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Tödliche Kollision überm Bodensee

Mehr als 70 Tote, auseinandergerissene Familien, eine Ferienregion in Schockstarre und ein Schrecken, der mit der Katastrophe nicht endete. Am 1. Juli 2002 kollidierten über dem Bodensee zwei Flugzeuge. Niemand an Bord überlebte. Nahe der badischen Stadt Überlingen, wo die Trümmer der zerstörten Maschinen auf die Erde fielen, erinnern zwei Gedenkstätten an die Opfer der Tragödie. Es war das schlimmste Unglück in der bundesdeutschen Luftfahrt-Geschichte. Lediglich der Absturz einer Aeroflot-Maschine 1986 in Ost-Berlin und die Flugzeug-Katastrophe von Königs Wusterhausen 1972 in der damaligen DDR forderten mehr Todesopfer.

Nacht zum 2. Juli 2002

Wie schon im vergangenen Jahr, so steht das Gedenken auch 21 Jahre nach dem Unglück im Schatten des Kriegs in der Ukraine. Ein Unglück, das in der Nacht auf den 2. Juli 2002 seinen Lauf nahm. Für Fluglotse Peter Nielsen, Flugverkehrsleiter bei der Schweizer Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, war es zunächst ein Abend wie unzählige zuvor. Gegen 23.20 Uhr meldet sich DHL-Flug 611 aus Bergamo bei Skyguide an. Als Bezirkskontrollstelle ist das Schweizer Unternehmen mit der Flugsicherung im äußersten Süden Baden-Württembergs betraut. Später sollte das Landgericht Konstanz dies als rechtswidrig verurteilen.

DHL-Flug 611 aus Bergamo steuert direkt auf die Tupolew der Bashkirian Airlines zu. (Foto: Anynobody/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Auf Anfrage von DHL-Kapitän Paul Phillips gestattet Nielsen der Frachtmaschine einen Anstieg auf rund elf Kilometer. Dass sich auf derselben Höhe ein anderes Flugzeug nähert, bemerkt er nicht. Es ist eine Tupolew der russischen Gesellschaft Bashkirian Airlines. An Bord von Flug 2937 befinden sich 69 Menschen. Die meisten von ihnen sind Schulkinder aus der russischen Republik Baschkortostan rund um Ufa. Weil der zweite Fluglotse Pause hat, muss Nielsen zwei Radarschirme beaufsichtigen. Und ist einen Moment abgelenkt. Als er die gefährlichen Flugbewegungen erkennt, befiehlt er der Tupolew sofort, in den Sinkflug zu gehen. Nahezu zeitgleich ordnet an Bord das Kollisionswarnsystem den Steigflug an.

Bashkirian-Pilot Alexander Gross und seine Cockpit-Crew sind irritiert und diskutieren die Anweisung. Schließlich gehorchen sie dem Fluglotsen. DHL-Kapitän Phillips folgt derweil der Anweisung seines Bord-Warnsystems und geht mit der Boeing ebenfalls in den Sinkflug. Beide Maschinen befinden sich nun erst recht auf Kollisionskurs! Als Gross ein Ausweichmanöver beginnt, ist es zu spät. Um 23.35 Uhr zertrümmert die DHL-Maschine den Rumpf der Tupolew und lässt sie nördlich von Überlingen abstürzen. Die Boeing trudelt noch ein paar Kilometer durch die Luft und kracht bei Taisersdorf in einen Wald.

Kinder aus Russland

Alle 71 Menschen an Bord sterben. Auch die 49 Kinder aus Baschkortostan. Die Schüler, die bei dem Unglück zu Tode kommen, waren auf dem Weg nach Barcelona zu einer Ferienfreizeit. Daran hätten sie als Belohnung für herausragende schulische Leistungen teilnehmen dürfen. Weil ihr Bus den Moskauer Flughafen zu spät erreichte, waren sie gezwungen, auf die Unglücksmaschine umzubuchen. Ihre Familien sollten die Kinder nie mehr wiedersehen. Manche der Angehörigen zerbrachen an der Schreckensnachricht aus Deutschland. So wie Witali Kalojew, der bei Überlingen seine Frau und zwei Kinder verlor. Für ihn ist Fluglotse Peter Nielsen ein Mörder.

