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Im Blickpunkt

Ist Deutschland bereits Kriegspartei?

Mit der ukrainischen Offensive im Gebiet Charkiw und dem Rückzug der russischen Truppen in Richtung Donbass dürfte der Krieg in der Ukraine in seine entscheidende Phase eintreten. Noch mehr westliche Waffen, auch aus Deutschland, sollen Kiew den Sieg bringen. Selbst direkte deutsche Panzer-Lieferungen an die Ukraine stehen zur Diskussion. Damit wird erneut eine Frage virulent, die die Politik gern verdrängt: Ist Deutschland bereits jetzt Kriegspartei?

Mehrere Leopard 2 der Bundeswehr bei einer Gefechtsvorführung. Kampfpanzer dieser Art soll Deutschland nach dem Willen vor allem von Grünen- und FDP-Politikern an die Ukraine liefern. Kanzler Olaf Scholz (SPD) ist skeptisch. (Foto: © Bundeswehr/Modes/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Auch bei der Talkshow „Maischberger“ ging es gestern um diese Frage. Carlo Masala, Professor für Internationale Politik an der Universität der Bundeswehr in München, sagte: „Wir setzen keinen Fuß auf ukrainischen Boden mit jemandem, der eine Waffe in der Hand hält.“ Demnach sei die Bundesrepublik im klassischen Sinne keine Kriegspartei. Masala berät das Verteidigungsministerium und ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, die Kritikern zufolge der Rüstungsindustrie nahesteht und als so etwas wie der deutsche Ableger der US-amerikanischen Denkfabrik „Council on Foreign Relations“ gilt.

Keine klare Antwort

Deutschland sei also keine Kriegspartei im klassischen Sinne, meint Masala. Eine klare Antwort auf die derzeit wohl zentralste Frage der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist das nicht. Eine solche Antwort ist allerdings auch schwer zu geben – das Völkerrecht lässt sich vielfach interpretieren. Unbestritten dürfte sein, dass die Lieferung von leichten Waffen keinen Kriegseintritt darstellt. Auch Deutsche, die als Angehörige der eilig aufgestellten ukrainischen „Fremdenlegion“ an Kampfhandlungen gegen Russland teilnehmen, machen den deutschen Staat nicht zur Kriegspartei.

Der Bundestag in Berlin. Sein Wissenschaftlicher Dienst sieht zahlreiche Grauzonen bei der Frage nach einer direkten Kriegsbeteiligung. (Foto: Pixabay)

Eine Untersuchung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags kam im März zu der Erkenntnis, dass sich die Frage, „wann ein Staat, der eine Konfliktpartei militärisch unterstützt, selbst zur Konfliktpartei wird“, aufgrund zahlreicher „Grauzonen“ nicht pauschal beantworten lässt. Der Bochumer Völkerrechtler Pierre Thielbörger sieht Eskalationspotenzial vor allem bei der Lieferung von Kampfflugzeugen: weil sie entweder von westlichen Soldaten in die Ukraine geflogen werden müssten – oder ukrainische Soldaten damit von Militärstützpunkten im Westen starten müssten. „Die Grenzen zwischen Transport und Eingriff in den Konflikt“ wären damit „deutlich poröser geworden“.

Geheimdienste und Luftaufklärung

Beim Wissenschaftlichen Dienst des Bundestags, der sich primär auf Thielbörger stützt, heißt es weiter: „Graubereiche zwischen Konfliktteilnahme und Nichtkriegsführung ergeben sich ferner mit Blick auf die Übermittlung von Geheimdienstinformationen sowie von Informationen der Luftaufklärung durch sog. AWACS-Aufklärungs-Flugzeuge, die im NATO-Luftraum an der Grenze zur Ukraine patrouillieren und Informationen an die ukrainische Luftwaffe weitergeben.“ Thielbörger meint: Je substanzieller die Unterstützung wird und je abhängiger die Ukraine davon ist, desto näher rückt ein faktischer Kriegseintritt.

Wie aber ist die Situation bei Kampfpanzern oder der deutschen Panzerhaubitze 2000. Sie wurde bereits in die Ukraine geliefert und dient dort als Panzerersatz. Ihre Bedienung gilt als vergleichsweise kompliziert, sodass die ukrainischen Soldaten, die sie einsetzen sollen, hierfür erst ausgebildet werden müssen. Der entsprechende Lehrgang findet in Idar-Oberstein statt: auf deutschem Boden also und mit deutschen Ausbildern, die die Ukrainer erst in die Lage versetzen, mit der deutschen Haubitze auf Russen zu schießen. Auch die USA nutzen Stützpunkte in der Bundesrepublik, um der Ukraine beizustehen. Der Schutz des deutschen Staatsgebiets könnte so zunehmend in Frage gestellt sein.

Sergej Netschajew ist seit 2018 russischer Botschafter in Berlin. Er warnt: Deutschland hat durch seine Waffenlieferungen an die Ukraine eine „rote Linie“ überschritten. (Foto: www.rusemb.at/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)

Eine eindeutige Antwort, wann Deutschland zur Kriegspartei wird, gibt das Völkerrecht aber nicht. Entscheidend ist ohnehin etwas anderes: Entscheidend ist, wie Russland das deutsche Verhalten bewertet. Sieht es darin eine Kriegsbeteiligung? Oder nur die Taten eines „unfreundlichen Staates“. Russlands Botschafter in Berlin, Sergej Netschajew, hat dieser Tage in einem Interview mit der Tageszeitung Iswestija angedeutet, dass sich die russische Geduld womöglich dem Ende zuneigt: Mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine, „die nicht nur gegen russische Soldaten, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung im Donbass eingesetzt werden“, habe Deutschland eine „rote Linie“ überschritten. Bleibt abzuwarten, was das für das ohnehin zerrüttete Verhältnis der beiden Länder bedeutet.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Türkei weitet Angriffe auf Syrien aus

