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Türkei diskriminiert bei Erdbeben-Hilfe

Alevitische Gemeinden in Pazarcik und Elbistan im Süden der Türkei beklagen systematische Diskriminierung bei Hilfsgütern, Nothilfen und der Bergung von Erdbebenopfern. Das berichtet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen unter Berufung auf alevitisch-kurdische Quellen und Ali Toprak, den Bundesvorsitzenden der Kurdischen Gemeinde in Deutschland.

Ein zerstörtes Haus in der türkischen Stadt Hatay. (Foto: Hilmi Hacaloğlu/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

„Augenzeugen berichten uns, dass der staatliche Katastrophenschutz insbesondere die alevitischen Dörfer um Pazarcik erst Tage nach dem Erbeben aufgesucht hat“, erklärt Tabea Giesecke, GfbV-Referentin für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten. Die Behörden hätten zivile Hilfen behindert, die Hilfskräfte Dörfer, in denen Menschen noch in den Trümmern lagen. „Das zeigt beispielhaft, wie die türkische Regierung die Katastrophe nutzt, um Minderheiten im Land auszulöschen.“

Erschüttertes Vertrauen

Seit dem Erdbeben gibt es immer mehr alevitisch-kurdische Initiativen, die Hilfsgüter und Nothilfen leisten und auch aus dem Ausland Spenden in betroffene Gebiete bringen. „Das Vertrauen der Menschen in die türkische Regierung und den Katastrophenschutz ist zutiefst erschüttert. Die Zivilbevölkerung leistet jetzt die Hilfe, die der Staat systematisch zurückhält. Und selbst das ist diesem Staat ein Dorn im Auge“, meint Giesecke.

In der alevitischen Gemeinde in Pazarcik hat der Gouverneur von Maraş (Kahramanmaraş) zivile Helfer dazu aufgefordert, ihre Arbeit zu beenden und Hilfsgüter beschlagnahmt. Ein staatlicher Verwalter soll nun die Verteilung organisieren. „Das ist ein Schlag ins Gesicht für die alevitische Gemeinde. Betroffene werden dadurch von für sie gedachten Hilfen abgeschnitten. Es zeigt, wie tief die Diskriminierung sitzt“, kritisiert Giesecke.

Kurden-Gebiet bombardiert

Bereits zuvor hat die GfbV darauf hingewiesen, dass die türkischen Streitkräfte trotz des Erdbebens kurdische Siedlungsgebiete im Norden Syriens attackieren. „Es ist skandalös, dass ein NATO-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert“, kritisiert Kamal Sido, Nahost-Referent der GfbV. Auch Hilfslieferungen nach Syrien habe die Türkei blockiert. Nicht nur Syriens umstrittener Präsident Assad verhindere die Versorgung der kurdischen Gebiete.

Dem historischen Beben fielen mindestens 42.000 Menschen zum Opfer. Davon allein 36.000 in der Türkei. Zehntausende könnten noch unter den zerstörten Gebäuden verschüttet sein. In manchen Gebieten verschoben die Erdstöße das Land um mehrere Meter. Das Beben erreichte eine Magnitude von etwa 7,8 und übertraf damit die Katastrophe von Gölcük und Izmit 1999. Damals starben 18.000 Menschen.

Helfer im Nordwesten Syriens bergen einen Verschütteten. (Foto: Foreign, Commonwealth & Development Office/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)
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Bomben gegen Erdbeben-Opfer

Ein verheerendes Erdbeben hat gestern Teile Syriens und der Türkei verwüstet. In beiden Ländern zählen die Behörden bereits mehr als 5000 Todesopfer. Viele Menschen werden noch vermisst. Die Stärke des Bebens übertrifft mit einer Magnitude von etwa 7,8 sogar die Katastrophe von 1999. Damals starben im Umkreis der türkischen Millionen-Metropole Istanbul mehr als 18 000 Menschen. Das neuerliche schwere Erdbeben hält die Türkei offenbar nicht davon ab, kurdisch kontrollierte Gebiete in Nordsyrien zu bombardieren. Das meldet aktuell die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen.

