engagement handeln, um diese Bedrohung für unser Volk zu beseitigen“, sagte Israels Staatspräsident Herzog nach dem Terror-Angriff. Und der umstrittene Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt: „Wir sind im Krieg. Und wir werden gewinnen. Unser Feind wird einen Preis bezahlen, wie er ihn noch niemals kennengelernt hat.“

Israels Politik kritisch sehen

Palästinenser-Präsident Mahmud Abbas erklärte, sein Volk habe das Recht, sich gegen den „Terror der Siedler und Besatzungstruppen“ zu wehren. Das ist richtig. Man kann auch als Deutscher die Politik Israels gegenüber den Palästinensern kritisch sehen. Und ebenso die Regierung Netanjahu oder die radikalen jüdischen Siedler, die erst jüngst wieder mit Provokationen und Übergriffen gegen Christen, Palästinenser und Andersdenkende von sich reden machten. Man kann auch Israels anhaltende Besatzung des Westjordanlands als völkerrechtswidrig ansehen. Und man kann fordern, dass das palästinensische Volk einen eigenen Staat erhält. Man sollte sogar.

Israels Besatzungspolitik im palästinensischen Westjordanland ist umstritten. (Foto: Israel Police/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Nichts davon aber rechtfertigt den rassistischen Blutrausch der Hamas! Selbst wenn man den israelischen Behörden vorwerfen kann, potenzielle Warnungen in den Wind geschlagen zu haben: Das macht nichts besser. Der Angriff ist und bleibt unerträglich. Was am Morgen des 7. Oktober begann, ist ein akribisch geplantes und eiskalt umgesetztes Abschlachten, das an die Untaten des „Islamischen Staats“ in Syrien und im Irak gemahnt. Allein auf dem Musikfestival „Supernova Sukkot Gathering“ beim Kibbuz Re’im, wo junge Israelis einfach nur friedlich feiern wollten, massakrierten die Islamisten mindestens 260 Menschen. Zahlreiche weitere vergewaltigten oder verschleppten sie.

Die Terror-Banden ausrotten

Den Preis für den Terror zahlen nun die Bewohner von Gaza. Israel hat faktisch angekündigt, die Hamas und andere Terror-Banden dort auszurotten. 300.000 Reservisten wurden einberufen. Die Armee steht wohl unmittelbar davor, in den Gazastreifen einzumarschieren. Die mächtigste Militärmacht des Nahen Ostens steht bereit, das Terrornest dem Erdboden gleichzumachen. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen. Was der Westen russischen Truppen in der Ukraine vorwirft, dürfte in Gaza Realität werden. Erste Videos von Luftschlägen zeigen bereits, dass Israel wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen wird. Die Saat des Terrors der Hamas: Sie ist der Tod von Gaza.

Israelische Kinder fliehen vor einem Raketenangriff aus dem Gazastreifen. Das Bild wurde 2012 aufgenommen. Allerdings dürfte sich das Motiv nur unwesentlich von aktuellen Ereignissen während des Hamas-Überfalls unterscheiden. (Foto: Israel Defense Forces/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Erschaudern lassen einen die anderen Videos. Jene nämlich, die aus Israel um die Welt gingen und die die Blutspur der islamischen Killer zeigen. Ebenso fassungslos machen die Bilder aus Orten wie Berlin. Im Problembezirk Neukölln begrüßten Migranten „Allahu akbar“ gröhlend das Wüten der Hamas-Mörder. In Hamburg kam es am Rande einer Solidaritäts-Kundgebung für Israel zu Übergriffen. Es ist schwer, dafür angemessene Worte zu finden. Wer dermaßen von Hass zerfressen ist, der beweist, dass er nicht zu Deutschland gehört. Und dass er auch nicht zu Deutschland gehören will.

Integration gescheitert

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier will solche Feiern „nicht dulden“. Und Bundesjustizminister Marco Buschmann schreibt bei X (früher: Twitter): „Wer den Hamas-Terror feiert, gehört nicht zu uns.“ Deutschland und Israel seien fest miteinander verbunden. „Die Existenz und die Sicherheit Israels sind deutsche Staatsräson.“ Auch ohne das politische Gerede von der Staatsräson muss klar sein: Die Integration dieser Menschen ist auf ganzer Linie gescheitert. Nun ist es an der Politik, die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen. Ob sie es tatsächlich tun wird? Das ist allerdings mehr als fraglich.

Frank Brettemer

Wie hier im Iran kam es auch in Berlin-Neukölln zu Kundgebungen, auf denen der Hamas-Terror gerechtfertigt oder gar begrüßt wurde. (Foto: ناصر جعفری/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)
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Kommentar

Keine Chance für die politische Alternative

„Die Wahl war frei, aber nicht fair.“ Dieses Urteil hört man von westlichen Politikern nicht selten, wenn eine ihr tendenziell missliebige Regierung durch einen Urnengang im Amt bestätigt wurde. Im Frühjahr war das bei der Wiederwahl des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan der Fall. „Die Türkei ist seit spätestens zehn Jahren auf dem Weg in ein autoritäres System. Die Wahlen mögen frei gewesen sein, aber sie waren eben nicht fair“, monierte der SPD-Politiker Michael Roth, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag.

Die Tatsache, dass eine Wahl frei ist, bedeutet noch nicht, dass sie auch fair ist. (Foto: Bayernnachrichten.de / Alexander Hauk / www.alexander-hauk.de / Attribution via Wikimedia Commons)

Auch für den anstehenden Urnengang in Polen befürchten westliche Medien wie die FAZ: Er wird frei sein, aber nicht fair. Am 15. Oktober wählen rund 30 Millionen Polen ein neues Parlament. Die regierende nationalkonservative und russland-kritische PiS-Partei „Recht und Gerechtigkeit“ des früheren polnischen Regierungschefs Jarosław Kaczyński kann mit ihrem Bündnis „Vereinigte Rechte“ auf einen klaren Wahlsieg hoffen. Die meisten Umfragen sehen die „Vereinigte Rechte“ bei deutlich über 30 Prozent. Und teils weit vor der liberal-konservativen Bürgerkoalition um den früheren Ministerpräsidenten Donald Tusk.

Opposition kleinhalten

Ganz zu schweigen von Ungarn, dem „Enfant terrible“ der Europäischen Union. Politische Gegner werfen Regierungschef Viktor Orbán schon seit Jahren vor, die Opposition kleinzuhalten und Menschenrechte nicht zu respektieren. Vor allem gemeint sind damit die Rechte von Homo– und Transsexuellen. Die werden im christlichen „Magyarország“ (etwa: Staat/Land Ungarn) zwar nicht diskriminiert. Öffentlich Propaganda für ihre Sache machen dürfen sie aber auch nicht. In jüngster Zeit ist zu den Vorwürfen, die Medien in Ungarn seien nicht frei, noch ein weiterer Punkt gekommen, der der EU nicht passt: Orbáns Russland-Nähe.