Im Schatten des Ukrainekriegs bahnt sich die Eskalation weiterer militärischer Konflikte an: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zündelt in der Ägäis und droht Griechenland unverhohlen mit Krieg: „Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir das Nötige tun. Eines Nachts können wir kommen“, sagte er tagesschau.de zufolge. Hintergrund ist ein Streit über rund 20 griechische Inseln vor der türkischen Küste: Ankara wirft den Griechen vor, die Inseln entgegen historischer Abkommen zu militarisieren. Derweil intensiviert die Türkei ihre Angriffe auf Syrien. Das meldet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

Mitverantwortlich für Kriegsverbrechen

Allein für August zählt die GfbV 1917 türkische Granatwerfer- und Raketenangriffe auf verschiedene Gebiete im Norden und Nordosten Syriens. Getroffen würden insbesondere ethnische und religiöse Minderheiten, kritisiert die Gesellschaft. Von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock fordern die Menschenrechtler eine Verurteilung der „völkerrechtswidrigen Aggression des NATO-Partners“. „Die Grünen-Politikerin betrachtet die türkischen Angriffe auf die kurdische und andere Volksgruppen im Nachbarland als ‚Selbstverteidigung‘ und zeigt Verständnis“, erklärt GfbV-Nahostexperte Kamal Sido. „Tatsächlich finden Kriegsverbrechen statt, für die sich die Außenministerin durch ihr Schweigen mitverantwortlich macht.“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. (Foto: President.gov.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Nach Baerbocks Türkei-Besuch Anfang August haben die türkischen Streitkräfte nach Angaben der GfbV insbesondere die „Syrian Democratic Forces“ (SDF) attackiert, die die Terrormiliz „Islamischer Staat“ bekämpfen. Hier wurden demnach 15 Angriffe durch Kampfdrohnen gemeldet. „Die Türkei beschoss mehr als 24 Mal mit schwerer Artillerie, Panzern, Raketen und Mörsern Gebiete im Süden von Afrin“, meldet die Gesellschaft. „Dort leben viele kurdische, jesidische, alewitische und christliche Vertriebene. Etwa 766 Artilleriegeschosse, Panzer- und Mörsergranaten trafen die kurdischen Dörfer Bênê, Aqîbê, Zaretê und Meyasê. Dabei wurden sechs Menschen getötet, darunter ein junges Mädchen und eine Frau. 16 Menschen, unter ihnen sechs Frauen, wurden verletzt.“

Assyrische Region angegriffen

Im Nordosten Syriens seien die Ortschaft Tel Tamr und ihre Umgebung mindestens 25 Mal angegriffen worden, davon drei Mal von Drohnen. „Bei diesen Angriffen in einer ursprünglich von assyrischen Christen bewohnten Gegend wurden sechs Menschen getötet: vier Schulmädchen und zwei Kämpfer der SDF. Fünf weitere Personen wurden verletzt“, berichtet die GfbV. „Auch die multiethnische und multireligiöse Region Qamischli wurde wiederholt Ziel türkischer Angriffe. Dort wurden 14 Menschen getötet, darunter zwei Kinder. 19 Menschen wurden verletzt, unter ihnen ein Mädchen und zwei Frauen. Die kurdische Stadt Kobani wurde vier Mal angegriffen. Hier tötete das türkische Militär sechs Menschen, darunter ein Kind. Fünf Personen, darunter ein Kind, wurden verletzt.“

Türkische Soldaten im Norden Syriens. (Foto: Zlatica Hoke/VOA/gemeinfrei)
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Kommentar

Die Lösung ist einfach: Nord Stream 2

Nord Stream 1 ist dicht. Weil bei einer routinemäßigen Inspektion der letzten verbliebenen Turbine in der Kompressorstation Protowaja ein Ölleck gefunden wurde, halten die russischen Behörden einen sicheren Betrieb der Erdgas-Leitung für unmöglich. Deutsche Politiker sehen in dem Lieferstopp ein politisches Manöver. Sie hatten allerdings bereits für die letzte Pipeline-Wartung im Juli prognostiziert, dass Russland den Hahn nicht wieder aufdrehen würde. Damals lagen sie falsch.

Reparatur liegt wegen der Sanktionen auf Eis

Jetzt also ist der Lieferstopp doch eingetreten. Er werde bis zur Reparatur der Turbine andauern, hat der russische Staatskonzern Gazprom verkündet. Eine Reparatur aber dürfte angesichts der westlichen Sanktionen gegen Russland erst einmal auf Eis liegen. Auch jene Turbine, deren Wartung in Kanada zum Politikum geriet, wartet noch immer in Deutschland auf den Weitertransport gen Russland. Gazprom möchte sie nicht zurücknehmen – man befürchtet, damit gegen die Sanktionen zu verstoßen, sich also letztlich im Westen strafbar zu machen.

Damals herrschte noch Eintracht zwischen Ost und West: Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Russlands Präsident Dmitri Medwedew bei der Eröffnung der Pipeline Nord Stream 1 am 8. November 2011. (Foro: Kremlin.ru/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)

Das kann die Bundesregierung noch so sehr als vorgeschoben bezeichnen – Fakt ist, dass Russland damit die westlichen Sanktionen in Richtung ihrer Urheber umlenkt. Hier aber treffen sie nicht die Regierenden und die Unterstützer ihrer Sanktionspolitik. Hier treffen sie die einfachen Bürger. Von Tag zu Tag sind die potenziellen Folgen der verfehlten Politik besser zu überblicken: Vielen Menschen, auch aus der Mittelschicht, drohen angesichts extrem steigender Energiepreise und der damit einhergehenden massiven Probleme für den Industriestandort Deutschland Arbeitslosigkeit und Armut.