Während die internationale Hilfe für die Erdbebengebiete anläuft, bombardiert die Türkei den Norden Syriens. (Foto: Voice of America/gemeinfrei)

„Gegen Mitternacht griff die Türkei das vom Beben betroffene Umland von Tal Rifaat an. In der Gegend nördlich von Aleppo haben kurdische Vertriebene aus der Region Afrin Zuflucht gefunden“, berichtet Kamal Sido, Nahost-Experte der GfbV. Und kritisiert: „Es ist skandalös, dass ein NATO-Staat eine humanitäre Katastrophe mutwillig verschlimmert. Von anderen NATO-Ländern kommt dazu kein Wort der Kritik.“ Immer wieder attackiert die Türkei den Norden des Nachbarlands. Die seit Jahren andauernde Blockade der kurdisch kontrollierten Gebiete Syriens durch die Türkei und ihre westlichen Partner verschlimmert nach Ansicht der GfbV nun die Lage in den Erdbeben-Gebieten zusätzlich.

Jahrelange Blockade

„Das gesamte medizinische Versorgungssystem lag wegen des andauernden Bürgerkriegs sowie syrischer und russischer Angriffe bereits in Trümmern. Jetzt können viele Verletzte nicht versorgt werden“, sagt Sido. „Die Versorgung der kurdischen Gebiete wurde und wird nicht nur von Assad verhindert. Besonders die Türkei hat die Grenzübergänge in die kurdischen Gebiete Nordsyriens für humanitäre Lieferungen geschlossen gehalten. Die Konsequenzen dieser jahrelangen Blockade tragen nun die traumatisierten, frierenden Menschen vor Ort.“

Aus Rücksicht auf den NATO-Partner Türkei habe die deutsche Bundesregierung keine humanitäre Hilfe an die von Kurden besiedelten Gebiete zugelassen. „In ihren Verlautbarungen zum Erdbeben verschweigen die Vertreter der deutschen Bundesregierung diese Tatsache. Nahezu alle Grenzübergänge in Nordsyrien sind unter der Kontrolle der Türkei. Sie bräuchte keinen Beschluss des UN-Sicherheitsrats, um sie zu öffnen“, erklärt Sido. „Für islamistische Kämpfer und moderne Waffen“ sei die Grenze dagegen stets geöffnet gewesen. „Jetzt müssen endlich auch humanitäre Lieferungen für Nordsyrien und für ganz Syrien durchgelassen werden.“

Bergungsarbeiten nach dem Beben in Diyarbakir im Südosten der Türkei. (Foto: Voice of America/gemeinfrei)
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Terror gegen Jesiden ist jetzt Völkermord

Kürzlich hat der Bundestag den Holodomor, den Hungertod von Millionen Menschen in der Ukraine in den frühen 1930er Jahren, als Völkermord anerkannt. Sowjet-Führer Josef Stalin habe demnach eine in großen Teilen der Sowjetunion grassierende Hungersnot gezielt gegen die Menschen in der Ukraine gerichtet. Kritiker sehen in der Resolution eine rein politische Entscheidung, von der westlichen Solidarität für die angegriffene Ukraine diktiert. Auf viel Zustimmung stößt dagegen der heutige Bundestagsbeschluss, der nun auch die Morde, Massaker und Gräueltaten an Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der Jesiden im Nahen Osten als Genozid anerkennt.

Irakische Jesiden in traditionellen Gewändern. (Foto: Hamdi Hamad/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

„Die Anerkennung des Völkermordes durch den Bundestag ist ein wichtiger Schritt in der Aufarbeitung der Gräueltaten“, erklärt Tabea Giesecke, Referentin für ethnische, religiöse und sprachliche Minderheiten und Nationalitäten bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). „Die jesidische Community hat diesen Schritt durch ihre unermüdliche Arbeit ermöglicht. Ihren Kampf um Gerechtigkeit werden wir weiterhin unterstützen.“

Verantwortliche zur Rechenschaft ziehen

Nun sei es wichtig, auf die Details des Beschlusses zu schauen: „Mit der Anerkennung des Genozids ist die Arbeit nicht getan. Jetzt müssen konkrete Maßnahmen folgen, die die Überlebenden unterstützen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen“, fordert Giesecke. „Die jesidische Gemeinschaft muss unmittelbar an allen Entscheidungen über ihre Zukunft und die ihrer Heimatregion Sindschar beteiligt werden. Nur dann wird sich die Lage der Überlebenden wirklich verbessern.“

