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„Gibt kaum jemanden, der objektiver sein könnte“

Vor genau einem Jahr marschierten die russischen Streitkräfte in der Ukraine ein. Dem zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren andauernden Bürgerkrieg im Donbass brachte dies eine neue Eskalation. Die junge Deutsche Alina Lipp erlebte den Beginn der Invasion vor Ort mit. Sie war im Herbst 2021 nach Donezk in der gleichnamigen separatistischen „Volksrepublik“ gezogen, um von dort zu berichten. Ihre Videos und Nachrichten, die sie großteils über Telegram verbreitet, widersprechen spätestens seit Beginn der „speziellen Militäroperation“ dem gängigen westlichen Narrativ.

Das folgende Interview gab Alina Lipp kurz nach Kriegsbeginn. Es sollte in einer überregionalen deutschen Wochenzeitung erscheinen. Da der Chefredakteur den Vorwurf vermeintlicher „Russlandnähe“ fürchtete, flog der Beitrag kurzfristig aus dem Blatt. Erstmals veröffentlicht wurde er erst in der Januar-Ausgabe des monatlich erscheinenden Stichpunkt-Magazins.

Alina Lipp bereist den Donbass und dokumentiert Zerstörungen. (Foto: Lipp)

Frau Lipp, die deutsche Öffentlichkeit nimmt den russischen Einmarsch in der Ukraine als verbrecherischen Angriffskrieg wahr. Sie betonen dagegen, man dürfe die Vorgeschichte der Invasion nicht außer Acht lassen. Wie stellt sich diese für Sie dar?

2014 fand in Kiew ein Umsturz statt, infolgedessen eine neue west­orientierte Regierung an die Macht kam – gestützt von ultranationalisti­schen, anti­russischen Kräften. Der russischsprachige Osten des Landes, der Donbass, und die Krim-Bevölkerung haben diesen Putsch nicht unterstützt und sich von der Uk­raine losgesagt. Daraufhin schickte die illegal an die Macht gekomme­ne Regierung Armee, Polizei sowie Geheimdienste, um die abtrünnigen Gebiete mit Gewalt zurückzuholen.

Die Armee wollte nicht so rich­tig gegen ihr eigenes Volk kämpfen. Deshalb mobilisierten die Putschis­ten Rechtsradikale, bewaffnete diese und schickten sie in die abtrünnigen Republiken. Später haben Vertreter dieser paramilitärischen Einheiten wie „Asow“, „Donbass“, „Ajdar“ in der Armee, in den Geheimdiensten und in der Polizei Schlüsselpositionen übernommen.

Viele Verbrechen wurden gefilmt

Der Terror im Osten begann. Menschen verschwanden, wurden gefoltert und ermordet. Viele Ver­brechen wurden gefilmt. Ich habe selber einige grauenhafte Szenen ge­sehen. Die Menschen im Osten wurden pauschal zu Terroristen erklärt. Die Regierung startete eine „antiterroristische Operation“, die schnell in einen echten Krieg ausartete. Seit 2014 sind nach UN-Angaben rund 14.000 Menschen ums Leben gekommen. Laut OSZE gingen 75 Prozent davon auf das Konto der Ukraine.

Veteranen des umstrittenen Asow-Regiments marschieren 2019 durch Kiew. Ihr Erkennungszeichen, von dem sich die Einheit mittlerweile offiziell distanziert, ist eine Wolfsangel, die auch von NS-Verbänden genutzt wurde. (Foto: Goo3/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das Minsker Abkommen brachte die Hoffnung, dass durch gegenseitige Zugeständnisse Frieden einkehrt. Doch die Ukraine hat es in acht Jahren nicht geschafft, die Schlüsselpunkte des Abkommens umzusetzen. Die Rechtsradikalen haben immer wieder gedroht, die Regierung in Kiew zu stürzen, wenn diese irgendwelche Zugeständnisse machen würde. Sie forderten die gewaltsame Lösung des Konflikts.

Russland will die Ukraine „entnazifizieren“. Im Westen heißt es dagegen, die Ultranationalisten spielten in Parlament und Regierung keine Rolle. Und ist es nicht absurd, wenn ausgerechnet der jüdische Präsident Wolodymyr Selenskyi in die Nähe der Nazis gerückt wird?

Das finde ich nicht absurd. Ein „Nazi“ ist nicht automatisch ein Antisemit, sondern jemand, der ra­dikale Ansichten über andere Men­ schengruppen oder Ethnien vertritt. In der Ukraine wurden Gesetze verabschiedet, die den russischsprachigen Teil der Bevölkerung zu Bürgern zweiter Klasse machen: Behörden und Dienstleister dürfen Russisch als Sprache im Wesentlichen nicht mehr verwenden. Russischsprachige Schulen wurden geschlossen.

Durch das „Gesetz über die ein­ heimischen Völker“ werden die Bürger der Ukraine nach völkischen Kriterien in drei Kategorien eingeteilt, die unterschiedliche Rechte haben. Russen gehören zur dritten Kategorie und haben damit weniger Rechte und Ansprüche auf finanzielle Unterstützung als Ukrainer. Stellen Sie sich vor, ein europäisches Land würde solche Gesetze verabschieden – das wäre ein Skandal!

„Russische Untermenschen“

Möglich ist eine solche Gesetz­ gebung in der Ukraine, weil Ultranationalisten eben doch eine Rolle in Parlament und Regierung spielen. Es gibt staatlich subventionierte Ferienlager, in denen Kinder lernen, man müsse „russische Untermenschen“ erschießen. Das Asow-Regiment untersteht dem Verteidigungsministerium. Die Verwendung von Nazi-Symbolik ist gut belegt. Auch das ZDF hat darüber berichtet.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission. (Foto: European Commission/Dati Bendo via Wikimedia Commons)

Selenskyi trat sein Amt als Präsident 2019 mit dem Versprechen an, den Konflikt im Donbass zu beenden. Warum ist er gescheitert?

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Selenskyi mit guten und ehrlichen Absichten antrat, den Frie­den wiederherzustellen. Gescheitert scheint er am Widerstand der nationalistischen Kräfte zu sein. Sobald er auch nur andeutete, Zugeständnisse gegenüber der abgespaltenen Republiken in Erwägung zu ziehen, versammelten sich radikale Nationalisten mit Molotow-Cocktails vor dem Regierungsgebäude.

Wenn es Russland um die „Befreiung“ des Donbass geht – warum marschiert es dann auf breiter Front ein und greift auch Kiew, Lemberg oder Charkiw an, die hunderte Kilometer von Donezk und Lugansk entfernt liegen?

Einfach nur die Donbass-Republiken mit Soldaten zu unterstützen hätte nichts gebracht, da die ukrainische Armee mit Raketen auf die Republiken schießt. Deshalb muss Russland die ukrainischen Einheiten so weit wie möglich zurückdrängen – und sicherstellen, dass danach nicht wieder vorgerückt wird.

Russland hat sich die Demilitari­sierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine als Ziel gesetzt, da die nationalistischen Kräfte ansonsten im­mer wieder versuchen würden, den Donbass anzugreifen. Russland zerstört daher militärstrategische Ziele überall im Land, um die ukrainische Armee zu schwächen: Waffen­ und Öllager, Übungsplätze, militärische Flughäfen.

Warum hat Russland jetzt angegriffen – und nicht bereits 2014?

Wenn Wladimir Putin der blutrünstige Aggressor wäre, als der er in westlichen Medien meist dargestellt wird, hätte er wohl 2014 angegriffen. Das tat er aber nicht. Russland hat sich aus dem Konflikt weitgehend herausgehalten. Die im Donbass abgehaltenen Referenden, nach denen sich Donezk und Lugansk zu „Volksrepubliken“ erklärten, wurden durch Russland acht Jahre lang nicht anerkannt. Putin legte den Republiken sogar nahe, dass er ihren Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation nicht annehmen würde, sollten sie einen solchen stellen. Viele Menschen im Donbass haben gefragt, warum Russland ihnen nicht helfe. Einige waren sogar richtig sauer.

Die heftigen Kampfhandlungen in Mariupol ließen auch zahlreiche Wohngebiete zerstört und verwüstet zurück. (Foto: Lipp)

Ukraine in die NATO

Aktuell wurde Russland durch mehrere Umstände gezwungen, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen. Erstens nahm der Beschuss der Donbass-Bevölkerung, von der ein Großteil die russische Staatsbürgerschaft besitzt, extrem zu. Zweitens lehnten NATO und USA Russlands Vorschläge für gegenseitige Sicherheitsgarantien ab. Damit signalisierten sie, die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen, womit die Errichtung von NATO-Stützpunkten unmittelbar an der russischen Grenze ermöglicht würde. Putin hat immer wieder da­ vor gewarnt, dass dies eine rote Linie überschreiten und Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Und drittens verkündete Selenskyi auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass er in Erwägung zieht, den im Budapester Abkommen geregelten Verzicht der Ukrai­ne auf den Besitz von Atomwaffen zurückzunehmen.