Preis-Explosion bei Erdgas

Die deutschen Gasspeicher sind zwar mittlerweile zu gut 85 Prozent gefüllt – und damit deutlich voller als vor genau einem Jahr. Über einen kalten Winter aber werden sie das Land wohl nicht retten, befürchten Experten. Entsprechend reagieren die Märkte: Seit Freitag stieg der Preis des Terminkontrakts TTF für niederländisches Erdgas um rund 35 Prozent – eine regelrechte Explosion. Tagesschau.de zufolge gilt der TTF-Kontrakt als Richtschnur für das europäische Preisniveau.

Das neuerliche Entlastungspaket, das die Bundesregierung schnürte und gestern der Öffentlichkeit präsentierte, nimmt sich angesichts des Preisschocks wie ein laues Lüftchen aus – bestenfalls. Nun sollen zwar auch Rentner die einmalige Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro erhalten. Davon wird jedoch kaum etwas übrig bleiben angesichts einer Erdgasumlage, die jeden Haushalt mehrere hundert Euro kosten wird. Der reguläre Preisanstieg, der bereits 2021 einsetzte, ist da noch gar nicht berücksichtigt.

Benzin und Diesel auf Rekordhoch

Allein der Wegfall des befristeten Tankrabatts verteuert Benzin- und Diesel-Kraftstoff auf ein Rekordhoch. Für viele Menschen in Deutschland wird Mobilität – einst als Zeichen der Freiheit gefeiert – zunehmend zum Luxusgut. Dass die Bundesregierung nun die Umsatzsteuer auf den gesamten Gasverbrauch auf sieben Prozent reduzieren will, muss für die Bürger der Bundesrepublik wie Hohn klingen angesichts einer Preisspirale, die seit Monaten nur eine Richtung kennt: steil nach oben.

Rund 5000 Reserve-Stahlröhren für die Gas-Pipeline Nord Stream 2 liegen im Hafen von Neu-Mukran auf Rügen. Die Pipeline ist fertiggestellt und könnte jederzeit in Betrieb genommen werden – wenn es politisch gewünscht ist. (Foto: Josef Streichholz/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Dabei ist die Lösung denkbar einfach und naheliegend: Die fertiggestellte, aber aus politischen Gründen – nicht zuletzt auf Druck der USA – nicht in Betrieb genommene Erdgas-Pipeline Nord Stream 2 könnte ihren fehler- und wartungsanfälligen älteren Bruder Nord Stream 1 komplett ersetzen. Russisches Erdgas könnte wieder ungehindert nach Deutschland gelangen – wenn es denn politisch gewollt ist. Selbst eine Art befristete „Notzulassung“ für die Pipeline wäre denkbar – bei den umstrittenen neuartigen Corona-Impfstoffen hatte man mit einer „bedingten Zulassung“ schließlich auch kein Problem.

Will man dem eigenen Land bewusst schaden?

Sanktionen aber, die das eigene Volk ähnlich stark oder sogar noch stärker treffen als das Zielland, haben keinerlei Berechtigung. Wer sie trotzdem gegen alle Widerstände aufrecht erhält, ist entweder dumm oder kurzsichtig – oder er will dem eigenen Land bewusst schaden.

Thomas Wolf

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Kommentar

Wo Kretschmer Recht hat, hat er Recht

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) stand auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie an vorderster Linie derer, denen Mindestabstand, Maskenpflicht oder Impfkampagne nicht weit genug gehen konnten. Eine allgemeine Impfpflicht hatte er zuvor noch kategorisch ausgeschlossen – dann konnte sie gar nicht schnell genug kommen. Kurz: Kretschmer war fest eingereiht in die mediale und politische Einheitsfront, deren Lösung für die Krise in immer neuen Beschränkungen der persönlichen Freiheit lag.

Unabsehbare Folgen der Sanktionspolitik

Ganz anders im Ukraine-Konflikt. Hier ist der Sachse Kretschmer einer der wenigen hochrangigen Politiker, die aus der Phalanx der nahezu kritiklosen Unterstützung des westlichen Anti-Russland-Kurses ausscheren. Schon mehrfach warnte er vor den unabsehbaren Folgen der aktuellen Sanktions- und Energiepolitik der Bundesregierung. Der Krieg in der Ukraine müsse „eingefroren“ und auf dem Verhandlungsweg beendet werden, fordert der 47-Jährige. Auch gestern wieder im ZDF-Talk mit Markus Lanz.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer will den Ukraine-Krieg auf dem Verhandlungsweg beenden. Unter den hochrangigen Politikern seiner Partei steht der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende damit ziemlich allein da. (Foto: Sandro Halank/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

„Wir müssen endlich zugeben, dass wir in den nächsten fünf Jahren nicht auf russisches Gas verzichten können“, sagt Kretschmer. „Und wenn das so ist, dann müssen wir endlich die richtigen Konsequenzen ziehen.“ Die politische Debatte über Sinn und Unsinn der Sanktionen müsse breiter geführt werden. „Wenn man jeden Konflikt zum Eigenen macht“, fügt Kretschmer völlig zutreffend hinzu, „dann ist das der Untergang.“ Auch innerhalb der CDU steht der gebürtige Görlitzer damit einigermaßen isoliert da. Umso höher sind ihm seine klaren Worte anzurechnen.

Ob Kretschmer die westlichen Sanktionen nun in Frage stellt, weil er „sein Wahlvolk nicht verlieren möchte“, wie es Nadine Lindner vom Deutschlandradio ausdrückt, weil er im Wettstreit mit der in Sachsen besonders starken AfD punkten will oder einfach, weil ihm als gebürtigem Mitteldeutschen die Menschen in Mittel- und Ostdeutschland am Herzen liegen, die besonders unter den Folgen der verfehlten Energiepolitik leiden werden, sei dahingestellt. Man kann ihm jedenfalls kaum deutlich genug für seine Haltung danken.

Verhandlungen mit Russland sind alternativlos

So kritisch der Ausdruck der Alternativlosigkeit seit seiner gefühlt inflationären Benutzung in der Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu betrachten ist – hier ist er zutreffend. Verhandlungen mit Russland sind alternativlos! So kritisch man die russische Invasion auch sehen kann oder sogar muss (das tut auch Kretschmer!), so solidarisch man mit der angegriffenen Ukraine auch ist, so sehr man Wladimir Putins Politik ablehnt – es gibt keine Alternative zu Verhandlungen mit Russland.