Ein Fluglotse der Schweizer Flugsicherung Skyguide im Kontrollturm des Flughafens Zürich. (Foto: Petar Marjanovic/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Und so endet das Sterben nicht in jener Nacht zum 2. Juli 2002. Nielsen sollte zum 72. Opfer der Tragödie werden. Knapp zwei Jahre nach dem Unglück. Obwohl technische Probleme zu der Kollision beitrugen, gibt Witali Kalojew dem diensthabenden Fluglotsen die Schuld. Gerade einmal vier Jahre alt war Kalojews Tochter Diana, als sie bei Überlingen aus dem Leben gerissen wurde – das jüngste Opfer des Unglücks. Noch während die Staatsanwaltschaft in der Schweiz wegen fahrlässiger Tötung gegen Nielsen ermittelt, lauert Kalojew dem 36-Jährigen im Februar 2004 auf und ersticht ihn.

Technische Probleme

Zwar trägt Nielsen eine Mitverantwortung für die Kollision. Doch versagt hat auch die Technik. Bei Skyguide funktionierten an jenem Abend die Telefone nicht. Und auch das bodengestützte Warnsystem, das die Gefahr von Kollisionen in der Luft anzeigen sollte, war außer Betrieb. Massive technische Probleme gab es auch im vergangenen Jahr wieder bei Skyguide. Mehrere Stunden lang waren im Juni 2022 in der gesamten Schweiz weder Flugzeugstarts noch Landungen oder Überflüge möglich. Der gesamte Luftraum war gesperrt. Offenbar hatte es Schwierigkeiten mit der Computertechnik gegeben. Menschliche Eingriffe, etwa einen Hackerangriff, schloss Skyguide aus.

Am Ort des Absturzes der Tupolew-Maschine erinnert das Mahnmal „Die zerrissene Perlenkette“ an die Flugzeugkatastrophe vom 1. Juli 2002 und an die Opfer, darunter 49 russische Schulkinder. (Foto: privat)

Bis heute ist das Unglück über dem Bodensee in der Ferienregion nicht vergessen. Viele Menschen in Überlingen und Umgebung erinnern sich an jene Nacht, als plötzlich Explosionsgeräusche die nächtliche Stille zerrissen. Zwei Gedenkstätten halten die Erinnerung an die Katastrophe und die 71 Opfer des 1. Juli 2002 wach. Wo der Rumpf der Tupolew aufschlug und die meisten Todesopfer geborgen wurden, beim Überlinger Ortsteil Brachenreute, ziehen mächtige Edelstahlkugeln die Blicke auf sich. Wie silberne Glieder einer zerrissenen Perlenkette liegen sie am Rand eines Wäldchens, das mit Birken, Eschen und Sibirischen Zirbelkiefern bepflanzt ist.

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Türkei diskriminiert bei Erdbeben-Hilfe

Alevitische Gemeinden in Pazarcik und Elbistan im Süden der Türkei beklagen systematische Diskriminierung bei Hilfsgütern, Nothilfen und der Bergung von Erdbebenopfern. Das berichtet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen unter Berufung auf alevitisch-kurdische Quellen und Ali Toprak, den Bundesvorsitzenden der Kurdischen Gemeinde in Deutschland.

Ein zerstörtes Haus in der türkischen Stadt Hatay. (Foto: Hilmi Hacaloğlu/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

„Augenzeugen berichten uns, dass der staatliche Katastrophenschutz insbesondere die alevitischen Dörfer um Pazarcik erst Tage nach dem Erbeben aufgesucht hat“, erklärt Tabea Giesecke, GfbV-Referentin für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten. Die Behörden hätten zivile Hilfen behindert, die Hilfskräfte Dörfer, in denen Menschen noch in den Trümmern lagen. „Das zeigt beispielhaft, wie die türkische Regierung die Katastrophe nutzt, um Minderheiten im Land auszulöschen.“

Erschüttertes Vertrauen

Seit dem Erdbeben gibt es immer mehr alevitisch-kurdische Initiativen, die Hilfsgüter und Nothilfen leisten und auch aus dem Ausland Spenden in betroffene Gebiete bringen. „Das Vertrauen der Menschen in die türkische Regierung und den Katastrophenschutz ist zutiefst erschüttert. Die Zivilbevölkerung leistet jetzt die Hilfe, die der Staat systematisch zurückhält. Und selbst das ist diesem Staat ein Dorn im Auge“, meint Giesecke.

In der alevitischen Gemeinde in Pazarcik hat der Gouverneur von Maraş (Kahramanmaraş) zivile Helfer dazu aufgefordert, ihre Arbeit zu beenden und Hilfsgüter beschlagnahmt. Ein staatlicher Verwalter soll nun die Verteilung organisieren. „Das ist ein Schlag ins Gesicht für die alevitische Gemeinde. Betroffene werden dadurch von für sie gedachten Hilfen abgeschnitten. Es zeigt, wie tief die Diskriminierung sitzt“, kritisiert Giesecke.