Frei, aber nicht fair. Wer so urteilt, der meint, die Freiheit, sein Kreuzchen bei einer Partei oder einem Kandidaten seiner Wahl machen zu dürfen, sei nicht wesentlich eingeschränkt. Zugleich fehle es aber an echter Chancengleichheit. Dann nämlich, wenn die Herrschenden oder die von ihnen unterstützten Bewerber die Macht des Staatsapparats und der einflussreichen Medien auf ihrer Seite haben. Und dadurch einen Vorteil erlangen, den ein Kandidat der Opposition niemals haben würde. Das sei im Frühjahr in der Türkei der Fall gewesen, sagen Kritiker. Das sei seit Jahren in Ungarn der Fall. Und in Polen wird es wohl ebenso laufen.

Jörg Prophet unterlag in der Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters von Nordhausen Amtsinhaber Kai Buchmann. (Foto: AfD Nordhausen / CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Die Wahl war frei, aber nicht fair. Das dürfte demnach auch auf die gestrige Stichwahl um das Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Nordhausen in Thüringen gelten. AfD-Kandidat Jörg Prophet gewann den ersten Wahlgang mit gut 42 Prozent der Stimmen. Der amtierende OB Kai Buchmann (parteilos) kam auf nicht einmal 24 Prozent. Gestern unterlag Prophet dem Amtsinhaber trotzdem deutlich. Er gewann nur drei Prozentpunkte hinzu und landete bei 45 Prozent. Buchmann dagegen konnte seinen Stimmen-Anteil deutlich mehr als verdoppeln: auf fast 55 Prozent. Dabei hatte Prophet zu Beginn des Auszählungs-Krimis sogar noch vorne gelegen.

Wahlkampf mit unfairen Mitteln

Dem denkwürdigen Wahlabend vorausgegangen waren zwei Wochen, in denen sich der Sieger des ersten Wahlgangs nicht nur gegen den amtierenden OB zur Wehr setzen musste. Er stand auch einer faktischen politischen Einheitsfront gegenüber. Alle Parteien außer der AfD gingen mehr oder weniger offensichtlich für Buchmann in den Kampf. Obwohl der ein Disziplinar-Verfahren am Hals hat und sich Mobbing-Vorwürfen ausgesetzt sieht. Es galt, den ersten Oberbürgermeister aus den Reihen der Alternative für Deutschland um jeden Preis zu verhindern. Und damit den bislang größten Erfolg der AfD auf kommunaler Ebene. Und sei es mit unfairen Mitteln.

Auch die Leitmedien und der Verfassungsschutz fuhren schweres Geschütz gegen Prophet auf. Weil er es gewagt hatte, mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg auch von deutschen Opfern zu sprechen und neben NS-Todeslagern auch die anglo-amerikanischen Luftangriffe auf Städte wie Nordhausen als Verbrechen zu bezeichnen, warf der Deutschlandfunk ihm vor, er spreche die Sprache von Neonazis. Der Thüringer Verfassungsschutz, wurde vor dem entscheidenden zweiten Urnengang bekannt, soll den 61-Jährigen bereits vor geraumer Zeit beobachtet haben. Selbst der Leiter der Nordhauser KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora schaltete sich ein und warnte vor dem AfD-Bewerber.

Opfer der alliierten Luftangriffe auf Nordhausen im April 1945. Unmittelbar nach Kriegsende wurden die Todeszahlen auf mehr als 10.000 geschätzt. Jörg Prophet hält die Attacken auf Zivilisten für ein Verbrechen. (Foto: US Army/gem)

Im deutschen Grundgesetz heißt es in Artikel 38, die Abgeordneten des Bundestags „werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt“. Gleiches gilt für einen Bürgermeister in Thüringen. Frei dürfte der Urnengang in Nordhausen gewesen sein. Das stellte nicht einmal Jörg Prophet in Frage. Aber eine echte Chancengleichheit herrschte nicht. Der 61-jährige AfD-Kandidat hatte keine echte Chance, die Wahl zu gewinnen. Dafür hatte er zu viele Gegner. Oder um es mit den Worten von Michael Roth zu sagen: „Die Wahlen mögen frei gewesen sein, aber sie waren eben nicht fair.“

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Attacken auf Christen auch im Westen

Christen gehören weltweit zu den am häufigsten in ihren Grund- und Menschenrechten eingeschränkten Menschen. Sie werden attackiert, diffamiert und diskriminiert. In zahlreichen Staaten ist die Religionsfreiheit nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Wenn überhaupt. Das geht aus dem Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ des katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ hervor. Eine Untersuchung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche bestätigt die Ergebnisse. Selbst in westlichen Ländern, wo die Glaubens- und Gewissensfreiheit Verfassungsrang haben, fällt es Christen zunehmend schwer, ihre religiösen Überzeugungen öffentlich und ungehemmt zu vertreten.

Verachtet und angegriffen

Beispiel: Flüchtlingsheime. Hier zeigte sich insbesondere auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015, dass Christen oft Asylsuchende zweiter Klasse waren. Von ihren muslimischen Heim-Genossen wurden sie teils verachtet und ausgegrenzt und mitunter sogar angegriffen. Für die nahöstliche Religions-Gemeinschaft der Jesiden gilt dasselbe. Der Terror, den diese Menschen in ihrer Heimat erlebten – er verfolgte sie bis nach Deutschland. Hinzu kommt, dass deutsche Behörden vor allem bei erst kürzlich zum Christentum konvertierten Flüchtlingen oft pauschal davon ausgehen, dass der Übertritt nur erfolgte, um die Chancen zu verbessern, bleiben zu dürfen.

Felix Nmecha (rechts) im Duell mit Jérôme Onguéné beim Champions-League-Spiel des VfL Wolfsburg gegen den FC Salzburg. (Foto: Werner100359/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Zweites Beispiel: Fußball-Nationalspieler Felix Nmecha. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters kann ohne Übertreibung zu Deutschlands besten Fußballern gezählt werden. Auch wenn das angesichts der anhaltenden Erfolgs-Flaute beim DFB-Team nicht übertrieben viel aussagen mag. Im März spielte der 22-Jährige erstmals im Trikot der A-Nationalmannschaft. Seither berücksichtigte ihn Bundestrainer Hansi Flick nicht mehr. Warum? Offenbar passt er nicht so recht ins bunte Bild der DFB-Auswahl. Nmecha ist überzeugter Christ. Im Internet macht er daraus keinen Hehl. Mitunter teilt er auch Beiträge, die die Gender-Ideologie kritisieren. Damit gilt man heutzutage schnell als trans-feindlich.