Russische Soldaten im Osten der Ukraine. Ein Ende ihrer „Spezialoperation“ ist derzeit nicht absehbar. (Foto: Mil.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Die Ukraine hat zuletzt wieder deutlich gemacht, dass sie keinerlei Kompromisse einzugehen bereit ist. Das mag verständlich sein, wenn man bedenkt, dass aus völkerrechtlicher Sicht die Ukraine das angegriffene Land ist. Eine Lösung der Krise bringt solch eine harte Haltung aber nicht näher. Im Gegenteil: In Osteuropa droht ein jahrelanger, womöglich jahrzehntelanger Waffengang – am Leben erhalten durch westliche Panzer, westliche Gewehre und westliche Munition.

Regierung nutzt Konflikt für ihre Energiewende

Schon jetzt steigen Gas- und Strompreise in Deutschland immer weiter an. Die Bundesregierung, die den neuen Ost-West-Konflikt geschickt zur Beschleunigung ihrer Energiewende nutzt, nimmt in Kauf, dass für große Teile der deutschen Bevölkerung Mobilität, Energie und Elektrizität zu Luxusgütern werden. Alle Maßnahmen, die bislang beschlossen oder diskutiert wurden, um die Bürger zu entlasten, sind meist nicht mehr als wirkungslose Tropfen auf den heißen Stein.

Russland steckt die westlichen Sanktionen derweil zwar nicht einfach weg, kommt aber offenbar doch erstaunlich gut damit klar. Zum militärischen Rückzug aus der Ukraine jedenfalls können sie Russland auch nach sechs Monaten ganz offensichtlich nicht zwingen. Man muss sich daher nicht sonderlich weit aus dem Fenster lehnen, um ein Scheitern der Sanktionen festzustellen. Die Politiker, die dafür verantwortlich sind, sollten die Größe haben, dieses Scheitern einzugestehen und auf den alternativlosen Pfad der Vernunft zurückzukehren. Noch ist es nicht zu spät.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Ruhm, Ehre oder Heil? – Ein umstrittener Gruß

„Slawa Ukraini!“ – mit diesem mittlerweile weltbekannten ukrainischen Schlachtruf beendete Bundeskanzler Olaf Scholz seine Videobotschaft, mit der er dem osteuropäischen Land gestern auf seinem Twitter-Auftritt zum Unabhängigkeitstag gratulierte und zugleich weitere deutsche Waffenlieferungen versprach. „Slawa Ukraini!“ – seit dem Beginn der russischen Invasion ist die pathetische Grußformel in aller Munde. Zumindest im Mund derer, die das angegriffene Land bedingungslos unterstützen und dabei womöglich die Vorgeschichte der Eskalation außer Acht lassen.

In die Nähe eines faschistischen Regimes gerückt

Was aber bedeutet „Slawa Ukraini“? Im Internet kursieren dazu verschiedene Übersetzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und sich oberflächlich betrachtet ausschließen. In pro-russischen Kreisen übersetzt man die Grußformel, die in der Ukraine gemeinhin mit „Herojam Slawa“ erwidert wird, mit „Heil der Ukraine“. „Herojam Slawa“ steht demnach für „Heil den Helden“. Die Übersetzung soll an die Worte erinnern, die in Nazi-Deutschland beim Hitlergruß gesprochen wurden. Die Ukraine wird damit in die Nähe eines faschistischen Regimes gerückt.

Bundeskanzler Olaf Scholz gratulierte der Ukraine per Videobotschaft zu ihrem Unabhängigkeitstag und schloss mit der pathetischen Grußformel „Slawa Ukraini“. Deren Übersetzung ist strittig. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Westliche Medien übersetzen den Schlachtruf dagegen meist unverdächtig mit „Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden“. Dem Internetlexikon Wikipedia zufolge sind auch „Ehre der Ukraine“ oder „Hoch lebe die Ukraine“ geläufige Übertragungen. Tatsächlich dürfte die Übersetzung „Ruhm“ der ukrainischen Bedeutung am nächsten kommen. Abgesehen davon, dass bevorzugt ukrainische Nationalisten mit „Slawa Ukraini“ grüßen, bleibt also bei der gängigen westlichen Deutung kaum etwas übrig, was an das „Sieg Heil“ der deutschen Nationalsozialisten erinnert.

Kampf gegen das bolschewistische Russland

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings: So einfach ist die Sache nicht. „Slawa Ukraini“ hat seinen Ursprung in der noch jungen ukrainischen Nationalbewegung. Taras Schewtschenko (1814-1861), der als ukrainischer Nationaldichter gilt und mit seinen Werken zur Herausbildung eines nationalen ukrainischen Bewusstseins beitrug, soll den Ruf als einer der Ersten in einem Gedicht benutzt haben. Im Kampf der Ukraine gegen das bolschewistisch gewordene Russland ab 1917 nutzten Partisanen die Phrase als Gruß.

Bereits damals hatte „Slawa Ukraini“ einen stark antirussischen Beiklang. Zum deutschen Nationalsozialismus aber, der zu diesem Zeitpunkt nicht mal in den Kinderschuhen steckte, bestand keine Verbindung. Dies sollte sich spätestens Anfang der 1940er Jahre ändern. Damals nahm die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) „Slawa Ukraini“ als ihren offiziellen Gruß an. Die OUN war eine nationalistische Untergrundbewegung, deren Mitglieder bis in die 1950er Jahre Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft über die Ukraine leisteten. Kritikern gilt sie als faschistisch.

