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Die Deutschen flüchten vor der Realität

Die Deutschen ziehen sich angesichts der zahlreichen Krisen der Gegenwart ins Private zurück. Das ist das Ergebnis einer tiefenpsychologischen Studie und einer repräsentativen Umfrage des Kölner Rheingold-Instituts im Auftrag der Düsseldorfer Identity Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie. Die Erkenntnisse der Studie könne man als dramatisch bezeichnen, sagt Paul J. Kohtes, Gründer und Vorsitzender der Identity Foundation. Eine tiefe Resignation bedrohe unser nationales Zusammenleben. „Wir sehen zu, wie ein ganzes Land vor der Wirklichkeit in Deckung geht, während sich die Verantwortlichen in der Berliner Politik in klein-klein verheddern.“

Zwischen Klimawandel und Krieg

„Festgefahren zwischen Klimawandel und Krieg ist ein Großteil der Bevölkerung mit Blick auf Politik und Gesellschaft desillusioniert und reagiert auf die gespürte Aussichtslosigkeit mit einer Flucht ins private Glück“, heißt es von der Stiftung. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland, ergab die Befragung von 1000 repräsentativ ausgewählten Teilnehmern im Juni, hat kein Interesse mehr an Nachrichten und kein Vertrauen in die Politik. Um die allgegenwärtigen Krisen zu verdrängen, ziehen sich die Deutschen demnach in ein „wehrhaftes Schneckenhaus“ zurück. Zuversicht finden die Menschen im privaten Umfeld. Mit Blick auf Politik und Weltgeschehen herrsche dagegen eine „diffuse Endzeit- und Einbruchsstimmung“.

Die eigenen vier Wände werden für Millionen Deutsche zunehmend zum wichtigsten Bezugspunkt. Mit Politik und Weltgeschehen möchten viele nichts mehr zu tun haben. (Foto: Pixabay)

„Die Wucht der Krisen ist für die Menschen schwer auszuhalten“, liest man in den Ergebnissen der Studie, die mit „Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ überschrieben ist. „Durch die starke Verdrängung werden sich die Themen nicht konsequent vor Augen geführt und verlieren ihre Wucht.“ Ob vermeintlich drohende Klima-Katastrophe, der anhaltende Krieg in der Ukraine, die daraus resultierende Energie-Krise, die Talfahrt der deutschen Wirtschaft oder politische Radikalisierung – viele Deutsche erleben die Situation um sich herum als angespannt und feindselig. „Für viele wird mehr Aggressivität im Miteinander spürbar.“ Von dem Gefühl von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung „wie in den Anfängen der Corona-Zeit“ sei kaum etwas geblieben.

Gefahr für die Demokratie

Vielen der Befragten drängen sich Ohnmachtsgefühle auf. Darunter leidet auch das Vertrauen in die Demokratie. „Die aktuellen Herausforderungen werden als so groß und schwierig empfunden, dass in Frage gestellt wird, ob unsere Demokratie diesen standhalten kann“, fassen die Macher der Studie zusammen. Es bestehe die Angst, dass diktatorische Strukturen sich etablieren und das demokratische Wertesystem verloren geht. „Politische Radikalisierungen von rechts und links werden mit Sorge beobachtet. Der Wille zu Kompromissen fehlt, wodurch das Gefühl der Spaltung weiter wächst.“

Um ihr Heim in eine Wohlfühloase zu verwandeln, in der man Ruhe vor politischen Nachrichten hat, packen die Deutschen tatkräftig an. Mehr als 90 Prozent denken ans Renovieren oder zumindest ans Aufräumen. (Foto: Pixabay)

Der Rückzug ins Private geht den Erkenntnissen des Forscher-Teams um Anna Brand mit der Schaffung von Wohlfühloasen einher. 93 Prozent der Menschen verschönern demnach das eigene Zuhause, räumen auf, dekorieren, renovieren. 76 Prozent gehen auf Reisen, um so gewissermaßen dem tristen Alltag entfliehen zu können. Immerhin noch 56 Prozent der Befragten denken darüber nach, Deutschland zu verlassen und sich in einem anderen Land anzusiedeln. „Auch die Natur dient als Rückzugsort, in der Ruhe und Trost vom Alltag erfahren wird.“

Freunde geben Zuversicht

Gleichzeitig finden die Deutschen in „engen sozialen Kreise aus Gleichgesinnten“ Halt. „Meine Freunde geben mir viel Zuversicht. Wenn wir uns am Wochenende treffen und etwas trinken gehen, dann haben wir einfach nur Spaß. Da gibt es dann keine schlechten Nachrichten und man denkt, irgendwie wird das schon alles werden“, zitiert die Studie den 29-jährigen Thomas. Der 49-jährigen Anja bietet die Familie Stabilität in herausfordernden Zeiten. „In meiner kleinen Familie tanke ich auf. Da habe ich Gefühle von Rückhalt und Verlässlichkeit. Es ist ein schönes Gefühl, zusammen Dinge durchzustehen, auch wenn die Zeiten schwieriger sind.“

1848 wurde der Drang zur Freiheit für die Deutschen unerträglich. Sie wehrten sich gewaltsam gegen die Willkür der Fürsten. (Foto: gemeinfrei)

Dass die Deutschen sich ins Private zurückziehen, ist keine neue Entwicklung. In Krisenzeiten war dies immer wieder der Fall. Klassisches Beispiel ist die Epoche des Biedermeier. Der Begriff bezeichnet die Zeit nach dem Ende des Wiener Kongresses 1815, der Europa nach dem Sieg über Napoleon neu ordnete. Der nationale Befreiungskampf des deutschen Volkes gegen die französische Fremdherrschaft war von Erfolg gekrönt. Viele erhofften sich nun einen politischen Neuanfang in einem freien und geeinten Deutschland. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Auf dem Kongress setzte sich die konservative Reaktion der Fürsten durch.

Rigides Polizei-System

Statt Einheit, Freiheit und Demokratie bekam das Land den Deutschen Bund als lockere Vereinigung der Fürstentümer und freien Städte. Und statt Meinungs- und Pressefreiheit etablierte die Obrigkeit ein rigides Spitzel- und Polizei-System. Wer sich gegen die Herrschaft der Fürsten auflehnte, wer Grundrechte und nationale Einheit forderte, dem drohten lange Haftstrafen. Statt sich dieser Gefahr auszusetzen, zogen sich die meisten Deutschen in den Schutz ihres Häuschens oder der Natur zurück. Erst 1848 erhoben sich die nach Freiheit verlangenden Massen unter den deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold und erkämpften die erste gesamtdeutsche demokratische Verfassung.

Nicht nur die Biedermeier-Epoche, den sogenannten Vormärz, zeichnet ein Rückzug ins Private aus. Auch in der DDR waren Repression und SED-Parteilinie besser zu ertragen, wenn man sich nicht politisch äußerte. In besonderem Maße gilt das für die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur. Der Rückzug ins Private, in die eigenen vier Wände, in die Familie, war die einzige Möglichkeit des Widerstands gegen die zunehmend radikale Ideologie und brutale Gewaltherrschaft. Sich der verordneten „Volksgemeinschaft“ verweigern, ohne offen dagegen zu sein. Mehr Widerspruch gegen die braunen Herren wäre ohne Lebensgefahr kaum möglich gewesen.

Der Münchner Bürgerbräukeller am Tag nach dem Anschlag vom 8. November 1939. Weil Adolf Hitler die Veranstaltung früher als geplant verließ, entging der NS-„Führer“ dem Attentat. (Foto: Bundesarchiv / Bild 183-E12329 / Wagner / CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Den Weg in den aktiven gewaltsamen Widerstand gingen nur wenige. Ein Georg Elser zum Beispiel. Der linksgerichtete Württemberger verübte am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller ein Sprengstoff-Attentat auf Adolf Hitler. Es scheiterte knapp, da der „Führer“ den Ort bereits vor der Explosion verlassen hatte. Oder ein patriotischer Offizier wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Sein Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 brachte nationalgesinnte Konservative, Liberale und linke Nazi-Gegner zusammen. Sie einte die patriotische Sorge um Deutschland, das sie von einem verbrecherischen Regime befreien wollten, dessen Politik geradewegs in den Untergang führte.

Mit dem Leben bezahlt

Stauffenberg und zahlreiche seiner Mitverschwörer hatten die NS-Herrschaft zunächst noch begrüßt, sich aber von der immer offener zutage tretenden Politik gegen den Frieden und die Interessen des deutschen Volkes abgewandt. Stauffenbergs Sprengstoff-Attentat auf Hitler scheiterte wie jener Georg Elsers. Und wie jener bezahlte der schwäbische Offizier die Tat mit dem Leben. Der Umsturz-Plan „Unternehmen Walküre“ lief zwar trotz des erfolglosen Anschlags an, blieb aber in den Anfängen stecken. Noch in der Nacht nach dem Attentat in Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze“ in Ostpreußen wurden die Haupt-Verschwörer um Stauffenberg und Generaloberst Ludwig Beck in Berlin hingerichtet.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (ganz links) am 15. Juli 1944 in Adolf Hitlers Hauptquartier Wolfsschanze, wenige Tage vor dem Attentat auf den „Führer“. (Foto: Bundesarchiv / Bild 146-1984-079-02 / CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Elser oder Stauffenberg genügte der stille Widerspruch nicht. Es reichte ihnen nicht, einfach bloß nicht mitzumachen. Sich zurückzuhalten. Oder ihr privates Glück zu suchen, während rings um sie herum alles in Scherben fällt. Die übergroße Mehrheit der Deutschen hatte diesen Mut eines Elser oder eines Stauffenberg nicht. Zumindest nicht in der Nazi-Zeit. Dafür rund 100 Jahre früher, als sich die Deutschen in ihrer Revolution gegen Fürsten-Tyrannei und Unterdrückung auflehnten. Und 1989, als Millionen Ost- und Mitteldeutsche die Krise ihres Landes, die Lügen der Medien und die Herrschaft ihrer Polit-Kaste satt hatten. Und ihr System der Einheits-Meinung und der Gängelung hinwegfegten.