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Im Blickpunkt

Habecks Traum von verlorener Souveränität

Im Internet macht ein Video die Runde und sorgt für einigen Wirbel. Es zeigt einen Ausschnitt aus einem in englischer Sprache gehaltenen Redebeitrag des grünen Wirtschaftsministers Robert Habeck beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Habeck äußert sich darin zu seinen Vorstellung einer Europäischen Union der Zukunft. Er wünsche sich, sagt der grüne Spitzenpolitiker, eine „federal European republic“. Also eine „europäische Bundesrepublik“, einen europäischen Superstaat anstelle der aktuellen EU, die nach deutschem Rechtsverständnis als bloßer „Staatenverbund“ gilt.

Noch mehr Macht für Brüssel

In den sozialen Medien stößt Habecks Äußerung auf viel Kritik. Schließlich ginge eine Bundesrepublik EU mit einem deutlichen Souveränitätsverlust für ihre Gliedstaaten einher. Soll heißen: noch mehr Macht für Brüssel. Statt für Berlin, Paris oder Rom. Wirklich neu ist das nicht. Seit Jahren fordern gerade deutsche Politiker die immer weitergehende Vertiefung der europäischen Integration. Dies würde notwendigerweise dazu führen, dass Deutschland und die europäischen Nationalstaaten in einem Superstaat unter Brüsseler Führung aufgehen würden. Von Charles de Gaulles Vision eines „Europas der Vaterländer“ hat sich die Bundesrepublik lange schon verabschiedet.

Neu sind Habecks Überlegungen nicht. Schon im Januar 2020 sagte er in einem Vortrag an der Georgetown-Universität in Washington, er sehe die Zukunft Deutschlands in einer weitergehenden europäischen Einigung. „Dazu gehören die Übertragung weiterer Hoheitsrechte, die Steuerhoheit, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und letztlich die Entstehung einer europäischen Bundesrepublik.“ Zugleich dankte Habeck den USA für den Sieg über den „deutschen Faschismus“. Dies habe den Deutschen die Chance gegeben, sich „in Europa als friedliche Mitbürger zu beweisen“. Indem sie ihre Souveränität aufgeben?

Einheitliches europäisches Wahlrecht

Auch die rot-grün-gelbe Ampelkoalition spricht sich in ihrem Koalitionsvertrag für die Weiterentwicklung der EU „zu einem föderalen europäischen Bundesstaat“ aus. Dieser solle dezentral „nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert“ sein. „Wir werden der Gemeinschaftsmethode wieder Vorrang geben, aber wo nötig mit einzelnen Mitgliedstaaten vorangehen. Wir unterstützen ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit teils transnationalen Listen und einem verbindlichen Spitzenkandidatensystem.“

Die Ampel-Politiker Volker Wissing (FDP), Michael Kellner (Grüne) und Lars Klingbeil (SPD) präsentieren den unterzeichneten Koalitionsvertrag. (Foto: Sandro Halank/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD hatte 2018 noch deutlich zurückhaltendere Formulierungen gebraucht. „Wir wollen den Zusammenhalt Europas auf Basis seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Werte auf allen Ebenen vertiefen und das Prinzip der wechselseitigen Solidarität stärken“, hieß es darin etwa. Und: „Wir wollen ein Europa der Demokratie mit einem gestärkten Europäischen Parlament und einem lebendigen Parlamentarismus auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene.“ Die EU solle „in ihrer Handlungsfähigkeit“ gestärkt werden, insbesondere finanziell.

Europäische Staatlichkeit

Traditionell firmieren die Forderungen nach einer europäischen Staatlichkeit unter dem Schlagwort der „Vereinigten Staaten von Europa“. Der Begriff selbst tauchte erstmals 1776 in einem Brief des späteren ersten US-Präsidenten George Washington auf. „Eines Tages werden, nach dem Muster der Vereinigten Staaten, die Vereinigten Staaten von Europa gegründet werden. Sie werden Gesetzgeber aller Nationalitäten sein“, schrieb der US-Revolutionär. Sein Landsmann, der Publizist und Naturwissenschaftler Benjamin Franklin, plädierte zwei Jahre später mit Blick auf Europa für die „Schaffung eines Bundesstaates und einer großen Republik aus all den verschiedenen Staaten und Königreichen“.

Benjamin Franklin skizzierte bereits 1778 die Grundzüge eines europäischen Bundesstaats. (Foto: gemeinfrei)

In den 1920er Jahren griff die SPD die „Bildung der Vereinigten Staaten von Europa“ als politische Vision auf. Einen europäischer Superstaat wie in Habecks Träumen schwebte den Sozialdemokraten aber offenbar nicht vor. Stattdessen war im Heidelberger Programm von 1925 die Rede von einer „europäischen Wirtschaftseinheit“, die „aus wirtschaftlichen Ursachen zwingend“ geworden sei und der „Interessensolidarität der Völker aller Kontinente“ dienen solle. Das Paneuropa-Konzept des österreichisch-japanischen Autors und Politikers Richard Coudenhove-Kalergi sah dagegen eine auch politische Union vor.

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Im Blickpunkt

Wer zuerst schießt, verliert

Es ist so eine Sache mit Familienfesten. Vielleicht kennen Sie das auch? Man sitzt im Kreise seiner lieben Verwandten, isst, trinkt, redet. Irgendwann kommt die Sprache auf ein unangenehmes Thema, das man besser nicht besprochen hätte. Ein kontroverses Thema. Politik zum Beispiel. Ein Wort gibt das andere. Und bald ist vom Familienfrieden nicht mehr allzu viel übrig. Das kann, wie kürzlich, an Weihnachten geschehen oder an Silvester. Es kann aber auch auf jeder beliebigen Geburtstagsfeier passieren. Oder im Sommer beim gemütlichen Grillabend. Der Krieg in der Ukraine ist so ein Thema, das die Gemüter in Wallung bringt und geeignet ist, höchst kontrovers diskutiert zu werden.

Der Wunsch nach Frieden

Solch familiäre Diskussionen können ganz harmlos beginnen. Für Gespräche im Freundeskreis gilt freilich dasselbe. Man wünscht sich baldigen Frieden für die kriegsgeplagte Ukraine. Dass das Kämpfen und Sterben auf dem Schlachtfeld bald enden möge. Dass die Angriffe, die immer wieder auch zivile Ziele treffen, eingestellt werden. Soweit so verständlich. Erst recht angesichts solcher Bilder wie jüngst aus Dnipro (Dnjepropetrowsk), wo ukrainischen Angaben zufolge bei einem russischen Luftschlag mindestens 40 Zivilisten getötet wurden. Sei es, weil der russische Marschflugkörper von der Flugabwehr getroffen und abgelenkt wurde. Sei es, weil die Ch-22 ein Ziel traf, auf das sie nicht programmiert war.

Wladimir Putin auf einem Truppenübungsplatz im Oblast Rjasan südöstlich von Moskau im Oktober. Der russische Präsident lässt sich dabei den Stand der Teilmobilmachung erläutern. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Bei Friedensappellen bleibt es im familiären Diskurs nicht. Schnell tritt die Schuldfrage in den Vordergrund. Für den gemeinen deutschen Medien-Konsumenten endet hier die Diskussion und beginnen die Fakten. Schuld ist der Russe! Und nur der Russe! Der „Teufel“ Wladimir Putin, der brutale „Diktator im Kreml“, habe die friedliebende Ukraine überfallen und ihr einen Vernichtungskrieg aufgezwungen. So oder so ähnlich hört, sieht und liest der durchschnittliche Deutsche es seit Monaten in den öffentlich-rechtlichen Medien und der Tageszeitung. Wer diesen leitmedialen Konsens in Frage stellt, ist ein böser „Putin-Versteher“, „Russland-Freund“ oder „Kreml-Propagandist“. Oder schlimmeres. Und damit praktisch ein Hochverräter an der westlichen Demokratie und ihrer gerechten Sache.