Das kostete Nmecha beinahe den Wechsel vom VfL Wolfsburg zu Fast-Meister Borussia Dortmund. Als die ersten Transfer-Gerüchte aufkamen, protestierte eine Fan-Initiative heftig. Nmecha passe nicht zu einem toleranten und offenen Club wie dem BVB, hieß es. Am Ende war den Verantwortlichen im Verein die Spielstärke des Mittelfeld-Mannes offenbar wichtiger als politische Bedenken. Am Montag unterschrieb der Jungstar bei den Dortmundern einen bis 2028 gültigen Vertrag. Nmecha, beeilten sich Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und BVB-Präsident Reinhold Lunow zu versichern, habe sie überzeugt, dass er „kein transphobes oder homophobes Gedankengut“ in sich trage. Er respektiere und liebe alle Menschen „unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung“.

Mit dem Tod bedroht

Wenn nun schon im christlich geprägten Westen Christen nicht sicher sind. Ihre Meinung nicht frei äußern können, ohne sich rechtfertigen oder erklären zu müssen. Wenn sie mitunter sogar um Leib und Leben fürchten müssen – um wie viel schwieriger muss dann erst das Leben als Christ in Ländern sein, für die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht einmal ein Lippenbekenntnis ist? Totalitäre Staaten wie Nordkorea, das bei der weltweiten Rangfolge fehlender Religionsfreiheit von „Kirche in Not“ stets Spitzenplätze belegt. Oder muslimische Länder wie Pakistan. Dort kommt es immer wieder zu Übergriffen auf Christen. Ein Blasphemiegesetz bedroht Nicht-Muslime, denen vorgeworfen wird, den Islam, seinen Stifter Mohammed oder den Koran herabzuwürdigen, mit Haft und sogar mit Tod.

Bei den Ausschreitungen im indischen Bundesstaat Manipur zerstörte Fahrzeuge einer kirchlichen Einrichtung. (Foto: © Kirche in Not)

Zu den Sorgenkindern in Sachen Religionsfreiheit zählt zunehmend auch Indien. Seit Anfang Mai halten nach Angaben von „Kirche in Not“ im ostindischen Bundesstaat Manipur Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten an. Das Hilfswerk vermutet dahinter einen Plan, den hinduistischen Teil der Bevölkerung im Vorfeld der kommenden Parlamentswahlen auf Kurs der Regierungspartei BJP zu bringen und die Bevölkerung zu spalten. Dies vermutet ein katholischer Bischof, der aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genannt werden möchte. „Im April 2024 wird in Indien gewählt, und so wollen die Hindu-Nationalisten die Menschen vorher terrorisieren. Sie werden Christen und Muslime unter Druck setzen und wollen dadurch die Hindus für sich gewinnen“, sagt er.

Weit über 100 Tote

Der Bundesstaat Manipur grenzt an Myanmar. Immer wieder kommt es dort zu Spannungen zwischen der mehrheitlich hinduistischen Volksgruppe der Meitei und den christlichen Kuki und Naga. Letztere werden laut „Kirche in Not“ von der Regierung als „geschützter Stamm“ anerkannt. Das bringe bestimmte Privilegien mit sich. Landbesitz zum Beispiel. Die Meitei fordern diese Privilegien nun ebenfalls für sich ein. Nach Demonstrationen Anfang Mai brachen schwere Unruhen aus. Die Zahl der Toten soll unbestätigten Angaben zufolge mittlerweile bei weit über 100 liegen. Nach Angaben der indischen Erzdiözese Imphal sind bereits mehr als eine halbe Million Menschen geflohen. 

Niedergebrannt und verwüstet wurde dieses katholische Gemeindezentrum im ostindischen Erzbistum Imphal. (Foto: © Kirche in Not)

Behörden und Medien sprechen von einem rein ethnischen Konflikt. Der Gesprächspartner von „Kirche in Not“ betont jedoch, die Ausschreitungen seien mittlerweile zu einem interreligiösen Problem geworden. „Der eigentliche Grund für den Konflikt ist die Größe der christlichen Bevölkerung. Die Hindus sind der Meinung, dass es ihnen erlaubt sein sollte, Land zu besitzen, das den Christen gehört.“ Rund 250 Kirchen wurden nach Angaben des Bistums Imphal zerstört. Auch Gotteshäuser der christlichen Minderheit unter den Meitei. „Das ist ein starkes Indiz dafür, dass es hier nicht nur um Land geht“, sagt der Bischof.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Das ungesühnte Massaker von Sivas

Am 2. Juli 1993, vor genau 30 Jahren, starben bei einem mutmaßlich islamistisch motivierten Brandanschlag im türkischen Sivas 37 Menschen. Die weitaus meisten Opfer waren Aleviten. In der Türkei gehören dieser muslimischen Glaubensgemeinschaft Schätzungen zufolge gut 15 Prozent der Bevölkerung an. Bis heute ist das Verbrechen in der zentralanatolischen Stadt ungesühnt. Weder juristisch noch politisch wurde es jemals aufgearbeitet. Das kritisiert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen scharf. Und mahnt zugleich ein Ende der Unterdrückung der alevitischen Gemeinschaft an. Auch im jüngsten Wahlkampf habe es wieder massive Hetze gegen Aleviten gegeben. 

Täter auf freiem Fuß

Der Brandanschlag von 1993 traf das Hotel Madımak. 35 der Opfer waren nach Angaben der GfbV alevitischer Herkunft, bei zwei weiteren handelte es sich um Angestellte des Hotels. „Viele der Täter sind bis heute auf freiem Fuß“, kritisieren die Göttinger Menschenrechtler. „Neun von ihnen sollen inzwischen in Deutschland leben, einige die deutsche Staatsbürgerschaft haben.“ In der Bundesrepublik leben den Angaben zufolge etwa eine Million Aleviten. In der Türkei seien sie seit Jahrzehnten Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. „Es gab immer wieder Pogrome“, heißt es von der GfbV. Allein in der Region Dersim starben 1938 etwa 70.000 Aleviten bei Übergriffen. Die Göttinger Gesellschaft rückt diese Taten in die Nähe eines Genozids. Der Grund für den Hass? Viele sunnitische Muslime betrachten ihre alevitischen Glaubensgeschwister als Häretiker.