Thomas Wolf

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Das ungesühnte Massaker von Sivas

Am 2. Juli 1993, vor genau 30 Jahren, starben bei einem mutmaßlich islamistisch motivierten Brandanschlag im türkischen Sivas 37 Menschen. Die weitaus meisten Opfer waren Aleviten. In der Türkei gehören dieser muslimischen Glaubensgemeinschaft Schätzungen zufolge gut 15 Prozent der Bevölkerung an. Bis heute ist das Verbrechen in der zentralanatolischen Stadt ungesühnt. Weder juristisch noch politisch wurde es jemals aufgearbeitet. Das kritisiert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen scharf. Und mahnt zugleich ein Ende der Unterdrückung der alevitischen Gemeinschaft an. Auch im jüngsten Wahlkampf habe es wieder massive Hetze gegen Aleviten gegeben. 

Täter auf freiem Fuß

Der Brandanschlag von 1993 traf das Hotel Madımak. 35 der Opfer waren nach Angaben der GfbV alevitischer Herkunft, bei zwei weiteren handelte es sich um Angestellte des Hotels. „Viele der Täter sind bis heute auf freiem Fuß“, kritisieren die Göttinger Menschenrechtler. „Neun von ihnen sollen inzwischen in Deutschland leben, einige die deutsche Staatsbürgerschaft haben.“ In der Bundesrepublik leben den Angaben zufolge etwa eine Million Aleviten. In der Türkei seien sie seit Jahrzehnten Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. „Es gab immer wieder Pogrome“, heißt es von der GfbV. Allein in der Region Dersim starben 1938 etwa 70.000 Aleviten bei Übergriffen. Die Göttinger Gesellschaft rückt diese Taten in die Nähe eines Genozids. Der Grund für den Hass? Viele sunnitische Muslime betrachten ihre alevitischen Glaubensgeschwister als Häretiker.

Bei einer Demonstration in Hannover zeigen Aleviten ein Plakat mit den Porträts von 33 Künstlern, die 1993 bei dem Brandanschlag in Sivas starben. (Foto: Bernd Schwabe in Hannover/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Dem Anschlag war ein alevitisches Kulturfestival zu Ehren des alevitischen Dichters Pir Sultan Abdal vorausgegangen, der im Jahr 1550 gestorben sein soll. Zuverlässige historische Überlieferungen zu seinem Leben existieren allerdings nicht. Bei dem Festival erklärte dem Internet-Lexikon Wikipedia zufolge der Schriftsteller Aziz Nesin, er halte einen Teil der türkischen Bevölkerung für „feige und dumm“, da sie nicht den Mut hätten, für die Demokratie einzutreten. Dies soll konservative Sunniten derart provoziert haben, dass sich am 2. Juli eine aufgewühlte Menschenmenge vor jenem Hotel Madımak versammelte. Dort wohnten Aziz Nesin und andere Teilnehmer des Festivals. Die nach Schätzungen bis zu 20.000 Sunniten kamen teils direkt von ihrem Freitagsgebet.

Kein Hotel mehr

Aus der Masse der wütend protestierenden Menschen flogen Brandsätze gegen das Hotel. Das Gebäude soll im Wesentlichen aus Holz gebaut gewesen sein. So breitete sich das Feuer rasend schnell aus. Weil die wütende Menschenmenge vor dem Hotel die Fluchtwege blockierte, gelangten die Eingeschlossenen nicht ins Freie. Und verbrannten. Aziz Nesin, dem der Anschlag womöglich in erster Linie galt, überlebte mit nur leichten Verletzungen. Der Tatort ist heute kein Hotel mehr. Das Gebäude wird als Kulturzentrum genutzt. Auch eine Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags befindet sich dort. Aleviten fordern immer wieder, aus dem Kulturzentrum ein „Friedens-Museum“ zu machen. Bislang vergebens.

Das wiederhergerichtete Hotel Madımak in Sivas. (Foto: gemeinfrei)

Ebenfalls nicht erfolgreich sind alevitische Verbände mit ihrer Forderung nach einer unabhängigen Aufklärung des Anschlags. „Abgesehen von Schauprozessen gegen Einzelne ist nichts passiert“, sagt GfbV-Nahostexperte Kamal Sido. Die meisten Täter seien auf freiem Fuß. Zu den Hintermänner, „auf deren Hetze die Verbrechen zurückgehen“, zählt Sido auch den heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie hätten sich weder entschuldigt noch daraus gelernt. „Im Gegenteil: Während des letzten Wahlkampfs haben Erdoğan und seine Anhänger in vielfältiger Form massiv gegen die alevitische Minderheit gehetzt.“ Wirklich überraschend ist das nicht: Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ist selbst Alevit. 

Nicht aufgearbeitet

Wäre das Verbrechen von Sivas politisch aufgearbeitet worden, meint Kamal Sido, hätte es im Wahlkampf weniger Hetze gegen Aleviten gegeben. „Es ist unerträglich, dass Menschen in der Türkei immer noch Angst haben, sich zu ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu bekennen und offen darüber zu sprechen“, kritisiet Sido. „Eine alevitische, kurdische, armenische, jesidische, christliche oder jüdische Herkunft ist kein Verbrechen. Ein Verbrechen ist es, jemanden wegen seiner Abstammung, seiner Sprache, seines Glaubens oder seiner politischen Überzeugung zu benachteiligen oder zu verfolgen.“ Diesen Grundsatz müsse auch die Türkei respektieren.

Thomas Wolf

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Tödliche Kollision überm Bodensee

Mehr als 70 Tote, auseinandergerissene Familien, eine Ferienregion in Schockstarre und ein Schrecken, der mit der Katastrophe nicht endete. Am 1. Juli 2002 kollidierten über dem Bodensee zwei Flugzeuge. Niemand an Bord überlebte. Nahe der badischen Stadt Überlingen, wo die Trümmer der zerstörten Maschinen auf die Erde fielen, erinnern zwei Gedenkstätten an die Opfer der Tragödie. Es war das schlimmste Unglück in der bundesdeutschen Luftfahrt-Geschichte. Lediglich der Absturz einer Aeroflot-Maschine 1986 in Ost-Berlin und die Flugzeug-Katastrophe von Königs Wusterhausen 1972 in der damaligen DDR forderten mehr Todesopfer.

Nacht zum 2. Juli 2002

Wie schon im vergangenen Jahr, so steht das Gedenken auch 21 Jahre nach dem Unglück im Schatten des Kriegs in der Ukraine. Ein Unglück, das in der Nacht auf den 2. Juli 2002 seinen Lauf nahm. Für Fluglotse Peter Nielsen, Flugverkehrsleiter bei der Schweizer Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, war es zunächst ein Abend wie unzählige zuvor. Gegen 23.20 Uhr meldet sich DHL-Flug 611 aus Bergamo bei Skyguide an. Als Bezirkskontrollstelle ist das Schweizer Unternehmen mit der Flugsicherung im äußersten Süden Baden-Württembergs betraut. Später sollte das Landgericht Konstanz dies als rechtswidrig verurteilen.

DHL-Flug 611 aus Bergamo steuert direkt auf die Tupolew der Bashkirian Airlines zu. (Foto: Anynobody/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Auf Anfrage von DHL-Kapitän Paul Phillips gestattet Nielsen der Frachtmaschine einen Anstieg auf rund elf Kilometer. Dass sich auf derselben Höhe ein anderes Flugzeug nähert, bemerkt er nicht. Es ist eine Tupolew der russischen Gesellschaft Bashkirian Airlines. An Bord von Flug 2937 befinden sich 69 Menschen. Die meisten von ihnen sind Schulkinder aus der russischen Republik Baschkortostan rund um Ufa. Weil der zweite Fluglotse Pause hat, muss Nielsen zwei Radarschirme beaufsichtigen. Und ist einen Moment abgelenkt. Als er die gefährlichen Flugbewegungen erkennt, befiehlt er der Tupolew sofort, in den Sinkflug zu gehen. Nahezu zeitgleich ordnet an Bord das Kollisionswarnsystem den Steigflug an.

Bashkirian-Pilot Alexander Gross und seine Cockpit-Crew sind irritiert und diskutieren die Anweisung. Schließlich gehorchen sie dem Fluglotsen. DHL-Kapitän Phillips folgt derweil der Anweisung seines Bord-Warnsystems und geht mit der Boeing ebenfalls in den Sinkflug. Beide Maschinen befinden sich nun erst recht auf Kollisionskurs! Als Gross ein Ausweichmanöver beginnt, ist es zu spät. Um 23.35 Uhr zertrümmert die DHL-Maschine den Rumpf der Tupolew und lässt sie nördlich von Überlingen abstürzen. Die Boeing trudelt noch ein paar Kilometer durch die Luft und kracht bei Taisersdorf in einen Wald.