Moralischer Verlierer

Wer zuerst schießt, verliert. Getreu diesem Motto sehen die deutschen Leitmedien den Konflikt in der Ukraine offenbar. Denn dass Russlands Truppen in das Nachbarland einmarschierten, ohne dass es zuvor ukrainische Angriffe auf Russland gegeben hatte – das dürfte kaum jemand bestreiten. Vor dem 24. Februar beschränkte sich der Krieg in der Ukraine auf den Donbass. Eine großflächige Eskalation brachte erst die russische Februar-Invasion, die mit Luftschlägen und Zerstörungen in weiten Teilen des Landes einher ging. Auf dem Papier mag die Feststellung also zutreffen, dass Russland den Krieg begonnen hat. Es hat zuerst geschossen – und steht damit als moralischer Verlierer da.

Tatsächlich stellt der Einmarsch am 24. Februar eine Zäsur dar. Zumindest in der Wahrnehmung weiter Teile der deutschen Öffentlichkeit. Vom ersten Krieg in Europa seit 1945 war in den Medien die Rede. Dass das historischer Unsinn ist, dürfte vielen gar nicht bewusst sein. Obwohl selbst die Jüngeren sich eigentlich problemlos daran erinnern müssten. In den 1990er Jahren kam der Balkan nicht zur Ruhe. Mit dem Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaats Jugoslawien entluden sich die Spannungen in einem jahrelangen brutalen Krieg. Im Kern mag er ein Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen gewesen sein. Durch die westliche Anerkennung der Balkan-Staaten als unabhängig änderte sich die Situation aber schnell.

NATO-Pressesprecher Jamie Shea. Während des Kriegs gegen Jugoslawien 1999 bezeichnete er zivile Todesopfer wiederholt als „Kollateralschäden“. (Foto: Friends of Europe/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Unstrittig ein „richtiger Krieg“ war das, was am Abend des 24. März 1999 mit massiven Luftangriffen der NATO auf Belgrad und andere jugoslawische Orte begann. Mit dem hierzulande meist Kosovokrieg genannten Waffengang ergriff das Militärbündnis endgültig Partei für die kosovarische Untergrundarmee UÇK, deren Kämpfer der jugoslawischen Regierung um Slobodan Milošević als Terroristen galten. Die Angriffe dauerten bis in den Juni hinein und trafen immer wieder auch die Zivilbevölkerung. „Kollateralschäden“ nannte das NATO-Pressesprecher Jamie Shea. Die weithin als zynisch wahrgenommene Bezeichnung, die zuvor im Deutschen kaum geläufig war, wurde prompt zum Unwort des Jahres 1999 gekürt. Für Deutschland, das sich unter rot-grüner Führung an den Luftschlägen beteiligte, war der Krieg gegen Serbien und Montenegro der erste Kampfeinsatz seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Vorwurf des Völkermords

Dass der Krieg völkerrechtlich auf äußerst wackeligen Füßen stand, spielte in der Berichterstattung nahezu keine Rolle. Auch die zahlreichen Angriffe auf die zivile Infrastruktur, auf Brücken und Elektrizitätswerke, wurden kaum kritisch hinterfragt, solange der Einsatz lief. Hinterher konnte freilich wieder ausgiebig berichtet und diskutiert werden, ob die Begründung für die Luftschläge womöglich eine Lüge war. Zumindest mehrten sich die Zweifel an serbischen Massakern und dem sogenannten „Hufeisenplan“, der der NATO und vor allem deutschen Politikern dazu diente, die jugoslawische Regierung um Slobodan Milošević eines vorgeblich geplanten Völkermords an den Kosovo-Albanern zu bezichtigen.

Ein Mahnmal erinnert im Tasmajdan-Park in Belgrad an die serbischen Kinder, die zu Opfern der NATO-Luftangriffe wurden. „Wir waren bloß Kinder“, liest man auf der Skulptur. Die Figur eines kleines Mädchens soll Milica Rakić darstellen, die am 17. April 1999 als Dreijährige durch NATO-Streumunition getötet wurde. Eigentliches Ziel des Angriffs war wohl eine Militärbasis in rund einem Kilometer Entfernung. (Foto: Simon Legner/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das damalige Vorgehen der Medien wiederholte sich – für unvoreingenommene Betrachter noch deutlicher erkennbar – im Zusammenhang mit Corona. Erst seit die Pandemie faktisch beendet und in die endemische Phase eingetreten ist, häufen sich auch in den Leitmedien Berichte über die teils erschreckenden Nebenwirkungen oder die mangelnde Wirksamkeit der Corona-Impfung. Oder über die schädlichen Folgen der Corona-Maßnahmen etwa auf Psyche und Gesundheit von Kindern. Zuvor galten die verordneten Einschränkungen noch als unbedingt nötig, um ein Massensterben nicht nur der „vulnerablen Gruppen“ zu verhindern. Und die Impfung galt (und gilt großteils bis heute) als Allheilmittel gegen das Virus. Wer dagegen seine Stimme erhob, wurde schnell zum „Querdenker“ oder gar zum „Nazi“. Kurz: zum Außenseiter. Auch innerhalb der Familie.

Die Spaltung vertieft sich

Nun also der Krieg in der Ukraine. Wieder ist die Leit-Meinung der großen Medien nahezu flächendeckend die der Regierung. Wieder überbieten sich Politiker in immer neuen Forderungen und Anschuldigungen an die Adresse der Andersdenkenden. Und wieder vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft, stehen abweichende Stimmen am Pranger. In der Öffentlichkeit und im Kreis der Familie. Wieder drohen Freundschaften zu zerbrechen. Und mancher, der in Bezug auf den Krieg vermeintliche Gewissheiten des Westens in Frage stellt, ist besser still. Selbst wenn er vielleicht sogar Verbindungen in die Ukraine oder den Donbass hat und die dortige Situation einigermaßen unzensiert mitbekommt.

Wer sein Augenmerk allein auf den 24. Februar und die Monate danach richtet, muss zum Schluss kommen, dass die alleinige Schuld an Krieg und Eskalation bei Russland liegt. Bei Wladimir Putin. Die Vorgeschichte der Invasion spielt dann dieselbe Rolle, die sie auch in den meisten deutschen Medien spielt: keine. Dann verwundert es auch nicht, dass jeder, der Russlands Kriegsschuld relativiert, als böser Propagandist des Kreml gilt. Wetten, dass objektive Formen der Berichterstattung und freiere Diskussionen wieder zunehmen, sobald der Krieg beendet ist? Dann dürfte auch das Sterben im Donbass seit 2014 wieder vermehrt zur Sprache kommen. Und der Druck, den die NATO über Jahre gegen Russland aufbaute.

Thomas Wolf

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Weihnachten: Mehr als nur ein kirchliches Fest

Auch wenn das immer mehr Menschen nicht präsent oder zumindest egal ist: Weihnachten ist das Fest der Geburt Jesu Christi. Eines Mannes, den Milliarden Christen weltweit als Sohn Gottes verehren. Jeder Versuch, die christliche Feier zu einem Winter- oder Lichtfest umzudeuten, ist daher zum Scheitern verurteilt. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Weihnachten längst mehr ist als die Erinnerung an die Geburt des Mannes aus Nazareth vor gut 2000 Jahren, dessen Leben und Wirken die Weltgeschichte wie die keines Zweiten verändert hat. Weihnachten ist das wohl wichtigste Fest, das in Deutschland begangen wird. Ein wesentlicher Bestandteil der deutscher Kultur. Ein Fest des Friedens und der Familie für jede Religion. Und auch für Menschen ohne religiöse Prägung.

Weihnachten auf ein reines Winterfest zu reduzieren, greift zu kurz. Ohne seine christlichen Wurzeln ist das wichtigste Fest der Deutschen, das an die Geburt Jesu Christi erinnert, nicht denkbar. (Foto: Pixabay)

Dass Christi Geburt ausgerechnet am 24./25. Dezember gefeiert wird, dürfte auf ein altrömisches Fest der winterlichen Wiedergeburt des Sonnengottes Sol zurückzuführen sein. Zumindest ist das eine gängige Theorie. Die frühen Christen identifizierten ihren Heiland offenbar mit dem römischen Gott oder wenigstens mit dessen Symbol, der Sonne. Auch eine Verbindung zu dem aus persischem Raum stammenden Mithras-Kult der Spätantike ist möglich. Ein Zusammenhang mit Winterfesten der alten Germanen wird zwar in populärwissenschaftlichen Büchern immer wieder diskutiert, gilt aber als unwahrscheinlich. Gut möglich ist jedoch, dass bestimmtes Brauchtum wie die weihnachtliche Nutzung von Tannengrün im Kern auf germanische Ideen zurückgeht.