Bei einer Demonstration in Hannover zeigen Aleviten ein Plakat mit den Porträts von 33 Künstlern, die 1993 bei dem Brandanschlag in Sivas starben. (Foto: Bernd Schwabe in Hannover/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Dem Anschlag war ein alevitisches Kulturfestival zu Ehren des alevitischen Dichters Pir Sultan Abdal vorausgegangen, der im Jahr 1550 gestorben sein soll. Zuverlässige historische Überlieferungen zu seinem Leben existieren allerdings nicht. Bei dem Festival erklärte dem Internet-Lexikon Wikipedia zufolge der Schriftsteller Aziz Nesin, er halte einen Teil der türkischen Bevölkerung für „feige und dumm“, da sie nicht den Mut hätten, für die Demokratie einzutreten. Dies soll konservative Sunniten derart provoziert haben, dass sich am 2. Juli eine aufgewühlte Menschenmenge vor jenem Hotel Madımak versammelte. Dort wohnten Aziz Nesin und andere Teilnehmer des Festivals. Die nach Schätzungen bis zu 20.000 Sunniten kamen teils direkt von ihrem Freitagsgebet.

Kein Hotel mehr

Aus der Masse der wütend protestierenden Menschen flogen Brandsätze gegen das Hotel. Das Gebäude soll im Wesentlichen aus Holz gebaut gewesen sein. So breitete sich das Feuer rasend schnell aus. Weil die wütende Menschenmenge vor dem Hotel die Fluchtwege blockierte, gelangten die Eingeschlossenen nicht ins Freie. Und verbrannten. Aziz Nesin, dem der Anschlag womöglich in erster Linie galt, überlebte mit nur leichten Verletzungen. Der Tatort ist heute kein Hotel mehr. Das Gebäude wird als Kulturzentrum genutzt. Auch eine Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags befindet sich dort. Aleviten fordern immer wieder, aus dem Kulturzentrum ein „Friedens-Museum“ zu machen. Bislang vergebens.

Das wiederhergerichtete Hotel Madımak in Sivas. (Foto: gemeinfrei)

Ebenfalls nicht erfolgreich sind alevitische Verbände mit ihrer Forderung nach einer unabhängigen Aufklärung des Anschlags. „Abgesehen von Schauprozessen gegen Einzelne ist nichts passiert“, sagt GfbV-Nahostexperte Kamal Sido. Die meisten Täter seien auf freiem Fuß. Zu den Hintermänner, „auf deren Hetze die Verbrechen zurückgehen“, zählt Sido auch den heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie hätten sich weder entschuldigt noch daraus gelernt. „Im Gegenteil: Während des letzten Wahlkampfs haben Erdoğan und seine Anhänger in vielfältiger Form massiv gegen die alevitische Minderheit gehetzt.“ Wirklich überraschend ist das nicht: Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ist selbst Alevit. 

Nicht aufgearbeitet

Wäre das Verbrechen von Sivas politisch aufgearbeitet worden, meint Kamal Sido, hätte es im Wahlkampf weniger Hetze gegen Aleviten gegeben. „Es ist unerträglich, dass Menschen in der Türkei immer noch Angst haben, sich zu ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu bekennen und offen darüber zu sprechen“, kritisiet Sido. „Eine alevitische, kurdische, armenische, jesidische, christliche oder jüdische Herkunft ist kein Verbrechen. Ein Verbrechen ist es, jemanden wegen seiner Abstammung, seiner Sprache, seines Glaubens oder seiner politischen Überzeugung zu benachteiligen oder zu verfolgen.“ Diesen Grundsatz müsse auch die Türkei respektieren.

Thomas Wolf

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Ostdeutsche: Diffamiert und missverstanden

Rund die Hälfte der Menschen in Ost- und Mitteldeutschland stimmt rechtsextremen Positionen zu. Gut sieben Prozent haben sogar ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Leipzig. In einzelnen Regionen ist der Wert noch deutlich höher. In Sachsen-Anhalt etwa beträgt er mehr als elf Prozent. Frühere Untersuchungen geben teils weit niedrigere Zahlen an. Die federführend von dem gleichen Forscher-Team durchgeführte Studie „Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten“ aus dem vergangenen Jahr 2022 etwa nennt für die neuen Bundesländer gerade einmal 2,1 Prozent Rechtsextreme.

Rechtsextreme im Westen

Laut jener Untersuchung im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung und der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung liegt der Anteil der Menschen mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“ im Westen der Bundesrepublik bei 2,9 Prozent. Also sogar höher als in Ost- und Mitteldeutschland! Zugleich stellt die Studie einen anhaltend abnehmenden Trend fest. Rechtsextremistische Ansichten gehen also seit Jahren zurück. Grundsätzlich gilt das auch für den deutschen Osten. Auch wenn die Wissenschaftler hier über die Jahre teils „deutliche Schwankungen“ feststellten: von 8,0 Prozent 2002 über 15,8 im Jahr 2012 bis hin zu den 2,1 Prozent 2022.

Ein Aufmarsch von echten Rechtsextremisten in München. (Foto: Rufus46/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Bei Detailfragen unterscheiden sich Ost und West oft nur unwesentlich. Auffällig ist allerdings, dass die Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Verfassung festgelegt ist“ 2022 in Ost- und Mitteldeutschland mit über 90 Prozent sogar mehr als zehn Prozentpunkte höher lag als in der alten Bundesrepublik. Dort waren nur rund 79 Prozent mit dem demokratischen System zufrieden. Bei der Frage nach der Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“ lagen sowohl Ost als auch West zwischen 50 und 60 Prozent.

Sinnloses Engagement

Und nun also die aktuelle Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Uni Leipzig. Mehr als sieben Prozent mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“. Dazu bewertet nicht einmal die Hälfte der befragten Ost- und Mitteldeutschen den Zustand der Demokratie hierzulande als positiv. Fast zwei Drittel halten es sogar für sinnlos, sich politisch zu engagieren. Gut drei Viertel gehen davon aus, ohnehin keinen Einfluss darauf zu haben, „was die Regierung tut“. Hinzu kommt die Schlussfolgerung, einzelnen rechtsextremen Positionen hänge rund die Hälfte der Menschen an. Etwa dem Wunsch nach einer „starken Partei“, die die „Volksgemeinschaft“ verkörpere.