Kinder aus Russland

Alle 71 Menschen an Bord sterben. Auch die 49 Kinder aus Baschkortostan. Die Schüler, die bei dem Unglück zu Tode kommen, waren auf dem Weg nach Barcelona zu einer Ferienfreizeit. Daran hätten sie als Belohnung für herausragende schulische Leistungen teilnehmen dürfen. Weil ihr Bus den Moskauer Flughafen zu spät erreichte, waren sie gezwungen, auf die Unglücksmaschine umzubuchen. Ihre Familien sollten die Kinder nie mehr wiedersehen. Manche der Angehörigen zerbrachen an der Schreckensnachricht aus Deutschland. So wie Witali Kalojew, der bei Überlingen seine Frau und zwei Kinder verlor. Für ihn ist Fluglotse Peter Nielsen ein Mörder.

Ein Fluglotse der Schweizer Flugsicherung Skyguide im Kontrollturm des Flughafens Zürich. (Foto: Petar Marjanovic/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Und so endet das Sterben nicht in jener Nacht zum 2. Juli 2002. Nielsen sollte zum 72. Opfer der Tragödie werden. Knapp zwei Jahre nach dem Unglück. Obwohl technische Probleme zu der Kollision beitrugen, gibt Witali Kalojew dem diensthabenden Fluglotsen die Schuld. Gerade einmal vier Jahre alt war Kalojews Tochter Diana, als sie bei Überlingen aus dem Leben gerissen wurde – das jüngste Opfer des Unglücks. Noch während die Staatsanwaltschaft in der Schweiz wegen fahrlässiger Tötung gegen Nielsen ermittelt, lauert Kalojew dem 36-Jährigen im Februar 2004 auf und ersticht ihn.

Technische Probleme

Zwar trägt Nielsen eine Mitverantwortung für die Kollision. Doch versagt hat auch die Technik. Bei Skyguide funktionierten an jenem Abend die Telefone nicht. Und auch das bodengestützte Warnsystem, das die Gefahr von Kollisionen in der Luft anzeigen sollte, war außer Betrieb. Massive technische Probleme gab es auch im vergangenen Jahr wieder bei Skyguide. Mehrere Stunden lang waren im Juni 2022 in der gesamten Schweiz weder Flugzeugstarts noch Landungen oder Überflüge möglich. Der gesamte Luftraum war gesperrt. Offenbar hatte es Schwierigkeiten mit der Computertechnik gegeben. Menschliche Eingriffe, etwa einen Hackerangriff, schloss Skyguide aus.

Am Ort des Absturzes der Tupolew-Maschine erinnert das Mahnmal „Die zerrissene Perlenkette“ an die Flugzeugkatastrophe vom 1. Juli 2002 und an die Opfer, darunter 49 russische Schulkinder. (Foto: privat)

Bis heute ist das Unglück über dem Bodensee in der Ferienregion nicht vergessen. Viele Menschen in Überlingen und Umgebung erinnern sich an jene Nacht, als plötzlich Explosionsgeräusche die nächtliche Stille zerrissen. Zwei Gedenkstätten halten die Erinnerung an die Katastrophe und die 71 Opfer des 1. Juli 2002 wach. Wo der Rumpf der Tupolew aufschlug und die meisten Todesopfer geborgen wurden, beim Überlinger Ortsteil Brachenreute, ziehen mächtige Edelstahlkugeln die Blicke auf sich. Wie silberne Glieder einer zerrissenen Perlenkette liegen sie am Rand eines Wäldchens, das mit Birken, Eschen und Sibirischen Zirbelkiefern bepflanzt ist.

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„Ich weigere mich, Angst zu haben“

Gut 15 Monate nach dem Einmarsch in der Ukraine hat der Krieg längst Russland selbst erreicht. Nahezu täglich steht das Land mittlerweile unter Beschuss. Vor allem der russische Grenzbezirk Belgorod nordwestlich der umkämpften Donbass-Regionen Lugansk und Donezk ist betroffen. Hier gelang kürzlich Kämpfern zweier pro-ukrainischer Milizen ein medialer Coup. Die „Legion Freiheit für Russland“ und das „Russische Freiwilligenkorps“ drangen auf russisches Territorium vor und leisteten den Sicherheitskräften mehr als 24 Stunden erbittert Widerstand. Sogar nach Einschätzung westlicher Medien stehen die beiden Milizen, die vorgeben, Russland befreien zu wollen, unter der Kontrolle von militanten Rechtsextremisten.

Kämpfer des „Russischen Freiwilligenkorps“ bei einer Pressekonferenz mit westlichen Journalisten. Führer der pro-ukrainischen Miliz ist der russische Rechtsextremist Denis Kapustin (im Bild), der eine Zeitlang in Köln lebte. Dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), galt er einst als einer der einflussreichsten Neonazis in Deutschland. (Foto: Oksana Ivanecz/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Selbst das mehr als 600 Kilometer von Belgorod entfernte Moskau ist nicht mehr sicher. Bereits Anfang Mai schoss die russische Luftabwehr eine Drohne über dem Kreml ab. Der schlagzeilen-trächtigen Attacke folgte am Dienstag ein massiver Angriff, an dem russischen Angaben zufolge rund 25 ferngesteuerte Kleinst-Flugzeuge beteiligt waren. Anfangs hörte man im Westen Stimmen, die mutmaßten, solch frontferne Angriffe seien inszeniert. Doch was hätte der Kreml davon? Offenbar verfolgen die Angreifer mit den Drohnen-Attacken den Zweck, in der russischen Hauptstadt für Angst und Schrecken zu sorgen. Und das Vertrauen der Moskauer und der Russen insgesamt in das eigene Militär und die Regierung zu schwächen.

„Seit etwa einem Monat“

Zunehmend gerät neben Belgorod und Moskau auch eine dritte Gegend ins Visier der Angreifer. „Es passiert seit etwa einem Monat immer wieder etwas in meiner Region“, erzählt Nina Popova, die die Telegram-Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“ betreibt. Ihre Region – das ist der Krasnodarskij Kraj am Schwarzen und am Asowschen Meer, der Bezirk um die südrussische Millionen-Stadt Krasnodar. „Als die Taman vor ein paar Wochen gebrannt hat, konnte ich es von meinem Fenster aus sehen“, sagt Popova. Der Drohnen-Angriff auf ein Öllager schaffte es auch in die Tagesschau. Taman ist etwa 20 Kilometer von Ninas Wohnort entfernt.

Nina Popova lebt im südrussischen Krasnodarskij Kraj. Die Flammen, die aus dem attackierten Öllager von Taman aufloderten, sah sie am Horizont. (Foto: privat)

Nur wenige Kilometer weiter liegt die Brücke, die über die Straße von Kertsch auf die Halbinsel Krim führt. Die Brücke wurde im vergangenen Herbst bei einem heftigen Anschlag stark beschädigt, kann mittlerweile aber wieder befahren werden. Die russischen Behörden machten die Ukraine für die Attacke mit einem Sprengstoff-Lkw verantwortlich. Amtlich zugegeben, dass es wirklich so war, hat Kiew allerdings erst vor wenigen Tagen. „Ich wohne nah an der Brücke“, sagt Nina Popova. Und fügt hinzu: „Wäre doch eine Ironie: Deutsche Raketen treffen eine deutsche Staatsbürgerin.“ Dann entschuldigt sie sich im Gespräch für ihren „schwarzen Humor“.

Extra auf die Kinder gewartet?

Popova ist 40 Jahre alt, lebte rund drei Jahrzehnte in der Bundesrepublik und hat einen deutschen Pass. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Sie liebt Deutschland und setzt sich über ihre beiden Telegram-Kanäle auch für die deutsch-russische Versöhnung ein. Seit 2019 ist Nina zurück in Russland, wo sie mit ihrem russischen Mann und einer Tochter lebt. Dass die Angriffe gerade jetzt zunehmen, kann sie nicht verstehen. „Das Schreckliche ist, dass jetzt hier Ferien sind und die Menschen ihre Kinder hierher bringen. Sie haben extra gewartet, dass hier viele Kinder sind. Ich empfehle mittlerweile jedem, dieses Jahr nicht mehr hierhin zu kommen.“

Die Region Krasnodar am Schwarzen Meer ist ein Touristen-Magnet, besonders im Sommer. Ausgerechnet jetzt, am Beginn der warmen Jahreszeit, intensiviert die Ukraine ihre Angriffe. (Foto: SpartanDav/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Dann wendet sich Nina Popova an Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock. „Ich hoffe, ihr schlaft gut und euch raubt der Gedanke nicht den Schlaf, dass die Ukrainer bis zum Sommer gewartet haben.“ Scholz und Baerbock tragen die politische Hauptverantwortung für die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Zunächst hatte die Ampel-Koalition nur Schutzhelme und Verbandsmaterial liefern wollen. Mittlerweile rollen wieder schwere deutsche Panzer gegen Russland. Dagegen findet die Lieferung von Kampfflugzeugen bislang keine Mehrheit in der deutschen Politik. Wirklich ausgeschlossen hat die Regierung sie allerdings nicht. „Deutschland hat Terroristen ausgestattet“, ist Nina angesichts der Angriffe in Russland überzeugt.