Fest der bürgerlichen Familie

Sicher ist, dass spätestens im 19. Jahrhundert das rein christliche Weihnachtsfest eine neue Gestalt annahm. Es wurde zu einem Fest der bürgerlichen Familie. An Heiligabend und am 25. Dezember versammelte man sich um den Christbaum, aß und feierte mit den Verwandten und machte sich gegenseitig mit Geschenken eine Freude. Dazu wurden adventliche Lieder wie das 1818 erstmals aufgeführte „Stille Nacht, heilige Nacht“ gesungen. Noch im Mittelalter waren Geschenke eher mit dem Gedenktag des heiligen Nikolaus verbunden. Der spätantike Bischof aus Kleinasien galt als Gabenbringer, dessen Werk fortgesetzt wurde.

Der amerikanische Santa Claus geht auf den heiligen Nikolaus zurück. Vom deutschen Weihnachtsmann unterscheidet er sich vor allem dadurch, dass er seine Geschenke mit einem Rentier-Schlitten ausliefert. (Foto: Douglas Rahden)

Martin Luther, der mitteldeutsche Reformator und Begründer des evangelischen Christentums, steht am Anfang des weihnachtlichen Schenkens. Er lehnte den katholischen Heiligenkult ab – und damit auch den Nikolaus. Statt seiner sollte der „Herre Christ“ die Menschen bescheren. Eben an Weihnachten. Aus ihm wurde schließlich das Christkind. Heute gilt es vor allem im überwiegend katholischen Süden des deutschen Sprachraums als weihnachtlicher Gabenbringer. Im protestantischen Norden dagegen bringt meist der Weihnachtsmann die Geschenke. Ironischerweise also gerade die säkulare Version des Nikolaus. In den USA wurde der übrigens zum Santa Claus. Mit knallrotem Mantel und Rentier-Schlitten.

Den Tannenbaum mitgebracht

Der Kern des heute weltweit verbreiteten Weihnachts-Brauchtums stammt also aus Deutschland. Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, fränkisch-thüringischer Prinzgemahl der britischen Königin Victoria, soll das wohl typischste Utensil der deutschen Weihnacht mit nach England gebracht haben: den Tannenbaum. Heute ist er nirgendwo mehr wegzudenken. In den USA nicht, aber auch nicht im mehrheitlich muslimischen Syrien, wo Christen nur eine kleine Minderheit stellen. Auch Weihnachtsmärkte sind längst weltweit verbreitet. Und nicht mehr nur in Wien, München oder Bautzen, wo ihre Tradition historisch am weitesten zurückreicht.

Weihnachtsbäume in Chile. Hier findet das Fest der Geburt Christi im Sommer statt. (Foto: W. Bulach/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)
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Im Blickpunkt

Wo die Wurzeln des Reformators liegen

Martin Luther ist so etwas wie der Superstar der Reformation. Hätte er nicht am 31. Oktober 1517 seine berühmten 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt – die deutsche Geschichte wäre womöglich anders verlaufen. Wie kein anderer prägte der abtrünnige Augustinermönch Luther den religiösen Neubeginn im deutschsprachigen Raum. Mit keinem anderen Ort ist sein Name so eng verbunden wie mit der „Lutherstadt“ Wittenberg an der Elbe. Bestenfalls die Wartburg im thüringischen Eisenach, wo der Reformator die Bibel ins Deutsche übersetzte, kann Wittenberg das Wasser reichen. Luthers Wurzeln aber liegen woanders: im Mansfelder Land am Rande des Harzes.

Das Lutherdenkmal auf dem Marktplatz von Eisleben. Im Hintergrund: das Rathaus der Lutherstadt (links) und der Turm der Andreaskirche. (Foto: FB)

In Eisleben ist es schier unmöglich, Luther aus dem Weg zu gehen. Auf jedem Gully-Deckel prangt sein Name. Museen sind ihm gewidmet, Kirchen erinnern an sein Wirken. Ein „Lutherweg“ führt von Wirkungsstätte zu Wirkungsstätte. Von Häuserfassaden und vom Straßenboden grüßen Luther-Zitate. Vermutlich würde es den Besucher kaum verwundern, wenn der Reformator quicklebendig um die Ecke käme. In dem kleinen Städtchen in Sachsen-Anhalt, das wenig mehr als 20.000 Einwohner zählt, ist Luther allgegenwärtig. Hier wurde er 1483 geboren. Und hier starb er auch 1546 mit 62 Jahren. Seit 1946, seit Luthers 400. Todestag, nennt Eisleben sich daher stolz wie Wittenberg: „Lutherstadt“.

Stolz und entschlossen

Auf dem Marktplatz steht Eislebens berühmtester Sohn, dem Rathaus den Rücken gekehrt, stolz, entschlossen und trotzig, die päpstliche Bannbulle in der rechten und die Bibel in den linken Hand. Seit 1883 steht der mächtige Bronze-Luther auf dem Markt. Das Denkmal schuf der preußische Bildhauer Rudolf Siemering. Den Sockel aus Granit zieren drei Reliefs, die Luthers Leben und Wirken illustrieren: der Reformator im Kreise seiner Familie, die Disputation mit dem papsttreuen Kontrahenten Johannes Eck, die Bibelübersetzung auf der Wartburg. Ein viertes Relief steht für den Sieg des Guten über das Böse.

Martin Luther auf einem Porträt aus der Werkstatt des Malers Lucas Cranach des Älteren. (Foto: gemeinfrei)

Nach Jahrzehnten der atheistisch geprägten DDR-Herrschaft und Jahren der Säkularisierung gehört heute nur noch rund jeder siebte Einwohner von Eisleben einer der beiden großen christlichen Kirchen an. Ihren Luther aber kann der Stadt keiner nehmen. Selbst die DDR-Oberen störten sich an seiner Frömmigkeit nicht und erkoren ihn spätestens zum Lutherjahr 1983 zu einer Art Vorläufer des Sozialismus. Das hatten sie zuvor bereits – etwas zutreffender – mit Thomas Müntzer gemacht. Der radikale Prediger war zeitweise Luthers Mitstreiter, dann aber sein erbitterter Kritiker. Als Führer aufständischer Bauern unterlag er 1525 bei Bad Frankenhausen in Thüringen einem verbündeten Fürsten-Heer, wurde festgenommen, brutal gefoltert und hingerichtet. Die DDR verehrte Müntzer als deutschen Nationalhelden.

Kein Schritt ohne Luther

Kaum ein Ort in der damaligen DDR, der etwas auf sich hielt, kam ohne Thomas-Müntzer-Straße aus. In Eisleben dagegen lässt sich kein Schritt gehen, ohne Luther zu begegnen. In den Schaufenstern der Geschäfte prangt sein Antlitz auf Büchern, Touristenführern und Spirituosen. Von Straßenschildern und Wegweisern grüßt sein Name. Ein Gymnasium, das auf Luther selbst zurückgeht, ist nach ihm benannt. Bei körperlichen Beschwerden hilft ein Gang zur Luther-Apotheke. Und für das leibliche Wohl sorgt der Wirt der Lutherschenke. Das Gasthaus wirbt mit einer jener deftigen Aussagen, für die Luther schon zu Lebzeichen berüchtigt war: „Ich fresse wie ein Böhme und saufe wie ein Deutscher.“

Hinter Eislebens Rathaus ragen die Türme der spätgotischen Andreaskirche in die Höhe. Von ihrer Kanzel, die natürlich auch nach dem Reformator benannt ist, hielt Luther seine vier letzten Predigten. Nur wenige Schritte von dem Gotteshaus entfernt starb er am 18. Februar 1546. Sein „Geburtshaus“ – natürlich in der Lutherstraße gelegen – ist eines der ersten Museen der Welt. 1693 wurde das Haus errichtet, um protestantische Pilger und Luther-Fans anzulocken. Luthers wahres Geburtshaus war 1689 abgebrannt. Der Museumsbau hat nach Ansicht von Historikern kaum eine Ähnlichkeit zu dem ursprünglichen Gebäude.

Schloss Mansfeld war einst das Zentrum einer Grafschaft, deren Herrscher zu den ältesten Adelshäusern des Heiligen Römischen Reichs zählten. (Foto: FB)

Das Mansfelder Land, die hügelreiche Region um und bei Eisleben, ist echtes Lutherland. Nur rund zehn Kilometer nordwestlich des Geburtsortes des Reformators liegt eine weitere „Lutherstadt“, die noch dazu ihrer ganzen Umgebung den Namen gegeben hat: Mansfeld. Im Mittelalter war das Städtchen Hauptort einer Grafschaft, deren Herrscher zu den ältesten Adelshäusern des Heiligen Römischen Reichs zählten. Das mächtige Schloss der Grafen von Mansfeld, eine der größten Burgen Mitteldeutschlands, kündet noch von der einstigen Bedeutung des Ortes. Auf einem steilen Felsen thront es hoch droben über dem Stadtkern.