Jesidische Flüchtlinge in einem Lager im Nordosten Syriens 2014. Der Vormarsch der Terrormiliz „Islamischer Staat“ im Irak hatte sie zuvor zur Flucht gezwungen. (Foto: DFID – UK Department for International Development/Rachel Unkovic/International Rescue Committee/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Verantwortlich für den Genozid an der jesidischen Bevölkerung des Irak 2014 ist die dschihadistische Terrormiliz „Islamischer Staat“. Sie gilt im Nahen Osten seit einer Reihe von Gegenoffensiven im Irak und in Syrien zwar als weitgehend besiegt, macht aber dennoch immer wieder von sich reden. Nach Angaben der GfbV dauert der Genozid bis heute an. Viele jesidische Frauen seien immer noch verschwunden oder in Gefangenschaft. Zahlreiche Vertriebene sitzen demnach ohne Perspektive in Flüchtlingslagern fest, weil ihre Wohnhäuser zerstört wurden und die irakische Region Sindschar weiterhin unsicher ist. Kollektive und individuelle Traumata seien kaum aufgearbeitet worden.

Parteiübergreifende Zustimmung

Den Antrag, mit dem der Bundestag den Genozid anerkennt, haben SPD, Grüne, FDP und CDU/CSU gemeinsam eingereicht. Zugestimmt haben ihm alle Fraktionen. Der Antrag geht auf eine Petition aus der jesidischen Diasporagemeinschaft zurück. Im Februar vergangenen Jahres wurde er laut GfbV vor dem Petitionsausschuss des Bundestags und im Juni 2022 im Menschenrechtsausschuss diskutiert. Die 50.000 Unterschriften für die Petition sammelten demnach Ehrenamtliche, darunter viele jesidische Jugendliche. Der Menschenrechtsausschuss hatte dem Parlament die Anerkennung als Genozid empfohlen.

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Christen in Nahost: Durch Islamisten unterdrückt

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat an das Schicksal christlicher Konvertiten in islamisch geprägten Ländern erinnert. „Das Emirat Katar, Gastgeber der Fußball-WM in der Adventszeit, finanziert und unterstützt radikal-islamistische, sunnitischen Gruppen. Diese unterdrücken, vertreiben oder ermorden überall im Nahen Osten christliche Gläubige und Angehörige anderer religiöser Minderheiten“, erklärt Kamal Sido. Er ist Nahostexperte der GfbV. „Während des Kalten Kriegs war Saudi-Arabien der wichtigste Geldgeber bewaffneter islamistischer Gruppen, Organisationen und Parteien. Diese Rolle hat nun Katar übernommen.“ Das kleine Emirat sorge für das Geld. Der türkische Staat unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan übernehme die Organisation und logistische Unterstützung der sunnitischen Islamisten weltweit.

Menschenrechte auf der Strecke

Die Erfahrungen in Afghanistan haben nach Sidos Ansicht gezeigt, wie verfehlt die Unterstützung radikaler Islamisten durch westliche Regierungen war. „Opfer dieser verantwortungslosen Politik waren vor allem christliche und andere religiöse Minderheiten, sowie unter der Mehrheitsgesellschaft insbesondere Frauen“, erinnert Sido. „Durch die aktuellen geopolitischen Konflikte mit Russland und China erfahren islamistische Staaten wie die Türkei und Katar eine Aufwertung. Westliche Regierungen sind offenbar bereit, die Unterstützung der Taliban in Afghanistan oder der Muslimbrüder in Syrien zu akzeptieren.“ Demokratie, Menschen- und Minderheitenrechte blieben dabei auf der Strecke. Ebenso die Glaubensfreiheit und das Recht der Muslime, ihren Glauben zu wechseln.

Im vorigen Jahr fiel die afghanische Hauptstadt Kabul wieder an die radikalislamischen Taliban. Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker meint: „Westliche Regierungen sind offenbar bereit, die Unterstützung der Taliban in Afghanistan zu akzeptieren.“(Foto: Voice of America News/gemeinfrei)

Der Iran verfolge Konvertierte massiv, kritisiert die GfbV. Viele junge Menschen suchen auch wegen der Politik des Mullah-Regimes eine religiöse Heimat im Christentum oder im altiranischen Zoroastrismus. „Während das Regime den Zoroastrismus duldet, werden konvertierte Christen brutal verfolgt“, berichtet Sido. „Ihre Gottesdienste, die meist in Privaträumen stattfinden, werden gestürmt und die Teilnehmer verhaftet.“ Im Iran gibt es viele sogenannte Hauskirchen, die nicht selten von Frauen geleitet werden. Die genaue Zahl der Hauskirchen ist unbekannt. Schätzungen zufolge gibt es mindestens 700.000 konvertierte Christen im Iran, die ihren Glauben meist im Untergrund praktizieren.