Kurden-Gebiet bombardiert

Bereits zuvor hat die GfbV darauf hingewiesen, dass die türkischen Streitkräfte trotz des Erdbebens kurdische Siedlungsgebiete im Norden Syriens attackieren. „Es ist skandalös, dass ein NATO-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert“, kritisiert Kamal Sido, Nahost-Referent der GfbV. Auch Hilfslieferungen nach Syrien habe die Türkei blockiert. Nicht nur Syriens umstrittener Präsident Assad verhindere die Versorgung der kurdischen Gebiete.

Dem historischen Beben fielen mindestens 42.000 Menschen zum Opfer. Davon allein 36.000 in der Türkei. Zehntausende könnten noch unter den zerstörten Gebäuden verschüttet sein. In manchen Gebieten verschoben die Erdstöße das Land um mehrere Meter. Das Beben erreichte eine Magnitude von etwa 7,8 und übertraf damit die Katastrophe von Gölcük und Izmit 1999. Damals starben 18.000 Menschen.

Helfer im Nordwesten Syriens bergen einen Verschütteten. (Foto: Foreign, Commonwealth & Development Office/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)
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Bomben gegen Erdbeben-Opfer

Ein verheerendes Erdbeben hat gestern Teile Syriens und der Türkei verwüstet. In beiden Ländern zählen die Behörden bereits mehr als 5000 Todesopfer. Viele Menschen werden noch vermisst. Die Stärke des Bebens übertrifft mit einer Magnitude von etwa 7,8 sogar die Katastrophe von 1999. Damals starben im Umkreis der türkischen Millionen-Metropole Istanbul mehr als 18 000 Menschen. Das neuerliche schwere Erdbeben hält die Türkei offenbar nicht davon ab, kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien zu bombardieren. Das meldet aktuell die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen.

Während die internationale Hilfe für die Erdbebengebiete anläuft, bombardiert die Türkei den Norden Syriens. (Foto: Voice of America/gemeinfrei)

„Gegen Mitternacht griff die Türkei das vom Beben betroffene Umland von Tal Rifaat an. In der Gegend nördlich von Aleppo haben kurdische Vertriebene aus der Region Afrin Zuflucht gefunden“, berichtet Kamal Sido, Nahost-Experte der GfbV. Und kritisiert: „Es ist skandalös, dass ein NATO-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert. Von anderen NATO-Ländern kommt dazu kein Wort der Kritik.“ Immer wieder attackiert die Türkei den Norden des Nachbarlands. Die seit Jahren andauernde Blockade der kurdisch kontrollierten Gebiete Syriens durch die Türkei und ihre westlichen Partner verschlimmert nach Ansicht der GfbV nun die Lage in den Erdbeben-Gebieten zusätzlich.

Jahrelange Blockade

„Das gesamte medizinische Versorgungssystem lag wegen des andauernden Bürgerkriegs sowie syrischer und russischer Angriffe bereits in Trümmern. Jetzt können viele Verletzte nicht versorgt werden“, sagt Sido. „Die Versorgung der kurdischen Gebiete wurde und wird nicht nur von Assad verhindert. Besonders die Türkei hat die Grenzübergänge in die kurdischen Gebiete Nordsyriens für humanitäre Lieferungen geschlossen gehalten. Die Konsequenzen dieser jahrelangen Blockade tragen nun die traumatisierten, frierenden Menschen vor Ort.“

Aus Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei habe die deutsche Bundesregierung keine humanitäre Hilfe an die von Kurden besiedelten Gebiete zugelassen. „In ihren Verlautbarungen zum Erdbeben verschweigen die Vertreter der deutschen Bundesregierung diese Tatsache. Nahezu alle Grenzübergänge in Nordsyrien sind unter der Kontrolle der Türkei. Sie bräuchte keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrats, um sie zu öffnen“, erklärt Sido. „Für islamistische Kämpfer und moderne Waffen“ sei die Grenze dagegen stets geöffnet gewesen. „Jetzt müssen endlich auch humanitäre Lieferungen für Nordsyrien und für ganz Syrien durchgelassen werden.“

Bergungsarbeiten nach dem Beben in Diyarbakir im Südosten der Türkei. (Foto: Voice of America/gemeinfrei)