Kindheit in Wohlstand

In der Lutherstraße Nr. 26 in Mansfeld verbrachte der kleine Martin ab 1484 seine Kindheit. Am Wohnhaus seiner Eltern erinnert eine Plakette, die auf der Giebelseite in die Fassade eingelassen ist, von der Sanierung des Hauses anlässlich des 500. Geburtstags des Reformators. 1983 war das. Luther wurde damals von der DDR vereinnahmt. Auf der anderen Straßenseite fällt der Blick auf einen Betonklotz, der überhaupt nicht in die Reihe der alten Bauten passen will. Das „Museum Luthers Elternhaus“ widmet sich der Kindheit des späteren Bibelübersetzers. Einer Kindheit übrigens, in der es dem kleinen Martin durchaus nicht schlecht ging. Vater Hans (1459–1530) gehörte als Besitzer von Erzgruben zu den reicheren Bürgern Mansfelds.

Luthers Elternhaus in Mansfeld. Hier wuchs der spätere Reformator auf. (Foto: FB)

„Ich bin ein Mansfeldisch Kind“, sagte Luther und blieb der Stadt bis zu seinem Tode verbunden. Wie in Eisleben, so ist er auch hier unübersehbar. Ein paar Schritte hinter dem Elternhaus erinnert ein altes Schaufenster an das Reformationsjubiläum 2017. In Mansfeld ging Martin zur Schule, lernte Lesen, Schreiben, Rechnen, Singen und Latein. Die Stadtinformation ist heute in jener „Lutherschule“ untergebracht. Gleich daneben liegt die Kirche St. Georg. Hier war Luther Ministrant. Ein Bild von ihm, das vermutlich der Schule des Malers und Luther-Freunds Lucas Cranach entstammte, war hier zu sehen. Bis es im 19. Jahrhundert übermalt wurde.

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Warum „Regime von Kiew“?

Immer wieder spricht Wladimir Putin, sprechen die russischen Behörden vom „Kiewer Regime“ oder „Regime von Kiew“. So auch jüngst wieder, als Putin nach dem Sprengstoffanschlag auf die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch eine härtere Gangart gegenüber der Ukraine ankündigte. „Regime“: Das klingt herabwürdigend – und soll wohl auch so klingen. In Kiew sitzt demnach eine Regierung mit fragwürdiger Legitimation. Zumindest für Russland. Verbirgt sich dahinter mehr als die propagandistische Rhetorik eines verfeindeten Landes?

Die Brücke über die Straße von Kertsch hat strategische Bedeutung für die Versorgung der Krim-Halbinsel. Ein Anschlag, der mutmaßlich vom ukrainischen Geheimdienst verübt wurde, beschädigte das Bauwerk vor einigen Tagen. (Foto: Rosavtodor.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Zunächst eine Begriffsbestimmung: Regime kommt aus dem Französischen und bedeutet schlicht so viel wie „Regierungsform“. Das Wort ist in seinem Ursprung also nicht negativ konnotiert. In diesem Sinne gebraucht bis heute auch die Politikwissenschaft den Begriff. Wer dagegen landläufig von einem Regime spricht, meint damit in aller Regel eine irreguläre Herrschaft. So auch Putin. Für ihn sitzt in Kiew eine illegitime Regierung – eben ein „Regime“. Wie für die USA einst im Irak das „Saddam-Regime“ oder für die NATO-Staaten das „Milošević-Regime“ in Jugoslawien.

Für den Westen dagegen ist Wolodymyr Selenskyj der legitime, demokratisch gewählte Präsident der Ukraine. Was also veranlasst Wladimir Putin, Selenskyj die Legitimität abzusprechen? Will er seinen Kriegsgegner einfach nur diskreditieren? Ihn verbal auf eine Ebene mit dem früheren irakischen Diktator Saddam Hussein stellen? Oder ist das russische Gerede vom „Kiewer Regime“ die Fortsetzung des vom Kreml ausgegebenen Ziels der „Entnazifizierung“ der Ukraine mit anderen Mitteln?

Keine reine Propaganda

Bei genauerer Betrachtung ist das „Regime von Kiew“ keine reine Kreml-Propaganda. Oder anders gesagt: Der propagandistische Gebrauch des Ausdrucks „Regime“ für die ukrainische Regierung durch Moskau bedeutet nicht, dass derlei Titulatur jegliche Berechtigung fehlen würde. Die Spurensuche führt fast ein Jahrzehnt zurück: in die Jahre 2013 und 2014. Präsident der Ukraine war damals Wiktor Janukowytsch, der westlichen Medien als prorussisch galt, in mehrerlei Hinsicht aber für einen Ausgleich zwischen Ost und West stand.

Bei der Wahl des Staatsoberhaupts 2010 hatte sich Janukowytsch, der aus dem großteils russischsprachigen Osten der Ukraine stammt, gegen die vom Westen unterstützte Julija Tymoschenko durchgesetzt. Anders als unter seinem russlandkritischen Amtsvorgänger Wiktor Juschtschenko näherte sich die Ukraine unter Janukowytschs Ägide wieder dem Kreml an. Freilich ohne die guten Kontakte zum Westen aufzugeben. Die Ukraine, betonte Janukowytsch, wolle eine „Brücke zwischen Russland und der EU“ sein.

Unterzeichnung ausgesetzt

Im November 2013 setzte die ukrainische Regierung die Unterzeichnung eines geplanten Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union aus, das Janukowytsch stets unterstützt hatte. Die Verhandlungsführung der EU hatte den Ukrainern offenbar Grund zu der Annahme geliefert, sie müssten sich zwischen den beiden Wirtschaftspartnern EU und Russland entscheiden. Das aber wollte Janukowytsch nicht. Ihm schwebte eine neutrale Ukraine auf halbem Weg zwischen Brüssel und Moskau vor.

Die Proteste auf dem Maidan zogen Zigtausende an. Ziel war der Sturz der Regierung Janukowytsch. (Foto: Nessa Gnatoush/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Die prowestliche Opposition wiederum wertete die vorläufige Absage an das Assoziierungsabkommen als Absage an Europa und Rückkehr in die Arme des Kreml. In kurzer Zeit organisierten Tymoschenkos „Allukrainische Vereinigung Vaterland“, die Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (UDAR) des Ex-Profiboxers Vitali Klitschko und die weit rechts stehende nationalistische Swoboda Massendemonstrationen auf dem zentralen Kiewer Maidan-Platz. Auch der Rechte Sektor, eine militante rechtsextreme Schlägertruppe, war prominent an den Protesten beteiligt.

Dollars für die Revolution

Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren richteten sich Massendemonstrationen gegen die gewählte Regierung der Ukraine. Bereits 2004 war der Maidan Schauplatz gewaltiger Proteste. Janukowytsch, bis dato Ministerpräsident der Ukraine, war offiziellen Angaben zufolge zum Präsidenten gewählt. Sein unterlegener Kontrahent Wiktor Juschtschenko akzeptierte seine Niederlage nicht und sprach von Wahlbetrug. Nach wochenlangen Protesten erklärte das Oberste Gericht die Wahl für ungültig und ordnete ihre Wiederholung an. Dabei erhielt Juschtschenko die meisten Stimmen. Aus den USA sollen mehr als 60 Millionen Dollar zur Unterstützung jener „Orangenen Revolution“ geflossen sein.

2004, bei der „Orangenen Revolution“, blieben die Proteste gegen die gewählte Regierung friedlich. Zehn Jahre eskalierte die Gewalt. (Foto: jf1234/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Anders als zehn Jahre zuvor eskalierten die Proteste 2014. Gewalt durch Sicherheitskräfte und Demonstranten wechselte sich ab. Während etwa die Bundesregierung nach Einschätzung des Münchner Politologen Günther Auth anfangs noch um eine Vermittlung zwischen Janukowytsch und der Opposition bemüht war, ergriffen andere westliche Staaten klar Partei. „Neokonservative Regierungsnetzwerke der USA hatten im Verbund mit den Spitzen der NATO und den Regierungen Polens und Litauens schon lange vor Beginn der Proteste ukrainische Nationalisten zu einer militanten Opposition gegen die prorussische Regierung Janukowytsch aufgebaut“, ist Auth überzeugt.

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Die Grünen und die Demokratie

„Egal, was meine deutschen Wähler denken“ – mit diesen Worten bekannte sich Bundesaußenministerin Annalena Baerbock Anfang September zur unverbrüchlichen Solidarität der rot-grün-gelben Bundesregierung mit der angegriffenen Ukraine. Nach Ansicht ihrer Kritiker würdigte sie damit das Volk als demokratischen Souverän herab. Und das ausgerechnet als Vertreterin einer Partei, die sich viele Jahre als Speersitze des demokratischen Fortschritts sah. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich: Von den Grundsätzen ihrer Anfangsjahre haben sich die Grünen längst verabschiedet.