Handelt es sich um echte neue Erkenntnisse der Leipziger Wissenschaftler? Hat die rechtsextremistische Einstellung zwischen Rügen und Erzgebirge wirklich so kurzfristig und so deutlich zugenommen? Innerhalb eines Jahres. Oder hat sich lediglich die Methodik der Forscher geändert? Zur Erinnerung: Die Werte für das rechtsextremistische Weltbild schwanken von Untersuchung zu Untersuchung und sind damit nur eingeschränkt deutbar. Allein die Frage, wann eine Aussage rechtsextrem ist, dürfte keineswegs allgemeingültig zu beantworten sein. Erst recht nicht in Zeiten, in denen laut Verfassungsschutz bereits das Bekenntnis zu einem ethno-kulturell verstandenen deutschen Volk als extremistisch gilt.

Mauer in den Köpfen

Und noch eine Möglichkeit besteht. Die Wissenschaftler, die an der aktuellen Studie beteiligt waren, stammen entweder aus den alten Bundesländern oder sind in einem Alter, dass sie mit Sicherheit nicht in der DDR, sondern gesamtdeutsch sozialisiert sind. Und das wiederum heißt im Wesentlichen: westdeutsch. Projizierten sie also lediglich ihre eigenen Vorurteile über ihre ost- und mitteldeutschen Landsleute in die Studie hinein? Böse Vorurteile wie jenes von „Dunkeldeutschland“? Die Mauer in den Köpfen – sie ist zwar kleiner geworden, aber auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer präsent.

Springer-Chef Mathias Döpfner (Zweiter von links) im Juni 2019 neben Verlegerin Friede Springer und dem früheren BILD-Herausgeber Kai Diekmann auf dem Dach der US-Botschaft in Berlin. Rechts im Bild: der später geschasste BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. (Foto: United States Department of State/gemeinfrei)

„Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ Dieses Pauschal-Urteil stammt von Mathias Döpfner. Es zeigt beispielhaft und anschaulich, welche Vorurteile gegen Ost- und Mitteldeutsche in westdeutschen Köpfen noch vorherrschen. Der milliardenschwere Chef des Springer-Verlags schrieb dergleichen in einer internen Nachricht, aus der die „Zeit“ zitierte. Nach massivem Protest in Politik und Medien musste Döpfner sich entschuldigen. Für die Masse der Medien und Politiker war die Sache damit erledigt. Wohlgemerkt: Medien und Politiker, die in ihrer großen Mehrheit westdeutsch geprägt sind.

Gleiches gilt für nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz und Wirtschaft sind mit Menschen aus den neuen Bundesländern besetzt. Dies rechnet der Leipziger Germanist Dirk Oschmann in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ vor. Ost- und Mitteldeutschland sind demnach massiv unterrepräsentiert. Dass dadurch ein Ungleichgewicht in der Darstellung und Wahrnehmung der Menschen im „Osten“ entsteht, dürfte kaum überraschen. Womöglich spricht dergleichen auch aus der jüngsten Leipziger Rechtsextremismus-Studie.

„Natürlich ein Nazi …“

Ein Sturm zieht seit Jahren über Millionen Ost- und Mitteldeutsche. „Fremdenfeindlich, chauvinistisch und natürlich ein Nazi“ sei der „Ossi“, treibt Oschmann die Angriffe auf die Spitze. Er selbst ist Jahrgang 1967 und stammt aus Thüringen. Die DDR hat er als Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Bezirk Erfurt miterlebt. Ab 1986 studierte er an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Oschmann ist also selbst „Ossi“ und weiß daher, wovon er spricht und schreibt. Apropos „Ossi“: Er ist dem Buch zufolge nichts als eine Erfindung von Westdeutschen, um sich von ihren ungeliebten Landsleuten aus der früheren DDR abzugrenzen.

Ja, es gibt „Nazis“ in Ost- und Mitteldeutschland. Rechtsextreme, die Demokratie und Menschenrechte ablehnen. Es gibt sie auch in Bayern, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen. Aber sie sind hier wie da weit davon entfernt, die Gesellschaft zu prägen. Denn nicht alles, was Politik, Medien oder „Antifa“-Aktivisten als rechts oder gar rechtsextrem bezeichnen, ist tatsächlich braun angehaucht. Die Wahl der nationalkonservativen AfD? – Demokratisches Recht. Die Ablehnung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete? – Pazifismus. Kritik an der Energie- und Klimaschutz-Politik der rot-grün-gelben Ampel-Koalition? – Meinungsfreiheit. Und wer Gender-Ideologie und Minderheiten-Politik zurückweist? – Der orientiert sich schlicht an biologischen Fakten.

1989 sind Mauer und Grenzanlagen gefallen, die Ost und West jahrzehntelang teilten. Die Mauer in den Köpfen aber besteht weiter. (Foto: RIA Novosti archive/image #428452/Boris Babanov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Wer das Klischee von „Dunkeldeutschland“ dennoch weiterträgt, der tut seinen Landsleuten Unrecht. Der will die Menschen in Mittel- und Ostdeutschland womöglich missverstehen. Oder sogar verletzen. Und er hat offensichtlich kein Interesse, den Bruch zu heilen, der mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer durch das Land geht. Ein Graben, den die „Doppelmoral und Heuchelei“ des Westens speist, wie Oschmann es ausdrückt. Dabei könnte das wiedervereinigte Deutschland den Graben leicht zuschütten. Wenn West und Ost besser aufeinander hören und voneinander lernen. Und wenn die Diffamierung der „Ossis“ endlich aufhört.

Frank Brettemer

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Zwangskonversion in Erdoğans Auftrag?

Islamistische Milizen, die im Auftrag der Türkei die kurdische Region Afrin im Norden Syriens kontrollieren, zwingen Angehörige religiöser Minderheiten zum Übertritt zum Islam. Das meldet die Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Die Zwangsislamisierung unter anderem der jesidischen Minderheit sei seit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Region vor fünf Jahren Gang und Gäbe. Ein neuerlicher großflächiger Einmarsch türkischer Truppen schien zuletzt immer wieder möglich.

„Nur noch sunnitische Muslime“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wolle, „dass im syrischen Grenzgebiet zur Türkei nur noch sunnitische Muslime leben dürfen. Gläubige anderer Religionen und Angehörige der kurdischen Minderheit hat er weitgehend vertreiben lassen“,sagt Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV. „Wer nicht fliehen wollte, ist seitdem einer gewaltsamen Islamisierungskampagne ausgesetzt. Nicht-Muslime werden mit dem Tod bedroht, wenn sie nicht konvertieren wollen.“

Jesidische Männer mit traditionellem Schnurrbart. Die Existenz der Minderheit im Norden Syriens ist bedroht. (Foto: Bestoun94/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

In einem Video, dessen Echtheit die GfbV verifiziert hat, ist ein syrischer Geistlicher zu sehen, der zwei Männer auffordert, einzeln das islamische Glaubensbekenntnis zu nachzusprechen. Der Geistliche ist Mitglied einer jener protürkischen Gruppen, die Afrin im Auftrag der Türkei kontrollieren. Die beiden Opfer sind nach Angaben der GfbV Jesiden aus dem Dorf Qibar, fünf Kilometer nordöstlich der Stadt Afrin.