Zeitweise Kollaboration mit Nazi-Deutschland

Als am 22. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion einmarschierte, begrüßten viele Ukrainer die Invasion, weil sie sich dadurch die Befreiung vom Bolschewismus und Unterstützung auf dem Weg zu einem eigenständigen ukrainischen Staat versprachen. Die OUN kollaborierte eine Zeitlang mit den Deutschen, wandte sich aber von ihnen ab, als sich abzeichnete, dass die Wünsche nach Unabhängigkeit bei den Nazis auf taube Ohren stießen. Ab 1942 bekämpften die ukrainischen Nationalisten sowohl die deutsche Besatzungsmacht als auch die Sowjetunion.

Betrachtet man die Zeit genauer, als OUN und NS-Deutschland vorübergehend Seite an Seite standen, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Übersetzung „Heil der Ukraine“ für „Slawa Ukraini“ eben doch nicht so abwegig ist, wie westliche Medien und Politiker dies gern hätten. Ein Foto, das – wohl im Sommer 1941 – im westukrainischen Schowkwa bei Lemberg (Lwiw) aufgenommen wurde, zeigt einen Torbogen des örtlichen Schlosses, der mit mehreren Spruchbändern behängt ist.

Der Nazi-Gruß „Heil Hitler“ und seine ukrainische Entsprechung auf einem Spruchband an einem Torbogen des Schlosses Schowkwa im Westen der Ukraine. Weiter liest man: „Lang lebe der Ukrainische Unabhängige Staat!“ (Foto: gemeinfrei)

„Heil Hitler!“, liest man da – und darunter das, was offensichtlich eine ukrainische Version des Nazi-Grußes sein soll: „Slawa Gitlerowi!“. Daneben, ebenfalls in zweiter Reihe, aber fast so groß wie die Anrufung des braunen „Führers“, prangt „Slawa Banderi!“ – eine Ehrbezeugung, die Stepan Bandera (1909-1959) gilt. Der aus Galizien stammende Führer des militärischen Flügels der OUN, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), gilt vielen seiner Landsleute bis heute als Held des Widerstands gegen Bolschewismus und russische Vorherrschaft.

Judenfeindliche Ausschreitungen und Massaker

Historiker verweisen dagegen auf judenfeindliche Ausschreitungen, an denen seine UPA beteiligt gewesen sei, und werfen ihr Massaker an der polnischen Volksgruppe im Westen der Ukraine vor. Bereits im Juli 1941 war Bandera von den Deutschen verhaftet und im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert worden, wo er ähnlich wie der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg den Sonderstatus eines Ehrenhäftlings genoss. Nach Kriegsende tauchte Bandera im Westen unter. 1959 tötete ihn ein KGB-Agent in München, wo er unter falschem Namen lebte.

Natürlich muss, wer die Aufnahme aus Schowkwa betrachtet, dies mit der nötigen Rücksichtnahme auf die Umstände der Zeit tun. Zumindest damals, im Sommer 1941, – das belegt das Foto klar und deutlich – sah man offensichtlich überhaupt kein Problem darin, das ukrainische „Slawa“ mit „Heil“ zu übersetzen. „Slawa Ukraini“ – also doch „Heil der Ukraine“?

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Unterstützung bis zum Kriegseintritt?

Steuert der Westen im Ukraine-Konflikt auf eine direkte Kriegsbeteiligung zu? Aussagen von Politikern und Militärs lassen sich durchaus in diese Richtung interpretieren – auch wenn sie selbst diese Deutung sicherlich zurückweisen würden. Vor allem aus Großbritannien kommen immer wieder Botschaften der unverbrüchlichen Solidarität mit Kiew. Heute, zum ukrainischen Unabhängigkeitstag, ist es der scheidende Premierminister Boris Johnson, der der Ukraine militärischen Beistand verspricht.

Der scheidende britische Premierminister Boris Johnson verspricht der Ukraine „jede erdenkliche militärische Unterstützung“. (Foto: Number 10/Flickr/CC BY-NC-ND 2.0)

„Ich habe nie daran gezweifelt, dass die Ukraine diesen Kampf gewinnen wird, denn keine Macht der Erde kann den Patriotismus von 44 Millionen Ukrainern bezwingen“, sagt Johnson in einem Video. „Und wie lange es auch dauern mag: Das Vereinigte Königreich wird der Ukraine zur Seite stehen und jede erdenkliche militärische, wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung leisten.“ Johnsons Nachfolgerin dürfte die bisherige Außenministerin Liz Truss werden, die ebenso als große Unterstützerin der Ukraine gilt.

Körperlich fit für den Kriegseinsatz?

Zuletzt kursierten nach dem Bombenattentat auf die russische Journalistin Darja Dugina Aussagen des ranghöchsten Unteroffiziers der britischen Armee, Paul Carney. Er rief seine Kameraden auf, sich auf einen Krieg gegen Russland vorzubereiten. In einer Soldatenzeitschrift schrieb er, es sei an der Zeit, mit seinen Angehörigen über eine mögliche Entsendung nach Osteuropa zu sprechen. „Ich möchte, dass wir alle überprüfen, ob wir körperlich fit für den Einsatz sind“, machte Carney deutlich.

Das bedeute freilich nicht, dass die britische Armee tatsächlich in den Krieg ziehen wird, betonte General Richard Dannatt, ehemaliger Generalstabschef der Armee. „Angesichts eines Krieges in Europa, eines aggressiven Russlands und besorgter Länder an Russlands Grenzen“ sei es aber „vernünftig, dass britische Soldaten realistisch einschätzen, was passieren könnte“.

Auch in Deutschland wird der Ton rauer. Kanzler Olaf Scholz kündigt zum ukrainischen Unabhängigkeitstag die Lieferung weiterer Waffen an. Und FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann ruft die Deutschen im Konflikt mit Russland zu Opferbereitschaft auf. „Wir müssen Putin und den Diktatoren dieser Welt, die unser demokratisches Leben hassen und zerstören wollen, entschlossen entgegenstehen“, meint sie. „Das wird von uns allen auch persönlich Opfer erfordern, schwach sollten wir trotz alledem nicht werden.“

Pazifisten: die „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins?