Linke und Konservative

Als sie sich 1980 gründeten, waren die Grünen das, was man heute wohl eine Graswurzel-Bewegung nennen würde. Aus verschiedenen Milieus kommend, schlossen sich Menschen zusammen, die zuvor wenig mit Parteipolitik am Hut hatten. Man war auf Konsens ausgerichtet, sah sich als „basisdemokratisch“ und wollte das Land von unten verändern. Die Partei, der schnell der Einzug in den Bundestag gelang, vereinte linke Straßenkämpfer, konservative Umweltschützer, Friedensaktivisten, Kernkraftgegner und radikale Gesellschaftsveränderer.

Ricarda Lang spricht auf einer Demonstration der „Fridays for Future“. Ihre Grünen sind eng mit der Klimaschutzbewegung vernetzt. (Foto: Stefan Müller (climate stuff) from Germany/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Politische Macht sollte nach Ansicht der frühen Grünen begrenzt und kontrolliert werden. Dies galt auch innerhalb der Partei. Die Doppelspitze – derzeit Ricarda Lang und Omid Nouripour – zeugt noch heute davon. Die einst typisch grüne Trennung von Amt und Mandat ist dagegen seit Jahren deutlich aufgeweicht. Bereits seit 2003 dürfen Teile des Bundesvorstands zugleich Abgeordnete sein. Und ein Beschluss von 2018, der auf Robert Habeck zurückgeht, erlaubt die gleichzeitige Besetzung von Amt und Mandat sogar generell für acht Monate.

Nach der Gründung abserviert

Von der bunten Truppe der grünen Gründungsphase war noch schneller kaum etwas übrig. Die Konservativen in der Partei wurden abserviert, kaum war die Gründung richtig abgeschlossen. Beispiel: Herbert Gruhl. Der Sachbuchautor gehörte mehrere Jahrzehnte der CDU an. 1979 kandidierte er bei der ersten direkten Europawahl als Spitzenkandidat für die „Sonstige Politische Vereinigung Die Grünen“. Als sich im Jahr darauf die grüne Partei bildete, unterlag Gruhl bei der Wahl zum Bundesvorsitz. Er selbst meinte, der linke Flügel habe seine Wahl bewusst zu unterdrücken versucht.

1983 zogen die Grünen um Otto Schily und Petra Kelly erstmals in den Bundestag ein. Ein Großteil der Konservativen hatte die Partei zu diesem Zeitpunkt bereits verlassen. (Foto: Bundesarchiv/B 145 Bild-F065187-0022/Engelbert Reineke/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Schon 1981 verließ Gruhl die Partei und gründete im Jahr darauf die Ökologisch-Demokratische Partei (ÖDP). Sie sollte dem konservativen Flügel der Grünen einen neue Heimat bieten. Mit Gruhl traten etwa ein Drittel der Grünen-Mitglieder aus. Auch August Haußleiter und Baldur Springmann wurden in der neuen Partei, die sie mitbegründet hatten, nicht glücklich. Springmann beteiligte sich an der ÖDP-Gründung und hatte später Kontakt zu rechten Gruppen. Der als national geltende Haußleiter saß noch bis 1987 für die Grünen im bayrischen Landtag. Dann legte er sein Mandat aus gesundheitlichen Gründen nieder. Mit Wilhelm Knabe war bereits 1984 der letzte Konservative aus dem Kreis der grünen Bundessprecher ausgeschieden.

Grüne nicht mehr für Volksentscheide

Bundesweite Volksentscheide gehörten über viele Jahre zu den zentralen Forderungen der Grünen. Allerdings scheiterte die Umsetzung vor allem an der Blockade der Unionsparteien. Zuletzt wurde der Widerstand allerdings spürbar weniger, vor allem bei der CSU in Bayern. Bevor nun aber womöglich ein neuer Anlauf unternommen werden konnte: die Kehrtwende. Die Grünen wollen nicht mehr! In ihrem Programm zur Bundestagswahl 2021 war die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden nicht mehr enthalten. Auch die Ampelkoalition sieht keine Notwendigkeit, die direkte Demokratie auszubauen. Von allen Bundestagsparteien steht damit nur noch die AfD vorbehaltlos zur Mitbestimmung des Souveräns.

Woran das liegen könnte? Woher der Wind wehen dürfte, zeigt ein Schreiben des Vereins „Mehr Demokratie“, den Mitglieder und Unterstützer vor wenigen Tagen erhalten haben. Der Brief, der von Bundesvorstandssprecherin Claudine Nierth und Vorstandsmitglied Karl-Martin Hentschel unterzeichnet ist, warnt vor einem „Deichbruch im Norden“. Gemeint ist die Bürgerbeteiligung in Schleswig-Holstein. Der im Juni vereinbarte Koalitionsvertrag von CDU und Grünen sieht nämlich vor, die direkte Demokratie im hohen Norden einzuschränken. „Mit einer Generalklausel soll die Landesregierung unliebsame Bürgerbegehren in den Kommunen einfach unterbinden können“, beklagt der Verein.

Windkraftanlagen im Abendrot. Bürgerbegehren gegen ihren Bau könnten schon bald in Schleswig-Holstein unmöglich werden. (Foto: Pixabay)

Die laut Seite 83 des Koalitionsvertrags vorgesehene Generalklausel lautet so: „Ein Bürgerbegehren findet nicht statt über Entscheidungen in Selbstverwaltungsaufgaben, die nach Feststellung der Landesregierung unverzichtbare Voraussetzung für Infrastruktur- oder Investitionsvorhaben von landes- oder bundesweiter Bedeutung für die Versorgung der Bevölkerung mit wichtigen Gütern oder Dienstleistungen sind oder Projekte, die der Erreichung der Klimaziele der Landesregierung dienen. Die Feststellung der Landesregierung kann auf Antrag einer obersten Landesbehörde für eine einzelne Gemeinde oder mehrere Gemeinden getroffen werden.“

Demokratie abbauen?

Damit wäre ein Einspruch der Bürger gegen Photovoltaik-Anlagen oder Groß-Windräder künftig nicht mehr möglich. Oder zumindest nur noch dann, wenn es der Landesregierung passt. „Mehr Demokratie“ vermutet die CDU hinter den Plänen. Aber ist das realistisch? Natürlich können die Christdemokraten mit der Generalklausel Infrastruktur-Vorhaben besser durchdrücken. Das Verbot des Widerspruchs gegen die Klimapolitik aber trägt die Handschrift der Grünen. Haben nicht auch Greta Thunberg und ihre grüne deutsche Mitstreiterin Luisa Neubauer gefordert, demokratische Prinzipien zugunsten des Klimaschutzes abzubauen?

„Wir müssen versuchen, diesen Deichbruch zu verhindern“, fordert „Mehr Demokratie“ mit Blick auf Schleswig-Holstein. Man befürchtet, dass dem Vorbild aus dem Norden bald weitere Länder folgen werden. „Schon springt Baden-Württemberg auf“, liest man in dem Brief. „Dort hat der Präsident des Gemeindetages bereits ein ähnliches Gesetz gefordert.“ Wie in Schleswig-Holstein stellen auch in Baden-Württemberg Grüne und CDU die Landesregierung. Wenn auch unter grüner Führung.

Grüne Wahlgewinner

Geschadet hat den Grünen ihre zunehmende Distanz zum Souverän bislang nicht. Auch Baerbocks Äußerung, bei der Unterstützung der Ukraine nehme sie keine Rücksicht auf ihre Wähler, hat sie offenbar keine Sympathien gekostet. Ganz im Gegenteil: Bei der Landtagswahl in Niedersachsen am Sonntag legten die Grünen um fast sechs Prozentpunkte zu. Sie sind damit größter Wahlgewinner neben der AfD.

Thomas Wolf

Annalena Baerbock beim Besuch in Kiew. Ihre Unterstützung für die Ukraine ist ihr wichtiger als das, was ihre Wähler in Deutschland empfinden. (Foto: Kmu.gov.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)
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Wird der Iran zum nächsten Syrien?

Die Situation im schiitisch geprägten Iran eskaliert immer weiter. Nachdem eine junge Kurdin nach ihrer Festnahme unter ungeklärten Umständen gestorben war, gingen in der Hauptstadt Teheran und in den kurdischen Landesteilen Zigtausende Menschen auf die Straße. Die 22-jährige Mahsa Amini soll gegen die islamischen Kleidervorschriften verstoßen haben. Die Behörden machen für ihren plötzlichen Tod eine Vorerkrankung am Herzen verantwortlich. Ihre Familie und Oppositionelle vermuten dagegen, sie sei im Gewahrsam der Sittenpolizei durch Schläge gegen den Kopf getötet worden.