„Die Kuban war nie ukrainisch“

Warum ist gerade die Kuban-Region um Krasnodar zu einem der Zentren ukrainischer Angriffe geworden? „Das Problem ist, dass hier unkontrolliert Ukrainer als Flüchtlinge reingekommen sind“, erzählt Popova. Sie könnten strategische Positionen an feindliche Kämpfer verraten, mutmaßt sie. „Nun soll jeder einzelne besser überprüft werden. Etwa 1,5 Millionen sind bereits russische Staatsbürger. Die anderen bekommen ab jetzt keine Auszahlungen mehr. Bisher haben die überall Gelder bekommen – ungeachtet der Staatsangehörigkeit.“ Ukrainische Nationalisten, erklärt Nina, betrachten das Gebiet um Krasnodar als Teil der Ukraine. „Sie haben schon vor 2014 davon geträumt, es Russland wegzunehmen. Doch die Kuban war noch nie ukrainisch.“

Die Grenzziehung der Groß-Ukraine, wie sie die ukrainische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 vorschlug. Die Region um Krasnodar ist auf der französischen Karte als „Kouban“ eingetragen. (Foto: gemeinfrei)

Die Begehrlichkeiten dürften Gründe haben, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Gut 100 Jahre nämlich. Bis in die Zeit der Ukrainischen Volksrepublik, die als erster ukrainischer Nationalstaat gilt. Das Staatswesen, das sich im Januar 1918 für unabhängig erklärte, beanspruchte Gebiete, die weit über die heutige Ukraine hinausgehen. Bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg in Paris präsentierte eine ukrainische Delegation ihre Forderungen. Rostow am Don wäre demnach ebenso ukrainisch geworden wie die Krim-Halbinsel und die Region Kuban bis zur georgischen Grenze. Im Westen hätten sich Ausläufer dieser Groß-Ukraine fast bis vor die Tore Krakaus ausgedehnt. Im Süden wären Transnistrien und Teile Moldawiens an Kiew gefallen.

„So viele töten wie möglich“

Die einheimischen Medien, erzählt Popova, berichten wenig von den Angriffen in Russland. „Das ist ja das Problem. Die Medien versuchen, die Leute nicht in Panik zu versetzen, und bewirken das Gegenteil.“ Dabei sei Panik genau das, was die Angreifer auslösen wollten, meint Nina. „Sie sagen ja offen, was sie wollen: so viele töten wie möglich.“ Der Westen wolle das aber nicht hören. Ganz im Gegenteil: „Sie bekennen sich immer zuerst, freuen sich, bis man sie vom Westen her zwingt zu widerrufen. Es läuft immer nach dem gleichen Muster.“

Angst habe sie trotz der zunehmenden Angriffe in Russland und auf ihre Heimat keine, bekräftigt Nina auf Nachfrage. „Ich weigere mich, Angst zu haben.“ Das hat auch mit ihrem christlichen Glauben zu tun. „Ich vertraue auf Gott“, sagt die 40-Jährige. „Er hat mich hierher geführt. Er hat mich mein Leben lang beschützt. Ich soll wohl jetzt hier sein und alles selbst sehen.“

Thomas Wolf

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Ehrentage der Eltern unter Beschuss

In einer Zeit, in der Kinder als schlimme „Klimasünder“ gelten, haben es Mutter- und Vatertag nicht einfach. Zunehmend geraten die einstigen Ehrentage der Eltern unter Beschuss. Durchaus nicht nur seitens säkularer Kreise, die Familie und Nachwuchs per se kritisch gegenüberstehen. Etwa Klimaschutz-Aktivisten der „Letzten Generation“, die sich sterilisieren lassen, weil sie keine Kinder bekommen möchten. Kinder, lassen sich die Aktivisten in einer umstrittenen Studie vorrechnen, seien schließlich eine schwere Hypothek auf die Zukunft. In ihrem Leben, heißt es, werden sie und ihre eigenen Kinder für den Ausstoß von durchschnittlich fast 60 Tonnen Kohlendioxid-Äquivalent verantwortlich sein. Pro Jahr. Also besser kein Nachwuchs – so die fragwürdige Logik der selbsternannten Weltretter.

Deko mit Blümchen und Herzen ist zum Muttertag recht beliebt. Mit selbstgebastelten Geschenken machen Kinder ihren Mamas eine Freude. (Foto: Pixabay)

Neuerdings steht der Muttertag auch aus Kreisen der Gesellschaft heraus unter Beschuss, in deren Welt- und Familienbild Kinder bislang eine zentrale Rolle gespielt haben. Aus der Kirche. „Seid fruchtbar und mehret euch“, liest man bereits im Buch Genesis, dem ersten Buch des biblischen Alten Testaments. Über die Jahrtausende hinweg war dieser Bibelvers Juden wie Christen gleichermaßen Auftrag und Anliegen. Das ist offenbar für immer mehr Theologen und Mitarbeiter des organisierten Protestantismus und Katholizismus in Deutschland nicht mehr der Fall.

Geschlechterübergreifender „Elterntag“

Maren Bienert etwa, Professorin für evangelische Theologie in Hildesheim, möchte den Muttertag am liebsten durch einen geschlechterübergreifenden „Elterntag“ ersetzen. Dieser solle Männer, Frauen, „queere“ und „nonbinäre“ Menschen, die familiäre Verantwortung übernehmen, gleichermaßen würdigen. „Damit würden gleich mehrere Familienkonstellationen aufgewertet und Menschen sichtbar gemacht, die für Kinder Eltern sind und familiale Verantwortung übernehmen“, sagt die evangelische Theologin, die ein fächerübergreifendes Forschungsprojekt zu Sexual- und familienethischen Fragen plant.

Eine katholische Kita in Hessen will keine Mutter- und Vatertags-Geschenke mehr gemeinsam mit den Kindern basteln. Begründung: Die „Konstellation Mutter Vater Kind/er“ sei nicht mehr die Norm. Es gebe auch Familien ohne Vater. (Foto: Pixabay)

In Hessen ist derweil eine katholische Kindertagesstätte in die Schlagzeilen geraten. Ein Schreiben teilt den Eltern der Kita-Kinder mit, dass man in einer „gemeinsamen Teamsitzung“ beschlossen habe, ab diesem Jahr zum Vater- und zum Muttertag keine Geschenke mehr mit den Kindern gestalten werde. „In der heutigen Zeit“, heißt es zur Begründung, „in der die Diversität einen immer höheren Stellenwert erhält, möchten wir diese vorleben und keinen Menschen ausschließen.“ Auch würden zum Mutter- und Vatertag „stereotypische Geschenke angefertigt, wie z. B. Blumen für die Mutter oder Werkzeug für den Vater“.

Dies sei vielleicht eine tolle Geste, schließe aber „einen Teil der Gesellschaft aus und ist nicht individuell für alle Menschen“. Die ideologische Krönung des Schreibens liest sich so: „Außerdem ist die Konstellation Mutter Vater Kind/er nicht mehr die Norm in heutigen Familien.“ Ein Vatertags-Geschenk „ohne Vater in der Familie“ sei „nicht nur ohne Wert, sondern kann die Identität eines Kindes in Frage stellen. Um allen Menschen gerecht zu werden, müssten wir mit jedem einzelnen Kind ein individuelles Geschenk anfertigen.“

„Danke für ihren Megaeinsatz“

Im Internet löste der Brief massive Proteste aus. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Bundesvorsitzender der Jungen Union, Tilman Kuban, twitterte: „Dem Wahnsinn sind keine Grenzen mehr gesetzt… Irgendwie find ich es ziemlich cool, wenn man Kindern beibringt seiner Mutter einfach mal Danke zu sagen für ihren Megaeinsatz Tag für Tag!“ Weil er das Schreiben der Kita zunächst veröffentlicht hatte, ohne die Adresse zu schwärzen, warf die hessische SPD ihm vor, die Kita „an den Pranger gestellt“ und „zum Shitstorm-Ziel“ gemacht zu haben. Auch Ruprecht Polenz, ehemals Generalsekretär der CDU, kritisierte Kuban und sprach von „kulturkämpferischem Eifer“.

Ein Tweet des CDU-Abgeordneten Tilman Kuban machte das Schreiben der hessischen Kita bekannt. (Foto: Olaf Kosinsky/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Ob eine Vandalismus-Tat im Zusammenhang mit dem Brief steht, ist unklar. In einer Gartenhütte auf dem Kita-Gelände wurde jedenfalls nach Angaben der Polizei eine Scheibe eingeschlagen. In einer zweiten Hütte wurde die Tür aufgebrochen. Es entstand ein Sachschaden von geschätzt rund 800 Euro. Das katholische Bistum Fulda, in dessen Zuständigkeit die Kita fällt, sprach von „Irritationen und Missverständnissen“, die durch das Schreiben entstanden seien. Die Kita habe weiterhin ein katholisches Profil und werde sich für das christliche Familienbild einsetzen. Andere Lebensmodelle würden jedoch nicht ausgeschlossen.