Ihr Parteikollege, der frühere EU-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, der seit Beginn des Krieges häufiger durch markige Sprüche aufgefallen ist und für den Friedensaktivisten und Pazifisten wie die Ostermarschierer eine „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins sind, warnt derweil vor Kriegsmüdigkeit im Westen. Lambsdorff ist Mitglied der USA-nahen Atlantischen Initiative, der Atlantik-Brücke und des Transatlantic Policy Network.

Der ukrainische Unabhängigkeitstag wird stets am 24. August begangen. Der Nationalfeiertag erinnert an die Unabhängigkeit der Ukraine von der zerfallenden Sowjetunion 1991. In diesem Jahr fällt er mit einem anderen Ereignis zusammen: Vor genau einem halben Jahr begann der russische Einmarsch in der Ukraine. Entsprechend steht der Nationalfeiertag diesmal ganz im Zeichen des Krieges.

„Keinerlei Zugeständnisse oder Kompromisse“

In einer Ansprache erteilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi nun allen ohnehin nur noch vagen Friedenshoffnungen eine Absage. Es werde einen Kampf „bis zum Ende“ gegen die russischen Angreifer geben. Die Ukraine werde „keinerlei Zugeständnisse oder Kompromisse“ machen.

Thomas Wolf

Wolodymyr Selenskyi, Präsident der Ukraine, schwört seine Landsleute auf einen Kampf „bis zum Ende“ gegen die russischen Angreifer ein. (Foto: The Presidential Office of Ukraine/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)
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Medienkritik

Das Töten begann nicht am 24. Februar

Vor genau einem halben Jahr begann das, was englischsprachige Medien bedrohlich eine „full-scale invasion“ nannten: Russische Truppen marschierten in der Ukraine ein und beschossen Militärstellungen bis weit in den Westen des Landes. Zeitweilig schien die Hauptstadt Kiew kurz vor dem Fall zu stehen. Seither haben sich die Kämpfe in den Donbass und den Süden der Ukraine verlagert. Der Frontverlauf ändert sich nur noch langsam.

Ein verlassener russischer Panzer mit dem Z-Symbol in den ersten Wochen des Krieges. Die Aufnahme, die in der Region Donezk entstanden sein soll, stammt vom ukrainischen Verteidigungsministerium. (Foto: armyinform.com.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Wenn Journalisten hierzulande über den russischen Einmarsch in der Ukraine schreiben, den sie als einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ oder „Überfall“ bezeichnen, blenden sie die Vorgeschichte des Konflikts meist aus. Zum Verständnis dessen, was vor sechs Monaten zur Eskalation führte, ist deren Kenntnis aber unerlässlich. Das Töten hat nämlich nicht erst mit Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar begonnen. Seit acht Jahren bekämpfen sich im Donbass, in den Regionen Lugansk und Donezk, ukrainische Truppen und prorussische Separatisten. Kein Krieg, den Europa in den vergangenen Generationen erlebt hat, dauerte länger. Tausende starben, darunter auch zahlreiche Zivilisten: Frauen, Kinder, Alte.

Journalist Ulrich Heyden kennt den Konflikt

Anders als viele westliche Journalisten kennt Ulrich Heyden den Konflikt aus eigener Anschauung. Seit 2014 war der Osteuropa- und Kriegs-Korrespondent, der vorwiegend für linksgerichtete deutsche Medien und den staatsnahen russischen Sender RT schreibt, aber auch für den Deutschlandfunk und die Bundestags-Zeitschrift „Das Parlament“ tätig war, immer wieder in der Ukraine. Er hat erlebt, wie sich im Osten des Landes aus den Protesten der russischsprachigen Minderheit gegen Bevormundung und kulturelle Ausgrenzung ein rücksichtslos geführter Bür­gerkrieg entwickelte.

Buchautor Ulrich Heyden bei einer Veranstaltung der Links-Fraktion im Deutschen Bundestag 2018. (Foto: Fraktion Die Linke im Bundestag/Flickr/CC BY 2.0)

Dadurch, dass Heyden näher als andere Journalisten an dem Konflikt dran ist, erhält sein Buch, das er etwas sperrig, aber zutreffend „Der längste Krieg in Europa seit 1945“ überschrieben hat, eine beson­dere Note. Seine Perspektive liegt nicht nur auf der Politik, die durch ihr Handeln zum Scheitern des Minsker Friedensabkommens beitrug, oder auf den Militärs und Freiwilligen-Verbänden, die sich in Schützengräben und an Frontlinien erbittert bekämpfen. Sie liegt auch auf den Menschen im Donbass, die mehr als alle anderen unter der jahrelangen Ge­walt leiden: weil ihre Wohnhäuser zerbombt werden, ihre Versorgung mit Wasser oder Elektrizität versagt oder Kiew ihnen ihre Sozialleistungen kappt.

Anschaulich und ohne Scheuklappen

Das bei der Hamburger Selfpublishing-Plattform Tredition erschienene Werk ist im Kern eine Sammlung von Beiträ­gen, die Heyden im Verlauf der vergangenen acht Jah­re für verschiedene Medien verfasste. Auch wenn man es dem Buch anmerkt, dass es offenbar nach Russlands Einmarsch eilig zusammengestellt wurde, ist es doch unbedingt lesenswert: Erschreckend anschaulich und schonungslos führt Heyden die Eskalation im Osten der Ukraine vor Augen – ohne ideologische Scheuklappen und ohne Rücksicht auf verbreitete westliche Narrative.

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

Wer beschießt Saporischschja?

Seit Tagen gehen Meldungen vom Beschuss des ukrainischen AKW Saporischschja durch die Medien. Saporischschja ist mit sechs Reaktoren und einer Gesamtleistung von rund 5700 Megawatt das leistungsstärkste Atomkraftwerk Europas. Eine durch den Beschuss ausgelöste Atomkatastrophe hätte womöglich verheerende Folgen. Wer aber beschießt Saporischschja?