Aufstand gegen die Mullahs

Die anfänglichen Proteste gegen Polizeigewalt und für Frauenrechte nehmen immer mehr die Züge eines Aufstands gegen das klerikale Mullah-Regime an. In der Hauptstadt warfen Demonstranten Molotow-Cocktails. Die Polizei setzt Tränengas und scharfe Munition ein. Mehr als 80 Menschen sollen bei den Unruhen nach Informationen von Amnesty International bereits ums Leben gekommen sein. Darunter sind auch Sicherheitskräfte. Teheran spricht von Krawallmachern und Terroristen, gegen die es vorgehen müsse. Iranische Truppen griffen sogar kurdische Stellungen im benachbarten Irak an.

Iranische Polizisten während einer Demonstration. (Foto: Fars Media Corporation/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Beobachter erinnern die Auseinandersetzungen im Iran an den Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011. Aus einzelnen Protestaktionen gegen die autoritäre Politik von Präsident Baschar al-Assad entwickelte sich binnen weniger Monate ein rücksichtslos geführter Krieg verschiedener militanter Gruppen gegen die Regierung in Damaskus. Damals wie heute stellte sich der Westen schnell an die Seite der vorgeblich demokratischen Proteste gegen das autoritäre Regime. Tatsächlich war von der demokratischen Gesinnung der syrischen Opposition bald nichts mehr zu spüren.

Sunnitischer Terror

Stattdessen setzten sich radikale Islamisten und militante Extremisten unter den Aufständischen durch. Die sunnitische Terrorgruppe Al-Qaida und die aus ihrer irakischen Sektion hervorgegangene Terrormiliz „Islamische Staat“ (IS) griffen in den Bürgerkrieg ein. Zeitweise standen weite Teile Syriens und des nördlichen Iraks unter IS-Kontrolle. Kurdische Kämpfer und dem Iran nahestehende Schiiten-Milizen drängten die sunnitischen Dschihadisten zurück. Heute gilt der IS zwar als weitgehend besiegt. Aus dem Untergrund heraus allerdings wird er immer wieder aktiv.

Die islamisch-konservativ geführte Türkei stand zeitweilig im Verdacht, im Kampf gegen das ihr verhasste, weil säkulare Assad-Regime mit den Dschihadisten gemeinsame Sache zu machen. Belegt ist immerhin, dass die Türkei eigene Islamisten-Verbände ausgerüstet und in Syrien eingesetzt hat. Rund 4000 von ihnen wurden später als Söldner angeworben, um in der umstrittenen Kaukasus-Region Bergkarabach gegen christliche Armenier zu kämpfen. Dabei soll sogar von einem „heiligen Krieg gegen die Christen“ in Bergkarabach die Rede gewesen sein.

Syriens Präsident Baschar al-Assad (links) besucht mit Wladimir Putin eine orthodoxe Kirche. Rechts: Patriarch Johannes X. von Antiochien. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Auch seitens der westlichen Politik war es mit der Demokratie offenbar nicht allzu weit her. Der Nahost-Experte und ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer warf den Regierungen Europas und der USA schon 2012 vor, an einer echten Demokratie in Syrien nicht interessiert zu sein. „Der größte Widerstand gegen demokratische Reformen geht derzeit von der westlichen Politik aus“, sagte Todenhöfer damals. Assad, den er persönlich kennt, bescheinigte der Ex-Abgeordnete einen ernsthaften Reformwillen. „Ich habe den Eindruck, dass Assad Syrien in der Tat in Richtung Demokratie umgestalten will.“

Verbündeter Irans

Todenhöfer hat den syrischen Präsidenten als ruhigen Mann erlebt, der rational argumentierte. Er sei „nicht der typische Macho-Diktator, als der er im Westen dargestellt wird“. Für Todenhöfer stellte sich der Westen aus einem ganz bestimmten Grund auf die Seite der syrischen Opposition: Er hoffte, mit Assad einen wichtigen Bündnispartner des Iran zu beseitigen. „Assad könnte morgen die perfekte Demokratie in Syrien einführen – solange er Verbündeter Irans ist, würden die USA immer einen Grund finden, ihn zu bekämpfen“, zeigte Todenhöfer sich überzeugt.

Hier nun schließt sich der Kreis zu den eskalierenden Protesten im Iran. Werden sie in Kürze ebenfalls in einen Bürgerkrieg münden? Exiliraner hoffen bereits auf eine Revolution, die das strenge schiitische Herrschaftssystem hinwegfegen könnte. Womöglich stacheln westliche Geheimdienste die Proteste sogar ganz bewusst an. Gerade die USA dürften ein großes Interesse daran haben, dass das Mullah-Regime fällt. Nicht nur wegen des seit Jahren schwelenden Atomstreits. Auch im Ukraine-Krieg hat das Land sich für den westlichen Geschmack etwas zu pro-russisch positioniert.

Thomas Wolf

Irans Revolutionsführer Ali Chamenei. Die Massenproteste richten sich zunehmend gegen sein schiitisch-konservatives Mullah-System. (Foto: Khamenei.ir/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)
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Die DDR – eine patriotische Alternative?

An diesem Freitag würde die DDR ihren 73. Geburtstag feiern. Wenn sie nicht 1990 kurz vor ihrem wichtigsten Feiertag, dem Tag der Republik, in der Bundesrepublik aufgegangen wäre. In diesen Tagen der Energie- und Wirtschaftskrise, da die Bundesbürger die Deutsche Einheit als Misserfolg ansehen, erscheint die DDR zunehmend als passable Alternative zur kriselnden BRD. Geordnete Verhältnisse und eine vergleichsweise ausgeprägte soziale Sicherheit können punkten, wenn um einen herum alles in Scherben fällt. Ja, der zweite deutsche Staat gilt zunehmend als Alternative zur BRD. Durchaus auch für Patrioten, denen die Bundesrepublik mitunter als antideutsch gilt. Aber ist die DDR wirklich als Alternative geeignet?

Zum letzten Mal Geburtstag feierte die DDR am 7. Oktober 1989. Eine Ehrenparade der Nationalen Volksarmee leitete die Feierlichkeiten ein. Auf der Ehrentribüne: SED-Chef Erich Honecker und Sowjet-Reformer Michail Gorbatschow. Nicht einmal ein Jahr später war der sozialistische deutsche Staat Geschichte. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-1989-1007-402/Klaus Franke/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Tatsächlich kennzeichnete die DDR ein ausgeprägter Patriotismus, den man als „Wessi“ gemeinhin überhaupt nicht mit dem herrschenden linken System verbindet. In der DDR aber bedeutete links nicht antideutsch, nicht unpatriotisch. Mit Vaterlandsliebe konnte man hier sehr wohl etwas anfangen – anders als ein aus dem Westen stammender grüner Bundesminister der Gegenwart. Bis zuletzt stieß man in dem „sozialistischen Staat deutscher Nation“ aufs Vaterland an. So nannte die DDR sich in ihrer Verfassung von 1968. Und auch die bewaffneten Organe wurden bis zur Wende ganz selbstverständlich aufs Vaterland vereidigt. All dies geschah zu einer Zeit, als im Westen viele schon längst nichts mehr von Patriotismus und Nationalgefühl wissen wollten.

Distanzierung von der Bundesrepublik

Wilhelm Pieck, der erste und einzige Präsident der DDR, sagte bei seinem Amtsantritt am 10. Oktober 1949, er werde sich „stets als Sachverwalter der Interessen des ganzen deutschen Volkes betrachten“. Damals verstand sich die neugegründete Republik als politisches System für ganz Deutschland. „Wir haben bewusst darauf verzichtet, für das Linsengericht knechtender Dollarkredite die nationale Zukunft Deutschlands und die Freiheit des deutschen Volkes zu verkaufen“, distanzierte sich Pieck von der Bundesrepublik, die in jenen Jahren am Tropf der USA hing.

„Unsere Brüder und Schwestern leben dort unter dem entwürdigenden Druck eines der deutschen Bevölkerung von den westlichen Besatzungsmächten aufgezwungenen Besatzungsstatus. Deutschland wurde gespalten und die wertvollsten Industriegebiete einem Sonderregime der Ausbeutung und Ausplünderung unterworfen.“ Mit Hilfe des Besatzungsstatus solle die Besetzung Westdeutschlands verewigt werden. Dies würdige einen „Teil unseres Vaterlandes zu einer Kolonie des amerikanischen Imperialismus“ herab.