„Schule queer denken“

Zwar nicht am Muttertag, aber immerhin nur zwei Tage danach (und zwei Tage vor dem Vatertag) veranstaltet Baden-Württemberg einen „LSBTTIQ+-Aktionstag“ in allen Schulen des Landes. Anlass ist der „Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie“. Für die Aktion werden den Schulen nach Informationen des Bündnisses „Demo für alle“ Materialien und Projektideen zur Verfügung gestellt. Hintergrund sei die „Daueraufgabe“ des grün geführten Kultusministeriums, „Schule queer denken“ zu wollen. „Die Schule wird inzwischen schamlos als Ideologen-Schmiede und zur Sexualisierung der zur Anwesenheit verpflichteten Schüler missbraucht“, kommentiert Bündnis-Sprecherin Hedwig vom Beverfoerde. „Mit aller Macht will man offensichtlich Kindern ihr natürliches Verständnis für die Familie austreiben.“

Erfunden hat den Muttertag die US-Amerikanerin Anna Marie Jarvis (1864-1948). Sie wollte damit ihrer eigenen Mutter und ihrem sozialen Engagement ein Denkmal setzen. Am zweiten Mai-Sonntag 1908 ehrte die methodistische Kirche sie erstmals mit einem Gottesdienst. Seit 1914 ist der Muttertag in den USA nationaler Feiertag. In Deutschland wird er seit 100 Jahren begangen. Der zunehmenden Kommerzialisierung des Muttertags durch den Handel stand Jarvis kritisch gegenüber. Kurz vor ihrem Tod 1948 erzählte sie einem Journalisten, sie bedauere, den Tag ins Leben gerufen zu haben.

Kinder in Wladiwostok basteln Dekoration für den Internationalen Frauentag am 8. März. In Russland der er bis heute einen großen Stellenwert. (Foto: RIA Novosti archive/image #591523/Vitaliy Ankov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

In der DDR beging man statt des Muttertags den Internationalen Frauentag am 8. März. Ähnlich wie in anderen damals sozialistischen Staaten. Bis heute hat der Tag in Russland einen hohen Stellenwert. Der Muttertag ist in dem Land hingegen erst seit 1998 von Bedeutung, erklärt Nina Popova, die von der südrussischen Region Krasnodar aus die Telegram-Kanäle „Politik für Blondinen“ und „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ betreibt. Anders als in Deutschland oder den USA findet er jedoch am letzten Sonntag im November statt. Ebenfalls anders: Zum Muttertag gratuliere man den Müttern meist nur. „Geschenke“, erläutert Popova, „gibt es eher am 8. März.“ Für alle Frauen. „Am 8. März braucht man nur weiblich zu sein“, sagt die 40-Jährige und schmunzelt. Für Vertreter der politischen Korrektheit im Westen klingt das fast schon reaktionär.

Thomas Wolf

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Kommentar

Ein Tag der Befreiung – aber nicht für alle

Der 8. Mai steht wie kaum ein anderer Tag für das Ende und zugleich für einen Neuanfang. Dem Endes des Zweiten Weltkriegs, dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische „Dritte Reich“, folgte eine neue Ära im besiegten Deutschland. Ein Neuanfang in Trümmern und Hoffnung. Heute zeigen sich auch deutsche Spitzenpolitiker dankbar für die Niederlage. Der 8. Mai – er ist ein Tag der Befreiung auch für Deutschland. Ein mörderisches Regime war besiegt, unzählige Nazi-Opfer konnten aufatmen, ihre Fesseln abstreifen. Für sie war der 8. Mai ein Tag der Freiheit. Ebenso für Millionen Deutsche, die nicht nur das Ende des Krieges herbeigesehnt hatten, sondern auch das der braunen Tyrannei. Des Rassenwahns. Der ständigen Angst davor, wegen eines „falschen“ Gedankens im Lager zu landen.

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, unterzeichnet die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst. (Foto: gemeinfrei)

Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Zumindest für eine Hälfte des damaligen Reichsgebiets steht der 8. Mai nicht für Freiheit. In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, wurde lediglich die braune Diktatur durch eine neue Herrschaft der Unfreiheit ersetzt. In Speziallagern – nicht selten KZs der Nazis unter neuem Namen – starben Tausende. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Frauen wurden Opfer von Übergriffen und Vergewaltigungen. Von rund 100.000 deutschen Soldaten, die nach der Niederlage von Stalingrad in sowjetische Hände fielen, sahen nur rund 6000 die Heimat wieder. Und aus den sogenannten Ostgebieten mussten Millionen fliehen, wurden deportiert oder in Todesmärschen verjagt. Bis zu zwei Millionen starben.

Der Böse ist immer der Russe?

Der Böse ist immer der Russe. So jedenfalls könnte man die westliche Sicht auf das Kriegsende und die Nachkriegszeit zusammenfassen. Exzesse von Soldaten der Roten Armee, Übergriffe auf Zivilisten und Gewalt gegen Frauen waren tatsächlich keine Seltenheit. „Wenn du nicht pro Tag wenigstens einen Deutschen getötet hast, war es ein verlorener Tag“, heißt es 1942 in dem Aufruf „Töte!“ des sowjetischen Journalisten Ilja Ehrenburg. Zur Wahrheit gehört aber auch: Ehrenburg stand damit weitgehend allein. Nicht selten wird er auch propagandistisch fehlinterpretiert. Und: Vor allem nach der Kapitulation der Wehrmacht, als das Kriegs(un)recht vom Besatzungsrecht ersetzt wurde, gingen sowjetische Offiziere meist rigoros gegen ihre Soldaten vor, wenn diesen ein Fehlverhalten vorzuwerfen war.

Ein US-amerikanischer GI und ein sowjetischer Soldat liegen sich im April 1945 nahe Torgau an der Elbe in den Armen. Die Besatzungspolitik von West-Alliierten und Sowjets unterschied sich mitunter kaum. (Foto: Cassowary Colorizations/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Was gerade in der alten Bundesrepublik gerne vergessen wird: Auch im Westen stand das Jahr 1945 zunächst nicht unbedingt für Befreiung. „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.“ – So legte es die US-Direktive JCS 1067 im April 1945 fest. Demgemäß verhielten sich die US-amerikanischen GIs. Auch sie, sagen Historiker, nahmen sich „deutsche Frolleins“ und vergewaltigten sie. Deutsche Soldaten wurden oft wahllos erschossen. Gerade Männer, denen man vorwarf, der Waffen-SS anzugehören, hatten kaum Gnade zu erwarten. Unabhängig davon, ob sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Von den anglo-amerikanischen Bombenangriffen mit Hunderttausenden zivilen Toten, die sich bis in die letzten Kriegsmonate hinzogen, ganz zu schweigen.

Auf offener Straße erschossen

Während die Zahl der Vergewaltigungs-Opfer im sowjetischen Machtbereich offenbar propagandistisch überhöht wurde, wird die im Westen bis heute meist weit unterschätzt. Die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt sagt: „Was mir selbst auch unbekannt gewesen war, waren die Vergewaltigungen der GIs, die eigentlich nach dem gleichen Schema auch abgelaufen sind; also die meistens Hausdurchsuchungen gestartet haben, dann haben sie geplündert, Essensvorräte mitgenommen, Wertsachen, Souvenirs und dann eben sehr häufig auch gemeinschaftlich sich über die Frauen hergemacht. Und das konnte dann auch alle Frauen treffen.“

Marokkanische und dunkelhäutige Soldaten der französischen Armee im Elsass im Februar 1945. (Foto: National Archives at College Park/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Insbesondere marokkanische Soldaten, die mit der französischen Armee den deutschen Südwesten besetzten, müssen furchtbar in den Dörfern gehaust haben. Zeitzeugen erzählen von Fäkalien in Wohnungen, von mutwilliger Zerstörung, Gewalt und Unrecht. Auf offener Straße seien Menschen erschossen worden. Die Leichen blieben liegen. Franzosen und Marokkaner missbrauchten laut dem US-Historiker Norman M. Naimark proportional gesehen so oft wie sowjetische Soldaten. Zur Verantwortung gezogen wurden sie wie auch andere Angehörige westlicher Streitkräfte nur selten. Anders als offenbar in der Roten Armee, wo für Vergewaltigung mitunter sogar die Todesstrafe drohte.

Gräueltaten an Deutschen

Vor Jahren las ich in den Lebenserinnerungen eines deutschen Soldaten, der am Kriegsende in polnische Gefangenschaft geriet. Er überlebte einen Todesmarsch – anders als viele seiner Kameraden, die die Bewacher am Wegesrand einfach erschossen. In seinen Erinnerungen beklagt er, die Presse hierzulande berichte stets nur über deutsche Verbrechen. Gräueltaten an wehrlosen Deutschen dagegen blieben meist unerwähnt. Ich finde: Der 8. Mai ist der passende Tag, um auch an diese Verbrechen zu erinnern. Die Dankbarkeit angesichts der Befreiung vom Nazi-Joch schmälert das nicht.

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

Nur Putin-Freunde wollen Frieden

Ostern ist nicht nur das christliche Fest der Auferstehung Jesu Christi. Die Ostertage sind in Deutschland auch traditionell die Zeit der Ostermärsche. In vielen Städten prägen die Kundgebungen für den Frieden das verlängerte Osterwochenende. Auch in diesem Jahr. Eine „unterm Strich positive Bilanz“ ziehen die Organisatoren. Mehr als 120 Demonstrationen brachten Zehntausende Menschen auf die Straße. Kern des Anliegens wie schon im vergangenen Jahr: Frieden in der Ukraine. Damit machen sich die Ostermarschierer angreifbar. Denn Frieden wollen nur Putin-Freunde. So jedenfalls scheint es, wenn man Äußerungen deutscher Politiker und Medien zugrunde legt.