Die sechs Reaktorblöcke des Atomkraftwerks Saporischschja. Das Gelände ist von russischen Truppen besetzt. (Foto: Ralf1969/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Deutsche Medien wie etwa tagesschau.de äußern sich zu dieser Frage seltsam unentschieden: Die Ukraine, heißt es da beispielsweise, mache Russland verantwortlich. Oder man liest, beide Kriegsparteien erklärten, der Beschuss gehe von der jeweils anderen Seite aus. Klar ist: Kein deutscher Journalist ist vor Ort in Saporischschja und könnte Auskünfte aus erster Hand liefern. Insofern ist die Zurückhaltung nachvollziehbar.

AKW-Gelände von russischen Truppen besetzt

Allerdings liefert etwa die Tagesschau die Antwort in ihren eigenen Beiträgen mit – wenn auch gewissermaßen im Kleingedruckten. Das AKW-Gelände, liest man dort nämlich, ist von russischen Truppen besetzt. Keine Armee der Welt würde sich aber dergestalt selbst beschießen. Ein versehentlicher Angriff auf die eigenen Kameraden mag noch vorstellbar sein – aber sicher nicht über Tage oder sogar über Wochen hinweg.

Nun muss man nicht gleich den russischen Anschuldigungen folgen, wonach die ukrainischen Truppen absichtlich auf ein Atommüll-Lager schießen, welches sich auf dem Gelände des Kraftwerks befinde. Ihr Ziel sei es, mutmaßt die pro-russische Besatzungsverwaltung, durch den Beschuss die Explosion einer „schmutzigen Bombe“ zu erreichen, also einer Art Atombombe im Kleinen.

Droht ein Tschernobyl 2.0?

Das dürften nicht viel mehr sein als die üblichen propagandistischen Sticheleien, die seit dem 24. Februar zwischen den Kriegsgegnern hin- und hergehen. Daran, dass für den Beschuss des AKW Saporischschja die Ukraine verantwortlich ist, ist aber nicht zu zweifeln. Bleibt die Frage: Warum tut sie das, warum attackiert sie das größte Atomkraftwerk Europas fortwährend und beschwört damit die Gefahr einer neuerlichen Atomkatastrophe auf ukrainischem Territorium herauf, eines Tschernobyl 2.0? 

Die Antwort ist womöglich dieselbe, die auch für die Frage gilt, weshalb Russland seit der Invasion des Nachbarlands immer wieder medizinische Einrichtungen und Wohngebiete unter Beschuss nimmt: weil dort nicht selten feindliche Truppen ihre Stellungen eingerichtet haben. Das jedenfalls legte eine Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International jüngst nahe.

Russland will seine Truppen abziehen

Russische Armeeeinheiten, die auf dem Gelände des Atomkraftwerks stationiert sind, könnten die Ukraine demnach zu ihren fortwährenden riskanten Angriffen provoziert haben. Da wirkt es wie ein Lichtblick, wenn Russland nun ankündigt, seine Truppen aus der Umgebung des Kraftwerks abziehen zu wollen. Ihre Gegenwart kann dann nämlich sicherlich nicht mehr als Begründung für den Beschuss dienen.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Neue Eskalation im Kaukasus?

Die seit rund zwei Jahren geltende Waffenruhe zwischen Aserbaidschan und Armenien im Konflikt um Bergkarabach wird offenbar zusehends brüchig. Die Konfliktparteien bestätigten neue Kämpfe in der zwischen beiden Seiten umstrittenen Region. Mehrere Armenier und mindestens ein Soldat aus Aserbaidschan seien ums Leben gekommen, heißt es.

Große Mehrheit der Bevölkerung ist orthodox

Der Konflikt um Bergkarabach ist alt: Seit mindestens einem Jahrhundert streiten christliche Armenier und muslimische Aserbaidschaner um die rund 3000 Quadratkilometer im Südosten des Kleinen Kaukasus. Aserbaidschan kann dabei auf das Völkerrecht verweisen: Bergkarabach gehört zum international anerkannten Staatsgebiet Aserbaidschans. Armenien dagegen hat die Bevölkerung auf seiner Seite: Mit großer Mehrheit ist die Region von orthodoxen Armeniern besiedelt.

Zu Sowjet-Zeiten war Bergkarabach Aserbaidschan zugeschlagen worden: Seit 1923 bildete es ein autonomes Gebiet innerhalb der muslimischen Republik. Als die Sowjetunion zerfiel, erklärte Bergkarabach 1991 sei­ne Unabhängigkeit. Der Bürgerkrieg, den die Unab­hängigkeitsbestrebungen mit sich brachten, endete 1994 mit einem Waffenstillstand. Bergkarabach verblieb dadurch zwar formell bei Aserbaidschan, war dank armeni­scher Militärhilfe aber faktisch selbstständig. Seit 2017 nennt das Land sich nach einer antiken Region offiziell „Republik Arzach“.

Zerstörungen nach einem aserbaidschanischen Angriff auf Stepanakert, die Hauptstadt der international nicht anerkannten Republik Arzach. (Foto: Yan Boechat/VOA)

2020 brach der jahrzehntealte Konflikt wieder auf: Nach ersten Gefechten ab Juli eskalierte die Lage im September vollends. Aserbaidschanische Truppen starteten eine großangelegte Offensive und konnten weite Teile des umstrittenen Territoriums unter ihre Kontrolle bringen. Rund 7000 armenische und aserbaidschanische Soldaten starben. Nach armenischen Angaben mussten rund 90.000 Zivilisten aus ihrer Heimat fliehen.

Russische Friedenstruppen

Ein unter russischer Vermittlung zustande gekommenes Abkommen beendete die Kampfhandlungen im November 2020 und regelte den Abzug des armenischen Militärs, das die „Republik Arzach“ gestützt hatte. Friedenstruppen der Russischen Föderation überwachen seither die Waffenruhe, die durch die neuen Feindseligkeiten nun wieder in Frage gestellt ist.