DDR will die Wiedervereinigung

Ziel der DDR war damals die Wiedervereinigung. „Niemals wird die Spaltung Deutschlands, die Verewigung der militärischen Besetzung Westdeutschlands durch das Besatzungsstatut, die Losreißung des Ruhrgebietes aus dem deutschen Wirtschaftskörper von der Deutschen Demokratischen Republik anerkannt werden“, betonte Pieck. „Und nicht eher werden wir ruhen, bis die widerrechtlich von Deutschland losgerissenen und dem Besatzungsstatut unterworfenen Teile Deutschlands mit dem deutschen Kerngebiet, mit der Deutschen Demokratischen Republik in einem einheitlichen demokratischen Deutschland vereinigt sind.“

Die Gründungsfeier der DDR am 7. Oktober 1949. Wenige Tage später wählten die Abgeordneten Wilhelm Pieck, den Vorsitzenden der SED, zum ersten Präsidenten der Republik. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-W1126-312/Kolbe/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Auch BRD-Oppositionsführer Kurt Schumacher (SPD), selbst glühender Antikommunist, sah im ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer einen „Kanzler der Alliierten“. Später stellten auch die Sozialdemokraten die Westbindung der Bundesrepublik nicht mehr in Frage. So konnten sich US-amerikanische Musik, Kultur und Lebensart ungehindert ausbreiten. Anders in der DDR: Der britische Buchautor Gideon Defoe definiert den zweiten deutschen Staat geradezu über seine deutschsprachige Musik. „Der Osten, das war: (…) die gesetzliche Verpflichtung, Popsongs auf Deutsch zu singen“, schreibt er in seinem „Atlas der ausgestorbenen Länder“.

Rock und Pop auf Deutsch

Inhaltlich ist das zwar nicht ganz zutreffend, denn gesungen wurde teils durchaus auf Englisch oder Französisch. Richtig ist aber, dass die weitaus meisten Stücke im Bereich Rock und Pop in deutscher Sprache erklangen. Das hat ganz offensichtlich den unschätzbaren Vorteil, dass die Zuhörer die Botschaft der Musiker gleich verstehen. Im Westen dagegen blieb deutschsprachige Popmusik bis ins 21. Jahrhundert hinein meist eine Randerscheinung. Zumindest, wenn man von einzelnen erfolgreichen Musikern oder der Neuen Deutschen Welle der 1980er Jahre absieht.

Frank Schöbel zählte zu den erfolgreichsten Musikern der DDR. Das Bild zeigt ihn bei einer Autogrammstunde mit Kindern 1980 in Berlin. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-W0115-047/Hartmut Reiche/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)
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Elon Musk und der Frieden in der Ukraine

Eine skurrile Auseinandersetzung auf Twitter sorgt dieser Tage für Gesprächsstoff. Der südafrikanische Multimilliardär Elon Musk, Gründer des Elektroautoherstellers Tesla und mittlerweile wieder an einem Kauf des Kurznachrichtendienstes interessiert, präsentiert einen Friedensplan für die Ukraine. Und wird dafür angefeindet. Sogar der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj greift in den Streit ein. Bevor er nun offenbar in Ungnade fiel, galt Musk als Unterstützer der Ukraine. Sein Satelliten-Internet-System Starlink half den Kiewer Truppen, die digitale Infrastruktur des Landes nach dem russischen Einmarsch aufrecht zu erhalten.

Elon Musk zofft sich wegen seines Friedensplans auf Twitter mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi. Eigentlich unterstützt Musk die Ukraine. (Foto: Ministério das Comunicações/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Nun hat Musk es sich ganz offensichtlich mit Kiew verscherzt. Hintergrund ist eine Twitter-Nachricht von gestern. Der reichste Mann der Welt schlug darin vor, die jüngsten Volksabstimmungen im Donbass und in den russisch besetzten Gebieten Saporischschja und Cherson unter Aufsicht der Vereinten Nationen zu wiederholen. Wenn dies der Wille der Menschen vor Ort ist, solle Russland seine Truppen abziehen. Die Krim solle dagegen als Teil Russlands anerkannt und ihre Wasserversorgung sichergestellt werden. Die Ukraine erhalte einen dauerhaft neutralen Status.

Krim „seit 1783“ Teil Russlands

Die Krim-Halbinsel, schrieb Musk, sei „seit 1783“ Teil Russlands gewesen. Erst „Chruschtschows Fehler“ habe sie der Ukraine überantwortet. Gemeint ist damit ein umstrittener Rechtsakt von 1954. Damals übertrug Sowjetführer Nikita Chruschtschow die Oberhoheit über die Halbinsel, die zuvor Teil Russlands gewesen war, der Ukraine. In einer Wodka-Laune, mutmaßen manche. Andere vermuten, Chruschtschow wollte sich durch eine Art Morgengabe der Solidarität der Ukrainer sichern. Fest steht nur eines: Chruschtschow hatte selbst engste persönliche und politische Verbindungen zur Ukraine. Und er schenkte seiner langjährigen Heimat eine Halbinsel von strategischer Bedeutung.

Sowjetführer Nikita Chruschtschow war bekannt für seine emotionalen Ausbrüche. Womöglich hat er die Krim 1954 in einer Wodka-Laune der Ukraine geschenkt. (Foto: Anefo/CC0 via Wikimedia Commons)

Dass die Menschen damit nicht unbedingt einverstanden waren, zeigte sich am 20. Januar 1991. An jenem Tag stimmte in einem Referendum eine überwältigende Mehrheit der Krim-Bewohner für die Unabhängigkeit ihrer Halbinsel innerhalb einer erneuerten Sowjetunion. Die Ukraine erkannte die Abstimmung nicht an. So blieb die Krim weiterhin Kiew unterstellt – wenn auch mit gewissen Autonomierechten. Auch ein Beschluss der Volksvertretung der Autonomen Republik Krim vom 5. Mai 1992 änderte daran nichts. Statt der erhofften Unabhängigkeit erreichte man lediglich einen etwas höheren Grad an Selbstständigkeit innerhalb der Ukraine. Erst die Abstimmung von 2014 löste die Krim effektiv von Kiew und machte sie zum Gliedstaat der Russischen Föderation.

Ungünstiger Zeitpunkt

Vielen Menschen, selbst in der Ukraine, dürfte Elon Musks Vorstoß vernünftig erscheinen. Schließlich könnte er womöglich helfen, den Krieg, der mittlerweile mehr als sieben Monate dauert und dessen Vorgeschichte ganze acht Jahre zurückreicht, zu beenden. Für Kiew und seine Unterstützer im Westen kommt der Musk-Tweet dagegen zum ungünstigsten Zeitpunkt. Und das hat seinen Grund: Die ukrainischen Truppen stoßen offenbar immer weiter Richtung Osten vor. Aus dem Oblast Charkiw mussten sich die russischen Streitkräfte bereits weitestgehend zurückziehen. Im Bereich Cherson, heißt es, seien ihre Verteidigungslinien sogar förmlich zusammengebrochen.

Ukrainische Soldaten auf ihrem Vormarsch. Das aktuelle Kriegsglück der Ukraine macht Friedensverhandlungen unwahrscheinlich. (Foto: Mil.gov.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons

Nein, Friedensverhandlungen sind für die ukrainische Regierung dieser Tage so wenig opportun wie wohl noch nie. Der Sieg auf dem Schlachtfeld, den der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bereits vor Monaten beschwor – für die Ukraine scheint er aktuell zum Greifen nah. Entsprechend heftig fiel die Reaktion auf Musks Twitter-Beitrag aus. Selenskyi startete eine Umfrage, welchen Elon Musk die Nutzer eher mögen: denjenigen, der die Ukraine unterstützt. Oder denjenigen, der Russland unterstützt. Erwartungsgemäß liegt der pro-ukrainische Musk meilenweit vorn.

Ukraine-Sieg unwahrscheinlich

„Russland hat dreimal so viele Einwohner wie die Ukraine“ und ein Sieg der Ukraine sei entsprechend unwahrscheinlich, reagierte Musk auf den Shitstorm, der auf ihn einprasselte. Wem die Menschen in der Ukraine am Herzen liegen, der müsse sich für Frieden einsetzen, forderte der Tesla-Mogul. Selenskyi-Berater Mychajlo Podljak meint dagegen: „Es gibt einen besseren Vorschlag.“ Die Ukraine werde ihr Territorium zurückerobern – einschließlich der „annektierten Krim“. Russland werde demilitarisiert, müsse seine Atomwaffen abgeben und „kann niemandem mehr drohen“. Und Andrij Melnyk, Noch-Botschafter der Ukraine in Berlin, kommentierte: „Fuck off.“

Thomas Wolf