Die Ostermärsche standen in diesem Jahr ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs. Im bayerischen Hof trugen Teilnehmer ein Plakat mit der Aufschrift „Für Frieden und Abrüstung“. (Foto: PantheraLeo1359531/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

„Wer über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit Putin verlangt, der steht auf der falschen Seite der Geschichte.“ So sieht es Stephan Thomae, der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag. Eine Waffenruhe würde „dem russischen Aggressor diejenigen Gebiete ausliefern, die dieser durch Bruch des Völkerrechts und mit unerträglicher Brutalität erobert hat“. Und weiter: „Wir müssen alles tun, um die Ukraine in diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu unterstützen.“

Freiheit statt Frieden

Auch der frühere Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) lehnt die Forderungen der Ostermarschierer ab. Ihren Pazifismus bezeichnet er im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst als naiv. „Aber er ist zugleich nötig als kritischer Maßstab. Es gibt bei diesen schwierigen Abwägungen keine widerspruchsfreien Lösungen. Natürlich verlängert eine Waffenlieferung das Töten und Sterben. Wenn man das ablehnt, muss man sich aber im Klaren sein, dass der Preis dafür wahrscheinlich Unfreiheit ist. Letztlich geht es also um die Frage: Ist Frieden oder Freiheit wichtiger? Für mich ist Freiheit wichtiger als Frieden. Das ist mein Vorwurf an den Pazifismus.“

Bereits im vergangenen Jahr hatte der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff die Teilnehmer der Ostermärsche als „fünfte Kolonne“ Putins bezeichnet. Kommentatoren sprachen angesichts dessen von „verrückten Zeiten“. In der Tat steht die Welt Kopf seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022. Wer seine Stimme für Frieden und Verhandlungen erhebt, muss sich als Unterstützer eines „völkerrechtswidrigen Angriffskriegs“ beschimpfen lassen. Wer die Lieferung schwerer Waffen in das Kriegsgebiet kritisiert, fällt demnach der Ukraine in den Rücken. Und wer die Gesprächskanäle zu Russland nicht abreißen lassen möchte oder sich gar der Ablehnung alles Russischen entgegenstellt, ist bestenfalls „Putin-Versteher“.

FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff (links) sieht in den Teilnehmern der Ostermärsche die „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins. (Foto: Kuhlmann/MSC/CC BY 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Eine jener angeblichen „Putin-Versteherinnen“ ist Margot Käßmann. Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland bekräftigte kurz vor Ostern ihre ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine. „Anfangs hieß es, wir würden reine Verteidigungswaffen liefern, jetzt sind daraus ganz klar Angriffswaffen geworden“, sagte sie im Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Mit den gelieferten deutschen Panzern werde auf russische Soldaten geschossen. „Das kann doch auch keine Lösung sein“, sagte Käßmann.

Verhandlung, nicht Kapitulation

Dabei machte die einstige Landesbischöfin von Hannover auch deutlich, dass sie durchaus keine „Putin-Freundin“ ist. Den russischen Einmarsch sieht sie als Angriffskrieg eines Diktators auf ein freies Land. Dennoch müsse es durch Friedensverhandlungen schnellstmöglich zu einem Ende des Tötens kommen. „Verhandlung heißt nicht Kapitulation“, betonte Käßmann. Der Ukraine spricht sie nicht das Recht ab, sich zu verteidigen. Aber sie fürchte, sagt sie, dass Deutschland durch Waffenlieferungen nach und nach selbst zur Kriegspartei werde. Über allem steht für die Theologin die Vision einer „Welt ohne Waffen“. Sie wolle sie nicht aufgeben.

Kaum jemand vertritt die Forderungen nach schweren westlichen Waffen für die Ukraine seit der russischen Invasion so vehement wie mancher Grünen-Politiker. Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) offenbar noch hoffte, mit Helmen und Munition sei es getan, forderte Anton Hofreiter bereits deutsche Panzer für die Front im Donbass. Statt eines schnellen Friedens für die Ukraine stand bald ein Sieg über Russland auf der politischen und militärischen Agenda. „Wie irre ist die ehemalige Friedenspartei geworden?“, fragte Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht bereits vor einem Jahr.

Deutsche Kampfpanzer des Typs Leopard 2 A5 bei einer Lehr- und Gefechtsvorführung. (Foto: © Bundeswehr/Modes/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Mittlerweile sind deutsche Panzer in der Ukraine längst Realität. Selbst „Leopard 2“, deren Lieferung Kanzler Scholz lange abgelehnt hatte, sind im Einsatz gegen Russland. Kiew hätte nun gern moderne westliche Kampfflugzeuge. MiG-29 aus Polen und der Slowakei befinden sich bereits im Land. Noch zögert die Bundesregierung, lehnt die Lieferung eigener Jets ab. Doch wirklich ausgeschlossen hat dies niemand. Erst recht nicht für alle Zukunft. Er halte es nicht für richtig, „jetzt darüber zu reden“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor gut zwei Monaten. „Wir tun nur Dinge, die uns nicht zur Kriegspartei werden lassen. Wobei nicht ganz klar ist, wo diese Linie verläuft.“

Westen ist „Konfliktpartei“

Genau das ist das Problem. Während der Westen betont, die Lieferung von Kampfpanzern und selbst Flugzeugen sei keine Kriegsbeteiligung, sieht Russland das naturgemäß anders. Im Kreml betonte man bereits vor Monaten, man betrachte den Westen als „Konfliktpartei“. Was immer das konkret bedeutet. Die Gefahr einer weiteren Eskalation jedenfalls ist groß. Und dürfte sich mit jeder weiteren Waffenlieferung noch vergrößern. Im schlimmsten Fall droht die äußerste Eskalation: der Atomkrieg zwischen Ost und West. Davor warnte auch Kanzler Scholz.

Vor einem handverlesenen Publikum fragte NS-Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-J05235/Schwahn/CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

„Wollt ihr den totalen Krieg?“, schleuderte Joseph Goebbels, der Propagandaminister der Nazis, im Februar 1943 bei seiner Rede im Berliner Sportpalast dem ausgewählten Publikum verbal entgegen. „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ besagte ein Transparent über der Bühne, auf der Goebbels sprach. Heute wäre der kürzeste totale Krieg ein nuklearer. Er würde aller Wahrscheinlichkeit nach zur weitgehenden Vernichtung der menschlichen Zivilisation führen. Das wissen die Russen. Und das wissen die Amerikaner. Aber wissen es auch diejenigen, die nach immer mehr schweren Waffen rufen?

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

Ein Mann und sein missverstandenes Lied

Er war Germanist, Hochschullehrer und Dichter, liberaler Demokrat und aufrechter deutscher Patriot. Sein wohl bekanntestes Werk ist bis heute umstritten: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der Autor des Deutschlandlieds, kam am 2. April 1798 zur Welt. Als er 1841 auf Helgoland zur Melodie von Haydns Kaiserhymne sein „Lied der Deutschen“ schrieb, war das von ihm besungene „deutsche Vaterland“ von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ noch weit entfernt. Helgoland selbst gehörte damals als Kronkolonie zu Großbritannien. Für Hoffmann von Fallersleben war die Zeit seines Aufenthalts auf der Insel eine Art Wendepunkt im Leben.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben ist vor allem als Dichter des Liedes der Deutschen bekannt. (Foto: gemeinfrei)

Seinem „Lied der Deutschen“ gingen die „Unpolitischen Lieder“ voraus. Anders als der Name es auszusagen scheint, waren sie alles andere als unpolitisch. Genau das machte sie in den Augen der Herrschenden gefährlich. Hoffmann von Fallersleben spricht sich darin nämlich für bürgerliche Freiheiten und einen geeinten deutschen Nationalstaat aus. Und greift Kleinstaaterei, Zensur und Fürstenwillkür scharf an. Auf der politischen Führungsebene des Deutschen Bundes, des damaligen reaktionären Staatenbunds der deutschen Fürstentümer und freien Städte, machte er sich damit keine Freunde.

Eine Art inoffizielle Hymne

1842 enthob die preußische Regierung Hoffmann von Fallersleben wegen seiner oppositionellen Haltung seiner Professur, die er seit 1835 in Breslau innehatte. Im Jahr darauf verlor er auch die Staatsbürgerschaft Preußens und war gezwungen, rastlos durch Deutschland zu wandern. An der deutschen Revolution von 1848 beteiligte er sich nicht aktiv, konnte dadurch seine politischen Zielen aber als verwirklicht ansehen. Als die im Frühjahr 1848 gewählte Nationalversammlung in Frankfurt unter schwarz-rot-goldenen Fahnen zu ihrer ersten Sitzung zusammentrat, stimmten die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen demokratischen Parlaments das Deutschlandlied an. Hoffmanns Dichtung war damit zu so etwas wie einer inoffiziellen Hymne des demokratischen Deutschen Reichs geworden.

Die Revolution, die hoffnungsvoll begonnen hatte, aber scheiterte. Und mit ihr der deutsche Nationalstaat. Vorerst zumindest. Ganz zurück hinter 1848 aber konnten die Fürsten nicht. Statt den Weg einer revolutionären Erneuerung von unten ging Deutschland den einer Einigung von oben. Preußen übernahm die Führung im Deutschen Bund und versuchte, ihn zu einem Bundesstaat weiterzuentwickeln. Ohne Österreich, das nach der Niederlage im Deutschen Krieg von 1866 aus dem Bund ausscheiden musste. Als Hoffmann von Fallersleben am 19. Januar 1874 starb, hatte er den Anbruch der deutschen Nationalstaatlichkeit noch erlebt. Das Kaiserreich von 1871 ist im Kern identisch mit dem deutschen Staat der Gegenwart.