Pastoren ausgewiesen

In der Türkei wurden seit 2018 insgesamt rund 200 ausländische protestantische Pastoren und deren Familien ausgewiesen, besonders amerikanische Geistliche. Damit will die türkische Regierung nach Darstellung der GfbV die Entstehung regulärer Kirchen verhindern. Die türkischen Behörden sehen in jedem Konvertierten einen Agenten des Westens, heißt es bei der Organisation. Dies sei eine absurde Einstellung. Die Türkei gehört als NATO-Mitglied schließlich selbst zum Westen. Auch in Katar sind christliche Konvertierte besonders gefährdet. Die Behörden erkennen ihren Glaubenswechsel nicht an. Und auch die Familien setzen sie unter großen Druck, zum Islam zurückzukehren.

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Ermöglichen Katars Milliarden die Invasion?

Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) befürchtet eine erneute großangelegte Invasion der Türkei im Norden Syriens. Eine Milliarden-Zahlung aus dem sunnitisch-wahhabitischen Golf-Emirat Katar mache dieses Szenario wahrscheinlicher, meint Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV. Zuletzt habe der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan erklärt, was er von einer solchen Invasion erwartet. „Er will Millionen von Menschen vertreiben und Nordsyrien kurdenfrei machen“, sagt Sido. „Nun soll Katar mindestens 10 Milliarden US-Dollar für die Türkei bereitgestellt haben. Davon kann man viele islamistische Söldner in den Krieg schicken. Sie sind bereits jetzt zahlreich in der Region präsent und terrorisieren die Menschen dort im Auftrag des NATO-Staates Türkei.“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Die Gesellschaft für bedrohte Völker befürchtet, dass er seine Truppen in naher Zukunft in Syrien einmarschieren lässt. (Foto: Gobierno de Guatemala/PDM-owner via Wikimedia Commons)

Die Türkei greift den Norden Syriens bereits seit Wochen immer wieder mit Artillerie und aus der Luft an. In einem Fernsehinterview verkündete der türkische Präsident, Nordostsyrien sei „für den Lebensstil der Kurden nicht geeignet, weil es Wüste ist“. „Der türkische Machthaber scheint zu bestimmen, welche Volksgruppe wo leben darf oder auch nicht. Und natürlich verschweigt er dabei, dass die Region seit Jahrhunderten kurdisch besiedelt ist“, erklärt Sido. „Jetzt mobilisiert Erdoğan Unterstützung, wo er sie bekommen kann. Katar hat er offenbar für seine islamistischen Großmacht-Ambitionen gewinnen können.“

Nordsyrien ethnisch säubern

Das kleine Katar, dass gerade einen Gas-Liefervertrag mit der Bundesrepublik abgeschlossen hat, könne sich die Unterstützung offensichtlich leisten. „Das WM-Gastgeberland unterstützt überall im Nahen Osten sunnitische Islamisten. Zum sunnitischen Islamisten Erdoğan gibt es schon lange gute Beziehungen. Nun ist er innenpolitisch angeschlagen. Er hat Angst, die Wahlen im nächsten Jahr zu verlieren. Die Invasion ist für ihn auch ein Mittel im Wahlkampf. Dazu kann er Nordsyrien ethnisch und religiös säubern und eine neue Fluchtwelle auslösen, mit der er Europa erpressen kann.“

Türkische Soldaten der KFOR-Mission im Kosovo. Mittlerweile liegt das Augenmerk der Streitkräfte auf Syrien. (Foto: Sgt. 1st Class Michael Hagburg/116th Public Affairs Detachment/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Erdoğan gilt der Gesellschaft für bedrohte Völker als politischer Kopf des radikalen sunnitischen Islam. Ähnlich wie die iranischen Mullahs, die schiitischen Gruppen anführen. „Das sunnitische Lager von Katar und der Türkei hat durch die NATO-Anbindung allerdings eine bessere Ausgangsposition. Ohne Duldung durch die NATO, Russland oder den Iran wird Erdoğan niemals eine neue Invasion wagen“, meint Sido. „Da aber selbst die deutsche Bundesregierung ‚Verständnis für die Sicherheitsinteressen der Türkei‘ äußert, dürfte er bald genügend Unterstützung gesammelt haben. Sobald das der Fall ist, wird die Invasion beginnen.“

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„False Flag“ in Istanbuls Innenstadt?