Islam oder Tod

„Nach unseren Informationen wurden die beiden Jesiden in den vergangenen Jahren immer wieder erpresst und mit dem Tod bedroht. Nun wurden sie vor die Wahl gestellt: Islam oder Tod“, berichtet Sido. „Für die Islamisten ist das Jesidentum keine ‚Buchreligion‘. Nach einer radikalen Auslegung des Korans bleib ihnen daher nur die Wahl zwischen Konversion oder Tod.“ Nur Juden und Christen akzeptieren die Islamisten als „Buchreligionen“. Sie dürfen ihren Glauben unauffällig leben, müssen aber Schutzgelder zahlen. Jesiden hingegen genießt keinerlei Schutz.

Das Auswärtige Amt in Berlin unterstützt die „Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“. Deren Milizen sind an Zwangskonversionen zum Islam beteiligt, kritisiert die Gesellschaft für bedrohte Völker. (Foto: Manfred Brückels/CC BY-SA 2.0 DE via Wikimedia Commons)

In diesem Zusammenhang wiederholt die Gesellschaft für bedrohte Völker ihre Forderung an die Bundesregierung, die politische, diplomatische und vor allem finanzielle Unterstützung der Islamisten in Afrin und ganz Syrien einzustellen. Die Milizen sind nach Angaben der GfbV der bewaffnete Arm der protürkischen syrischen Oppositionsgruppe „Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“. Diese Gruppe wird vom Auswärtigen Amt unterstützt

Mörderischer Feldzug

„Spätestens seit der Anerkennung des Völkermords an den Jesiden durch den Deutschen Bundestag hätte das Auswärtige Amt in Berlin seine Unterstützung für die Islamisten einstellen müssen. Denn der von Erdoğan angestachelte mörderische Feldzug des sogenannten ‚Islamischen Staates‘ begann 2013 in Afrin, wo islamistische Milizen die ersten jesidischen Dörfer angriffen“, erinnert Sido.

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Terror gegen Jesiden ist jetzt Völkermord

Kürzlich hat der Bundestag den Holodomor, den Hungertod von Millionen Menschen in der Ukraine in den frühen 1930er Jahren, als Völkermord anerkannt. Sowjet-Führer Josef Stalin habe demnach eine in großen Teilen der Sowjetunion grassierende Hungersnot gezielt gegen die Menschen in der Ukraine gerichtet. Kritiker sehen in der Resolution eine rein politische Entscheidung, von der westlichen Solidarität für die angegriffene Ukraine diktiert. Auf viel Zustimmung stößt dagegen der heutige Bundestagsbeschluss, der nun auch die Morde, Massaker und Gräueltaten an Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Jesiden im Nahen Osten als Genozid anerkennt.

Irakische Jesiden in traditionellen Gewändern. (Foto: Hamdi Hamad/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

„Die Anerkennung des Völkermordes durch den Bundestag ist ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung der Gräueltaten“, erklärt Tabea Giesecke, Referentin für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). „Die jesidische Community hat diesen Schritt durch ihre unermüdliche Arbeit ermöglicht. Ihren Kampf um Gerechtigkeit werden wir weiterhin unterstützen.“

Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen

Nun sei es wichtig, auf die Details des Beschlusses zu schauen: „Mit der Anerkennung des Genozids ist die Arbeit nicht getan. Jetzt müssen konkrete Maßnahmen folgen, die die Überlebenden unterstützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen“, fordert Giesecke. „Die jesidische Gemeinschaft muss unmittelbar an allen Entscheidungen über ihre Zukunft und die ihrer Heimatregion Sindschar beteiligt werden. Nur dann wird sich die Lage der Überlebenden wirklich verbessern.“

Jesidische Flüchtlinge in einem Lager im Nordosten Syriens 2014. Der Vormarsch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ im Irak hatte sie zuvor zur Flucht gezwungen. (Foto: DFID – UK Department for International Development/Rachel Unkovic/International Rescue Committee/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Verantwortlich für den Genozid an der jesidischen Bevölkerung des Irak 2014 ist die dschihadistische Terrormiliz „Islamischer Staat“. Sie gilt im Nahen Osten seit einer Reihe von Gegenoffensiven im Irak und in Syrien zwar als weitgehend besiegt, macht aber dennoch immer wieder von sich reden. Nach Angaben der GfbV dauert der Genozid bis heute an. Viele jesidische Frauen seien immer noch verschwunden oder in Gefangenschaft. Zahlreiche Vertriebene sitzen demnach ohne Perspektive in Flüchtlingslagern fest, weil ihre Wohnhäuser zerstört wurden und die irakische Region Sindschar weiterhin unsicher ist. Kollektive und individuelle Traumata seien kaum aufgearbeitet worden.

Parteiübergreifende Zustimmung

Den Antrag, mit dem der Bundestag den Genozid anerkennt, haben SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU gemeinsam eingereicht. Zugestimmt haben ihm alle Fraktionen. Der Antrag geht auf eine Petition aus der jesidischen Diasporagemeinschaft zurück. Im Februar vergangenen Jahres wurde er laut GfbV vor dem Petitionsausschuss des Bundestags und im Juni 2022 im Menschenrechtsausschuss diskutiert. Die 50.000 Unterschriften für die Petition sammelten demnach Ehrenamtliche, darunter viele jesidische Jugendliche. Der Menschenrechtsausschuss hatte dem Parlament die Anerkennung als Genozid empfohlen.

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Eine Minderheit terrorisiert die Mehrheit

Es sind Szenen, die man ansonsten nur aus Kriegsgebieten kennt. Überall knallt es, es raucht und brennt. Menschen rennen geduckt umher, suchen verzweifelt Deckung. Der Beschuss geschah nicht an der Front in der Ukraine, nicht im Jemen oder in Syrien. Die Bilder, die im Internet kursieren und die brennende Fahrzeuge und Raketen zeigen, die auf belebten Straßen explodieren, stammen dem Vernehmen nach aus Berlin. Aus der deutschen Hauptstadt. Aus der Silvesternacht. Nun steht erneut ein generelles Böllerverbot im Raum. Und damit das Ende einer Tradition, die den Jahreswechsel seit Generationen prägt.