Frühzeitig hatte die Türkei Partei für ihre islamischen Glaubensgenossen ergriffen, die als Turkvolk den Türken traditionell nahestehen. Bereits 2016, als der Konflikt schon einmal kurz vor der Ausweitung zum Krieg stand, erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan: „Wir werden Aserbaidschan bis zum Ende unterstützen.“ In dem Waffengang 2020 tat er dies tatsächlich – vor allem diplomatisch, indirekt aber auch militärisch.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (links) mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew. Die beiden turksprachigen Länder sind traditionell eng verbunden. (Foto: President.az/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Von der Türkei angeworbene Söldner kamen auf Seiten der aserbaidschanischen Armee zum Einsatz. Rund 4000 Islamisten seien aus dem türkisch besetzten Afrin im Norden Syriens in die aserbaidschanische Hauptstadt Baku gebracht worden, um dann „in vorderster Linie an der armenisch-aserbaidschanischen Grenze“ eingesetzt zu werden, wurde damals vermeldet. Etwa 500 von ihnen bezahlten den Kriegseintritt mit dem Leben.

Die Söldner entstammten radikalen sunnitischen Gruppen, die zwar überwiegend der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) feindlich gegenüberstanden, sich in ihrer Auslegung des Korans aber nicht selten gar nicht so sehr vom IS unterschieden. Sogar von einem „heiligen Krieg gegen die Christen“ in Bergkarabach war die Rede. Die Islamisten sahen es offenbar als ihre Aufgabe an, in den Kaukasusdörfern die Scharia, das islamische Recht, durchzusetzen – ein Verhalten, das bereits aus kurdischen Dörfern im Norden Syriens bekannt war.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Amnesty: Ukraine gefährdet Zivilisten

Amnesty International wirft der Ukraine vor, im Krieg gegen Russland gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Die Armee verschanze sich in Schulen und Krankenhäusern und operiere aus Wohngebieten heraus. Vorwürfe wie diese, wonach die Ukraine ihre eigene Zivilbevölkerung gefährde und als „menschliche Schutzschilde“ missbrauche, galten bislang im Westen als russische Propaganda. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi kritisierte den Amnesty-Bericht scharf.

Ein ukrainischer Panzer in den Straßen von Kiew. Amnesty International wirft den Streitkräften der Ukraine vor, aus Wohngebieten heraus zu operieren und dadurch die Zivilbevölkerung zu gefährden. (Foto: VoidWanderer/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Die Menschenrechtsorganisation hat eigenen Angaben zufolge zwischen April und Juni im Kriegsgebiet Untersuchungen angestellt und mit Bewohnern sowie Überlebenden russischen Beschusses gesprochen. Den Erkenntnissen zufolge haben ukrainische Streitkräfte „Zivilisten in Gefahr gebracht, indem sie in Wohngebieten, einschließlich Schulen und Krankenhäusern, Stützpunkte errichteten und Waffensysteme einsetzten“.

Vergeltungsfeuer russischer Streitkräfte

Im umkämpften Donbass sowie in den Regionen Charkiw und Mykolajiw berichteten Augenzeugen „dass das ukrainische Militär zur Zeit der Angriffe in der Nähe ihrer Häuser operierte und das Gebiet dem Vergeltungsfeuer russischer Streitkräfte aussetzte“. Ein derartiges Verhalten hat Amnesty International an zahlreichen Orten beobachtet.

Der Bericht zitiert eine Frau, deren 50-jähriger Sohn bei einem Raketenangriff südlich von Mykolajiw ums Leben kam: „Das Militär wohnte in einem Haus neben unserem Haus und mein Sohn brachte den Soldaten oft Essen. Ich bat ihn mehrmals, sich von dort fernzuhalten, weil ich um seine Sicherheit fürchtete.“ Zum Zeitpunkt des russischen Beschusses habe sich ihr Sohn vor dem Haus aufgehalten. „Er wurde auf der Stelle getötet. Sein Körper wurde in Fetzen gerissen.“

„Ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“

An fünf Orten konnte Amnesty aufgrund von Zeugenaussagen nachweisen, dass ukrainische Soldaten Krankenhäuser als Militärstützpunkte nutzten. In einer Stadt feuerten die Streitkräfte sogar von Stellungen in der Nähe eines Krankenhauses. In mindestens einem Fall kamen beim russischem Beschuss einer medizinischen Labors Zivilisten zu Schaden. Ukrainische Soldaten hatten dort zuvor ihre Basis eingerichtet. „Die Nutzung von Krankenhäusern für militärische Zwecke ist ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“, betont Amnesty.

Russischen Beschuss macht die Ukraine für die Zerstörung einer Geburtsklinik in Mariupol am 9. März verantwortlich. In anderen Fällen konnte Amnesty nachweisen, dass ukrainische Truppen das Krankenhausareal als Stützpunkt genutzt haben. (Foto: armyinform.com.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Die Wohngebiete, in denen sich ukrainische Truppen aufhielten, waren nach Erkenntnissen von Amnesty meist „kilometerweit von den Frontlinien entfernt“. Zivilisten hätten also nicht gefährdet werden müssen, stellte die Menschenrechtsorganisation fest. Auch habe das ukrainische Militär es versäumt, die entsprechende Gegend zu evakuieren.

Auch die Ukraine muss das Völkerrecht respektieren

Zwar fand Amnesty nicht an jedem Ort, an dem russische Angriffe zum Tod von Zivilisten führten, Belege dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte das Gebiet missbraucht haben könnten. Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, sieht dennoch geradezu ein „Muster“ darin, dass die ukrainischen Streitkräfte die Zivilbevölkerung gefährden und gegen das Kriegsrecht verstoßen. Die Tatsache, dass sich die Ukraine gegen einen Angreifer verteidigt, befreie das ukrainische Militär nicht von der Verpflichtung, „das humanitäre Völkerrecht zu respektieren“, betont Callamard.

Thomas Wolf