Die Lange Anna ist eine der Sehenswürdigkeiten auf Helgoland. Auf der Insel schrieb Hoffmann von Fallersleben den Text des Deutschlandlieds. (Foto: Pixabay)

Nur wenigen ist bewusst, dass von Hoffmann von Fallersleben auch zahlreiche Volks- und Kinderlieder überliefert sind, die noch heute gesungen werden. Freilich meist ohne dass Wissen um den Urheber. „Alle Vögel sind schon da“ zum Beispiel. Auch „Der Kuckuck und der Esel“, die einen Streit hatten, stammen von Hoffmann von Fallersleben. Beide Lieder hat der Dichter 1835 verfasst. Ebenso „Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald“ und „Summ summ summ! Bienchen summ’ herum!“. Mit „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ dichtete Hoffmann von Fallersleben sogar ein Lied zum Christfest, das Kinder bis heute singen. Jünger als das Deutschlandlied ist „Ein Männlein steht im Walde“ (1843).

Staatsmotto auf Münzen

Bekannt aber ist der gebürtige Niedersachse heute fast ausschließlich als Verfasser der deutschen Nationalhymne. Offiziellen Status erhielt das Lied der Deutschen erst in der Weimarer Republik. Im Kaiserreich hatte zuvor „Heil dir im Siegerkranz“ einen ähnlichen Platz eingenommen. Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) bestimmte 1922 Hoffmanns Lied zur Nationalhymne der ersten demokratischen deutschen Republik. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ wurde zum Staatsmotto, das sich etwa als Aufschrift auf Münzen fand. In der NS-Zeit wurde vornehmlich die erste Strophe („Deutschland, Deutschland, über alles“) gesungen, gefolgt vom Horst-Wessel-Lied der Nazis. Vor allem jene Verwendung während der braunen Diktatur lastet bis heute auf dem Lied.

Reichspräsident Friedrich Ebert (mit Zylinder in der Hand) schreitet auf dem Platz der Republik in Berlin eine Ehrenkompanie der Reichswehr ab. 1922 verfügte Ebert, dass das Deutschlandlied Nationalhymne wird. (Foto: Bundesarchiv/Bild 102-10884/Georg Pahl/CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!

Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!

Insbesondere die erste Strophe ist bis heute vielfach Anfeindungen und Ablehnung ausgesetzt. Denn bei „Deutschland, Deutschland, über alles“ denken viele an die Kriege der Nazis. Doch wer Hoffmanns Vers als Aufruf zu Eroberung und übersteigertem Nationalismus liest, versteht den Dichter völlig falsch. Und damit sein Lied. Auf „Deutschland, Deutschland, über alles“ folgt nämlich „Wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält“. Der Text gibt sich damit als defensiver Appell zu erkennen. Hintergrund dürften französische Gebietsansprüche auf das Rheinland 1840 gewesen sein. „Und wir können jeden Feind“, schrieb Hoffmann auch in seinen „Unpolitischen Liedern“, „treuverbunden überwinden“.

Brüderliche Einigung

Einigkeit nach außen, aber auch Einigkeit nach innen schwebte Hoffmann von Fallersleben vor. Die Einheit Deutschlands galt ihm mehr als die Macht der Einzelstaaten. Die brüderliche Einigung der Menschen zwischen Maas und Memel und zwischen Etsch und Belt sollte der monarchischen Zersplitterung ein Ende bereiten. Die Grenzen, die Fallersleben nennt, entsprechen ziemlich genau den damaligen Siedlungsgebieten des deutschen Volkes. Sie zeugen also gerade nicht von imperialistischen Machtgelüsten. Sondern beschreiben nüchtern und sachlich das Territorium, das zu einem Nationalstaat werden sollte.

Walther von der Vogelweide schrieb eine Art Vorläufer des Deutschlandlieds. (Foto: gemeinfrei)

Anders als die erste ist die zweite Strophe heute kaum bekannt. Für heutige Ohren klingt sie ein wenig kitschig. Und dürfte wohl in gleich mehrfacher Hinsicht als politisch unkorrekt gelten. Die Hervorhebung der „deutschen Frauen“ mag auf Kritiker sexistisch wirken, der „deutsche Wein“ für sie zu übermäßigem Alkoholkonsum aufrufen. Wie auch die erste Strophe gehen diese Verse auf ein mittelhochdeutsches Preislied Walthers von der Vogelweide zurück. „Deutsche Frauen sind besser als anderswo die edlen Damen“ hatte der mittelalterliche Dichter um das Jahr 1198 geschrieben. Und mit seinem Lied die Menschen „von der Elbe bis an den Rhein und hinunter bis nach Ungarn“ als die besten gelobt, „die ich in der Welt kennengelernt habe“.

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Im Blickpunkt

Schwarz-Rot-Gold: eine Erfindung von 1815?

Für das Online-Lexikon Wikipedia ist die Sache klar. Es gibt die gängige Sichtweise wieder. Die deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold sind demnach eine Erfindung des frühen 19. Jahrhunderts. Sie gehen, liest man bei Wikipedia, auf die Befreiungskriege gegen Napoleon 1813 bis 1815 zurück. „Verweise auf das Mittelalter sind nachträglich konstruiert, trugen aber im 19. Jahrhundert erheblich zu ihrer Popularisierung bei.“ Und weiter heißt es: „Die Urburschenschaft von 1815 führte diese Farben erstmals und machte sie zu einem Symbol für die deutsche Einheit.“ Wirklich? Ein genauerer Blick zeigt: Ganz so einfach ist die Sache nicht.

Beim Hambacher Fest 1832 trugen viele Teilnehmer schwarz-rot-goldene Fahnen. Die ungewohnte Reihenfolge der Farben auf dieser Darstellung könnte auf eine falsche Kolorierung zurückzuführen sein. (Foto: gemeinfrei)

Unstrittig ist, dass die schwarz-rot-goldene Trikolore, wie sie bis heute verwendet wird, in dieser Form erstmals beim Hambacher Fest 1832 zum Einsatz kam. Damals versammelten sich hunderte Demokraten und Liberale auf dem Schloss in der Pfalz, um für das zersplitterte und unter einem rigiden Regime leidende Deutschland Freiheit und nationale Einigung zu fordern. Eine zeitgenössische Darstellung dokumentiert die Fahnen zahlreicher Teilnehmer. Allerdings zeigt sie sie in ungewohnter Reihenfolge: Gold-Rot-Schwarz. Wie heute mitunter bei sogenannten Reichsbürgern. Womöglich ist das aber auf eine falsche nachträgliche Kolorierung zurückzuführen. Eine von Johann Philipp Abresch für das Fest angefertigte Fahne mit der pathetischen Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“, die erhalten blieb, beweist, dass die korrekte Reihenfolge schon damals Schwarz-Rot-Gold war.

Zeichen der Demokratie

Nach dem Hambacher Fest nahmen die deutschen Farben einen festen Platz in der nationalen und demokratischen Bewegung ein. Wer angesichts der Unterdrückung von Meinungsfreiheit und unabhängiger Presse durch den Deutschen Bund und seine fast 40 Mitgliedsstaaten für Volkssouveränität und Grundrechte eintrat, tat dies nahezu selbstverständlich im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold. Die deutschen Farben wurden so zu einem leuchtenden Zeichen für die Demokratie. Hoffmann von Fallersleben, liberaler Patriot und Dichter des „Liedes der Deutschen“, schrieb 1843 seine „Deutsche Farbenlehre“. Darin erklärt er Schwarz, Rot und Gold zu Farben der Hoffnung:

Über unserem Vaterland ruhet eine schwarze Nacht,
und die eigene Schmach und Schande hat uns diese Nacht gebracht.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Und es kommt einmal ein Morgen, freudig blicken wir empor:
Hinter Wolken lang verborgen, bricht ein roter Strahl hervor.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Und es zieht durch die Lande überall ein goldnes Licht,
das die Nacht der Schmach und Schande und der Knechtschaft endlich bricht.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Lange hegten wir Vertrauen auf ein baldig Morgenrot;
kaum erst fing es an zu grauen, und der Tag ist wieder tot.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Immer unerfüllt noch stehen Schwarz, Rot, Gold im Reichspanier:
Alles läßt sich schwarz nur sehen, Rot und Gold, wo bleibet ihr?
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Aus: Deutsche Salonlieder (1843)
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dargestellt von Ernst Henseler (1898). Das „Lied der Deutschen“ dichtete Hoffmann von Fallersleben 1841 auf Helgoland. (Foto: gemeinfrei)

Fünf Jahre nach Hoffmanns Dichtung stand Deutschland am Vorabend der Revolution. Nach dem Sturz des französischen „Bürgerkönig“ Louis-Philippe gingen auch in den deutschen Staaten immer mehr Menschen auf die Straße. Der Bundestag in Frankfurt musste den Massen entgegenkommen. Am 9. März 1848 erklärte er Schwarz-Rot-Gold zu Bundesfarben und einen rotbewehrten, schwarzen Doppelkopf-Adler auf goldenem Grund zum Bundeswappen. Der Deutsche Bund, der Staatenbund der deutschen Fürstentümer und freien Städte, legte damit erstmals nationale Symbole fest. Am 20. März ordneten die Delegierten an, dass die Festungen des Bundes und die Bundestruppen Schwarz-Rot-Gold flaggen sollten.