„Gezielt gegen Menschen“

Pyrotechnik sei „ganz gezielt als Waffe gegen Menschen eingesetzt“ worden, kritisiert Stephan Weh, Berliner Landesvorsitzender der Gewerkschaft der Polizei. Und Jürgen Resch beklagt: „Unsere Befürchtungen wurden von der Realität noch übertroffen.“ Die Deutsche Umwelthilfe (DUH), deren Geschäftsführer Resch ist, hatte bereits zuvor ein bundesweites Böllerverbot gefordert. Durch die jetzigen Exzesse sieht sie sich bestätigt. Bei ihrer Forderung beruft sich die DUH auf eine Umfrage, wonach im Oktober eine knappe Mehrheit von 53 Prozent der Befragten ein Verbot des privaten Feuerwerks begrüßt hatten.

Nicht überall verlief der Jahreswechsel zum neuen Jahr 2023 friedlich. In Berlin erinnerten manche Straßen einem Kriegsgebiet. (Foto: Pixabay)

Dass der jüngste Jahreswechsel wieder lauter und explosiver werden würde, war dennoch erwartbar gewesen. Nach der durch Corona-Maßnahmen erzwungenen relativen Ruhe der Silvesternächte 2020 und 2021 haben die Deutschen ihre Lust an Raketen, Knallerbsen und Böllern diesmal wiederentdeckt. Allen Umfragen zum Trotz. Mancherorts waren die explosiven Silvester-Artikel schnell ausverkauft. Und das, obwohl die Kunden teils deutlich tiefer in die Tasche greifen mussten als vor Pandemie und Rekord-Inflation.

Eine Art Kriegszustand

Schwere Verletzungen wie abgerissene Hände und entstellte Gesichter kommen an Silvester immer wieder vor. Der Jugendliche, der sich in Leipzig beim Einsatz von Pyrotechnik so schwer verletzte, dass er im Krankenhaus starb, war beileibe nicht der erste Tote, der am Ausgang des Jahres zu beklagen ist. So schlimm wie diesmal aber war es Medienberichten zufolge noch nie. Und nirgends war die Nacht zum 1. Januar offenbar so schlimm wie in Berlin. Statt unbeschwerter Feierlaune prägte manchen Straßenzug in der Hauptstadt eine Art Kriegszustand. Mehr als 30 Einsatzkräfte wurden verletzt.

Jürgen Resch ist einer von drei Geschäftsführern der Deutschen Umwelthilfe. (Foto: DUH/Steffen Holzmann)

„Es kann nicht sein, dass unsere Leute gefährdet werden, fast überfahren werden, und hinterher wird es als Bagatelldelikt dargestellt“, beklagt Karl-Heinz Banse, Präsident des Deutschen Feuerwehr-Verbands. Randalierer hatten in Berlin nicht nur Polizeibeamte angegriffen, sondern auch Feuerwehr-Leute und Sanitäter attackiert. Mit Raketen, aber auch mit Bierkisten, Knüppeln und Steinen. Deutschland habe „eine Aggressivität in einer noch nie dagewesenen Form“ erlebt, sagt DUH-Chef Jürgen Resch. Und begründet damit seine Forderung nach einem totalen Feuerwerk-Verbot.

Gewalttätige Minderheit

Tatsächlich könnte das Abhilfe schaffen. Ohne Raketen und Böller kein Beschuss von Polizei und Rettungskräften. So die vordergründig bestechende Logik der DUH. Dass das eigentliche Problem ein anderes ist, macht Resch selbst deutlich – vielleicht unbeabsichtigt. „Es ist eine Minderheit, die die Silvesternacht ausnutzt und mit Pyrotechnik die große Mehrheit terrorisiert“, sagt er. Welchem Milieu die Silvester-„Terroristen“ entstammen, ist ein offenes Geheimnis. Dies auch auszusprechen, ist allerdings politisch nicht opportun.

Da ist es einfacher, ein unterschiedsloses Verbot des privaten Feuerwerks zu fordern. Dies würde zwar auch die gewalttätige Minderheit treffen. Aber eben auch die „große Mehrheit“, die sich nichts zu schulden hat kommen lassen. Die einfach nur ihre Silvester-Feier genießen will. Und ob ein Verbot die Bereitschaft der Minderheit zur Gewalt gegen Personen und Sachen eindämmt, dürfte zumindest äußerst fraglich sein.

Thomas Wolf

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Christen in Nahost: Durch Islamisten unterdrückt

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat an das Schicksal christlicher Konvertiten in islamisch geprägten Ländern erinnert. „Das Emirat Katar, Gastgeber der Fußball-WM in der Adventszeit, finanziert und unterstützt radikal-islamistische, sunnitischen Gruppen. Diese unterdrücken, vertreiben oder ermorden überall im Nahen Osten christliche Gläubige und Angehörige anderer religiöser Minderheiten“, erklärt Kamal Sido. Er ist Nahostexperte der GfbV. „Während des Kalten Kriegs war Saudi-Arabien der wichtigste Geldgeber bewaffneter islamistischer Gruppen, Organisationen und Parteien. Diese Rolle hat nun Katar übernommen.“ Das kleine Emirat sorge für das Geld. Der türkische Staat unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan übernehme die Organisation und logistische Unterstützung der sunnitischen Islamisten weltweit.

Menschenrechte auf der Strecke

Die Erfahrungen in Afghanistan haben nach Sidos Ansicht gezeigt, wie verfehlt die Unterstützung radikaler Islamisten durch westliche Regierungen war. „Opfer dieser verantwortungslosen Politik waren vor allem christliche und andere religiöse Minderheiten, sowie unter der Mehrheitsgesellschaft insbesondere Frauen“, erinnert Sido. „Durch die aktuellen geopolitischen Konflikte mit Russland und China erfahren islamistische Staaten wie die Türkei und Katar eine Aufwertung. Westliche Regierungen sind offenbar bereit, die Unterstützung der Taliban in Afghanistan oder der Muslimbrüder in Syrien zu akzeptieren.“ Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte blieben dabei auf der Strecke. Ebenso die Glaubensfreiheit und das Recht der Muslime, ihren Glauben zu wechseln.

Im vorigen Jahr fiel die afghanische Hauptstadt Kabul wieder an die radikalislamischen Taliban. Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker meint: „Westliche Regierungen sind offenbar bereit, die Unterstützung der Taliban in Afghanistan zu akzeptieren.“(Foto: Voice of America News/gemeinfrei)

Der Iran verfolge Konvertierte massiv, kritisiert die GfbV. Viele junge Menschen suchen auch wegen der Politik des Mullah-Regimes eine religiöse Heimat im Christentum oder im altiranischen Zoroastrismus. „Während das Regime den Zoroastrismus duldet, werden konvertierte Christen brutal verfolgt“, berichtet Sido. „Ihre Gottesdienste, die meist in Privaträumen stattfinden, werden gestürmt und die Teilnehmer verhaftet.“ Im Iran gibt es viele sogenannte Hauskirchen, die nicht selten von Frauen geleitet werden. Die genaue Zahl der Hauskirchen ist unbekannt. Schätzungen zufolge gibt es mindestens 700.000 konvertierte Christen im Iran, die ihren Glauben meist im Untergrund praktizieren.

Pastoren ausgewiesen

In der Türkei wurden seit 2018 insgesamt rund 200 ausländische protestantische Pastoren und deren Familien ausgewiesen, besonders amerikanische Geistliche. Damit will die türkische Regierung nach Darstellung der GfbV die Entstehung regulärer Kirchen verhindern. Die türkischen Behörden sehen in jedem Konvertierten einen Agenten des Westens, heißt es bei der Organisation. Dies sei eine absurde Einstellung. Die Türkei gehört als NATO-Mitglied schließlich selbst zum Westen. Auch in Katar sind christliche Konvertierte besonders gefährdet. Die Behörden erkennen ihren Glaubenswechsel nicht an. Und auch die Familien setzen sie unter großen Druck, zum Islam zurückzukehren.

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Der Staatsstreich, der keiner ist

Der vermeintliche rechte Umsturz-Versuch ist die Meldung des Tages bei fast allen großen Medien. „Reichsbürger planten Staatsstreich“, titelt tagesschau.de. „Sie wollten sich bewaffnen und den Bundestag stürmen, planten einen Staatsstreich“, heißt es beim ZDF. Bei der Süddeutschen Zeitung liest man von „52 Männern und Frauen, die einen Staatsstreich geplant haben sollen“. Auch die renommierte Frankfurter Allgemeine schreibt vom „Staatsstreich“. In Internetdiskussionen und Telegram-Kanälen sieht man diese Meldungen kritisch. Man glaubt an eine Inszenierung, nicht an einen drohenden Umsturz.

Mehr als Sandkasten-Spiele?

Was die Gruppe von ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee der DDR, von Ärzten, Unternehmern und Politikern rund um den Frankfurter Adligen Heinrich Reuß tatsächlich geplant hat, lässt sich im Moment nicht beantworten. Waren die sinistren Pläne mehr als Sandkasten-Spiele und aus dem Ruder gelaufene Polit-Diskussionen bei Telegram? Drohte der verfassungsmäßigen Staatsordnung der Bundesrepublik von jenen „Reichsbürgern“ wirklich eine Gefahr? Sollte der Bundestag tatsächlich gestürmt und Reuß zum Regenten eines erneuerten Deutschen Reichs erhoben werden?

Die deutsche Flagge auf dem Kopf. So soll sie in Reichsbürger-Kreisen Verwendung finden. Andere benutzen Schwarz-Weiß-Rot, die alten Farben des Kaiserreichs.

Eines ist bei aller Ungewissheit klar: Ein Staatsstreich war der vermeintliche Umsturz-Versuch nicht. Das ist keine strafrechtliche Frage, sondern eine der Begrifflichkeiten. Traditionell unterscheidet die deutsche Sprache den Staatsstreich vom Putsch. Während letzterer von nachrangigen Aufrührern (etwa Offizieren der Armee) durchgeführt wird, geht der Staatsstreich von den Herrschenden aus. Das muss nicht notwendigerweise das Staatsoberhaupt sein. Denkbar wäre auch die federführende Beteiligung etwa eines Ministers. Kommt der Umsturz als Teil einer Massenbewegung aus dem Volk, spricht man von Revolution.

Gegenteil eines Staatsstreichs

Der Duden gibt in seiner Online-Ausgabe als Bedeutung von Putsch an: „von einer kleineren Gruppe (von Militärs) durchgeführter Umsturz(versuch) zur Übernahme der Staatsgewalt“. Ein Staatsstreich dagegen ist demnach ein „gewaltsamer Umsturz durch etablierte Träger hoher staatlicher Funktionen“. Dem „Politiklexikon“ von Klaus Schubert und Martina Klein gilt der Putsch sogar regelrecht als Gegenteil eines Staatsstreichs. Diese klare begriffliche Trennung verschwimmt jedoch zusehends. Gerade Journalisten der großen Medienhäuser nutzen beide Ausdrücke mittlerweile offenbar synonym.

Das mag mit daran liegen, dass sich der Putsch nicht immer klar vom Staatsstreich trennen lässt. So könnte die gemeinhin als Putsch bezeichnete Umsturz in Chile am 11. September 1973 auch ein Staatsstreich gewesen sein. Putschisten-Chef Augusto Pinochet war schließlich kurz zuvor zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt worden. Er hatte also ein hohes Amt in der Regierung. Eindeutig ein Putsch war dagegen der gescheiterte Umsturzversuch der noch jungen Nazi-Bewegung 1923 in München, der Hitlerputsch.

Chiles Putschisten-Führer Augusto Pinochet (mit Schärpe). Zum Zeitpunkt seines Putschs 1973 war er Oberbefehlshaber des Heeres. (Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile/CC BY-SA 3.0 CL via Wikimedia Commons)

Möglicherweise liegt dem zunehmenden Gebrauch des Begriffs Staatsstreich für Putsch auch ein verdeckter Anglizismus zugrunde. Im Englischen kann das aus dem Französischen stammende „Coup d’état“ nämlich sowohl für den Putsch (von unten) als auch den Staatsstreich (von oben) stehen. Die aktuelle Reichsbürger-Revolte aber ist weit entfernt von einem Staatsstreich. Es sei denn, sie hätte hochrangige Regierungsvertreter in ihren Unterstützer-Reihen. Das aber wollen Tagesschau, Süddeutsche und Co. durch den Begriff Staatsstreich sicherlich nicht andeuten.

Das Reich ist nicht untergegangen

Die sogenannten Reichsbürger sind eine heterogene Gruppe von nur teilweise rechtsgerichteten Menschen. Der Mehrheit von ihnen gemein dürfte sein, dass sie in der Bundesrepublik kein souveränes Land sehen und von der fortdauernden Existenz des Deutschen Reichs ausgehen. Manche Reichsbürger-Gruppierungen geben eigene (Pseudo-)Pässe heraus. Immerhin in einem Punkt liegen sie nicht falsch: Das Deutsche Reich ist nicht untergegangen. Nach herrschender Lehre ist es nämlich mit der Bundesrepublik identisch.

Thomas Wolf