Gesprengte Ketten

Am 18. Mai 1848 trat in der Frankfurter Paulskirche das erste gesamtdeutsche demokratisch gewählte Parlament zusammen. Die Nationalversammlung tagte in einem Meer aus schwarz-rot-goldenen Fahnen und Bannern. Und über dem Präsidium hing das Ölgemälde einer friedfertigen, zugleich aber wehrhaften Germania. Natürlich auch in Schwarz-Rot-Gold. Hinter der als junge Frau dargestellten Personifikation Deutschlands geht die Sonne auf. Zu ihren Füßen liegen gesprengte Ketten. Statt einer Krone trägt sie einen Kranz aus Eichenlaub. Die Bedeutung der Symbole ist offenkundig. Freiheit statt Fürstenherrschaft.

Ganz im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold: die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Über dem Präsidium hängt die Germania in den Nationalfarben. (Foto: gemeinfrei)

So hoffnungsvoll der schwarz-rot-goldene Neuanfang gestartet war, so schnell endete er. Statt Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie setzten sich die Fürsten durch. Die verbliebenen Abgeordneten der Nationalversammlung flohen nach Stuttgart und wurden dort von Militär auseinandergetrieben. Die demokratische Revolution war gescheitert. Dennoch wehten Schwarz, Rot und Gold noch bis 2. September 1850 vom Turm der Paulskirche in Frankfurt. Und erst im August 1852 wurden sie am Frankfurter Bundespalais, dem Sitz des wiederhergestellten Deutschen Bundes, eingeholt. Noch 1866 zogen süddeutsche Truppen an Österreichs Seite mit schwarz-rot-goldener Armbinde in den Krieg gegen Preußen.

Eine neue Nationalflagge

Mit dem preußischen Sieg endete der Deutsche Bund. Und die Teilhabe Österreichs an Gesamt-Deutschland. Aus dem preußischen Weiß-Schwarz und dem Weiß-Rot der Hansestädte gestalteten die Sieger von 1866 eine neue Nationalflagge. Schwarz-Weiß-Rot wurde zum Symbol des Kaiserreichs. Und nach dessen Untergang zum Erkennungszeichen von Monarchisten und rechten Gruppierungen. Die weitere Geschichte ist bekannt. Die Weimarer Republik griff wieder auf Schwarz-Rot-Gold zurück. Und nach dem Hakenkreuz-Zwischenspiel der NS-Diktatur legten 1949 sowohl die westdeutsche Bundesrepublik als auch die DDR Schwarz-Rot-Gold als Nationalflagge fest.

Die Flagge der Bundesrepublik und der DDR wehen 1973 vor dem UN-Gebäude in New York. Das Rot der beiden Hoheitszeichen fällt ungewöhnlich dunkel aus. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-M0925-406/Joachim Spremberg/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)
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Im Blickpunkt

Die Demokratie: kein Import aus den USA

Fragt man Leitmedien und Politiker nach Sternstunden der deutschen Geschichte, erntet man womöglich nicht selten ein Schulterzucken. Die historischen Leistungen des eigenen Volkes sind weithin vergessen. Ein offizieller Blick zurück lässt meist nicht viel Positives übrig. Die Verbrechen des Nationalsozialismus überdecken alles, was Deutsche in der Vergangenheit erreichten. Hinzu kommen weitere dunkle Flecken, die die Medien vor allem in jüngerer Zeit stark betonen: Kolonialismus, vermeintlich struktureller Rassismus, Diktatur. Dazu das alte Narrativ vom Untertanengeist der Deutschen. Das Land der Dichter und Denker – es ist medial zu einem Land der Mörder und Henker verkommen.

Revolution vor 175 Jahren

Die Demokratie, heißt es oft, habe den Deutschen nach 1945 von den Siegermächten beigebracht werden müssen. Gemeint sind die Westalliierten, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika. Politisch mag die Behauptung der US-Herkunft der Demokratie in Deutschland opportun erscheinen. Historisch aber ist sie Unsinn. Schon 100 Jahre vor der US-amerikanischen Besatzung zementierten die Deutschen ein bleibendes demokratisches Fundament. Und zwar auf einem Weg, der ganz und gar nicht zum vermeintlichen Untertanengeist passen will: durch eine Revolution nämlich. Dieser Tage liegt sie genau 175 Jahre zurück.

Ein früher Höhepunkt der Revolution: die Barrikadenkämpfe in Berlin am 18. März 1848. (Foto: gemeinfrei)

„Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können.“ Das schrieb der kommunistische Vordenker und Karl-Marx-Vertraute Friedrich Engels 1850 in seinem Buch „Der deutsche Bauernkrieg“. Er bezog sich damit zwar auf die andere große revolutionäre Erhebung der deutschen Geschichte: eben jene Serie von Bauern-Aufständen der Jahre um 1525. Doch wird seine Analyse durch die Revolution von 1848, an der er teilnahm, vollauf bestätigt.

Erste nationale Verfassung

Was 1525 unter den Schwertern und Kanonen der fürstlichen Heere blutig erstickte, setzte sich 1848/49 durch. Formell kam die Demokratie zwar nur kurz zur Entfaltung. Und noch dazu nur in Gestalt einer konstitutionellen Monarchie. Aber immerhin: Sie brachte dem deutschen Volk die erste nationale Verfassung, einen umfangreichen Grundrechte-Katalog, einen Rechtsstaat und die erste direkt gewählte nationale Volksvertretung. Und auch wenn das damals geschaffene demokratische Deutsche Reich von den Fürsten bald wieder zerschlagen wurde – die Fundamente der Verfassung von 1849 gerieten nie wieder in Vergessenheit. Sie befruchteten die Weimarer Reichsverfassung von 1919 ebenso wie das Grundgesetz.

Eine der letzten Briefmarken der DDR erinnerte an Thomas Müntzer, den Revolutionär des 16. Jahrhunderts. Der Block zeigt seine hauptsächlichen Wirkungsstätten. (Foto: Nightflyer/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Die deutsche Revolution von 1848 war eingebettet in eine Reihe von nationalen Volkserhebungen in mehreren europäischen Staaten. Bereits 1830 hatten die Franzosen im Rahmen ihrer Julirevolution erneut die Königsdynastie der Bourbonen gestürzt. Zum zweiten Mal nach 1789. Hinzu kamen Unabhängigkeitsbewegungen im damals russischen Polen, in Griechenland, Belgien und Italien. In Deutschland wiederum hoffte das unterdrückte Bürgertum auf einen Neuanfang. Der Freiheitswille des Volkes, der sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon 1806 bis 1815 gezeigt hatte, wurde durch die Macht der Fürsten unterdrückt. Presse- und Meinungsfreiheit waren nicht vorhanden.

Versuche, den Deutschen Bund, einen Staatenbund der deutschen Fürstentümer und freien Städte, liberal zu reformieren, scheiterten. Als die Franzosen erneut revoltierten und im Februar 1848 ihren „Bürgerkönig“ Louis-Philippe aus dem Amt jagten, sprang der revolutionäre Funke auf Deutschland über. Schon am 27. Februar forderten in Mannheim mehr als 2000 Menschen die allgemeine Volksbewaffnung, Grundrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit, Schwurgerichte und ein nationales deutsches Parlament. Bauern drängten auf die Beseitigung der Vorrechte des Adels. Handwerker, Tagelöhner und Fabrikarbeiter forderten soziale Gerechtigkeit.

Notwendigkeit einer Reform

Bald kam es in den Städten zu ersten Unruhen. Am 1. März 1848 besetzten aufgebrachte Bürger in Karlsruhe das Ständehaus des badischen Landtags. Auch in München und Berlin gingen die Menschen auf die Straße. In Wien musste der reaktionäre Staatskanzler Klemens von Metternich fliehen. Zahlreiche Fürsten lenkten ein und beriefen liberale Regierungen, die den Forderungen des Volkes entgegenkommen sollten. In Preußen reagierte König Friedrich Wilhelm IV. hinhaltend. Einerseits versprach er, auf die Wünsche des Volkes Rücksicht zu nehmen. Andererseits ließ er Truppen zusammenziehen. Der Deutsche Bund erkannte am 8. März die Notwendigkeit einer großen Bundesreform.

Eine verlassene Barrikade in der Breiten Straße in Berlin, wie sie Eduard Gaertner gezeichnet hat. Nur die schwarz-rot-goldene Fahne zeugt noch von der Revolution. (Foto: gemeinfrei)

Am 18. März eskalierte die Situation in Berlin. Bürger errichteten Barrikaden und lieferten sich Straßenkämpfe mit dem Militär. Dutzende starben. Als die Truppen die Kontrolle über die Stadt zurückerlangt hatten, ließ der König sie sogleich wieder abziehen. Am Tag darauf ver­neigte sich Friedrich Wilhelm sogar auf dem Schloss­platz vor den 100 aufgebahrten „Märzgefallenen“. Schließ­lich legte er sich eine schwarz-rot-goldene Schärpe um und versprach, sich an die Spitze der deutschen Nationalbewegung zu stellen. „Preußen geht fortan in Deutschland auf“, erklärte der König. Es war ein Etappensieg der Revolution.