Eine Kämpferin der kurdischen Arbeiterpartei PKK soll in einer belebten Einkaufsstraße in Istanbul eine Bombe platziert haben. Das jedenfalls behauptet die islamisch-konservative Regierung in Ankara. Und beschießt seither die Kurdengebiete an der syrisch-türkischen Grenze. Mehr als 30 Menschen kamen dabei bislang ums Leben. Und das könnte erst der Anfang sein: Die Regierung droht nämlich mit einer großangelegten Bodenoffensive gegen die Kurden. Bei dem Anschlag in Istanbul waren sechs Menschen getötet worden. Mehr als eine Woche nach der Bluttat mehren sich nun die Zweifel an der offiziellen Version.

Von der PKK ausgebildet?

Als Täterin präsentierten die türkischen Behörden eine Frau namens Ahlam Albashir. Sie sei von der PKK oder vielmehr ihrem syrischen Ableger YPG ausgebildet und angestachelt worden, in der Istanbuler Innenstadt eine Tasche abzulegen, die den Sprengsatz enthielt. Albashir soll nach Angaben der Ermittler vor rund vier Monaten über die türkisch kontrollierte Region Afrin im Nordwesten Syriens in die Türkei eingereist sein. Ein mutmaßlicher Mittäter namens Ammar Jarkas, den die türkischen Behörden als Kopf hinter der Tat ausgemacht haben wollen, soll seit einem Jahr in der Türkei leben. Eingereist sei er über das kurdisch beherrschte Grenzgebiet rund um die Stadt Kobane in Syrien.

Menschen gedenken in der Istanbuler Unabhängigkeitsstraße der Toten des Anschlags vom 13. November. Die türkische Regierung vermutet kurdische Terroristen hinter dem Attentat. (Foto: Kurmanbek/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Die PKK weist die Vorwürfe entschieden zurück. Die Mehrheit der türkischen Medien dagegen stellt die offizielle Version von Vorgeschichte und Tathergang nicht in Frage. Bei näherer Betrachtung ergeben sich jedoch zahlreiche Fragezeichen. Darauf weist ein aktueller Beitrag des Portals tagesschau.de hin. Demnach haben türkische Journalisten erfahren, dass Albashir als auch Jarkas bereits deutlich länger in der Türkei leben. Auch ihre Namen wecken Zweifel. Es sind nämlich keine kurdischen. Jarkas ist selbst nach Angaben der Ermittler arabischer Syrer. Albashir könnte nach Medienberichten aus Somalia oder dem Sudan stammen.

Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“

Im Verhör sagte Albashir aus, ihr Bruder sei Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“ (FSA). Jene Miliz war am Beginn des Bürgerkriegs in Syrien die treibende Kraft des Aufstands gegen Präsident Baschar al-Assad. Westliche Staaten unterstützten sie finanziell und durch Ausbildung. Doch im Laufe des Bürgerkriegs geriet die FSA immer mehr ins Hintertreffen. Zuletzt war sie unter dem Namen „Syrische Nationale Armee“ kaum mehr als der verlängerte Waffenarm der Türkei in Syrien. Auch Jarkas und ein weiterer arabischer Syrer, bei dem Albashir in Istanbul gewohnt haben soll, standen offenbar in Verbindung zur „Freien Syrischen Armee“.

Kämpfer der „Freien Syrischen Armee“ (FSA) in einem türkischen Bus. Die von der Türkei gestützten Überreste der FSA treten mittlerweile als „Syrische Nationale Armee“ auf. (Foto: Voice of America/gemeinfrei)

Doch damit nicht genug der Merkwürdigkeiten. Albashir soll in ihrem Handy nämlich eine ganz besondere Sim-Karte genutzt haben. Zugelassen ist sie auf einen Ortsvorsitzenden der Partei MHP im mehrheitlich kurdisch besiedelten Südosten der Türkei. Die MHP ist Teil von Recep Tayyip Erdoğans Regierungskoalition. Vielen Beobachtern gilt sie als rechtsextrem. Der Ortsvorsitzende sieht sich dem Tagesschau-Beitrag zufolge als unschuldiges Opfer. Sein Ausweis sei kopiert worden. So habe man sich die auf seinen Namen ausgestellte Sim-Karte erschlichen. Wie kurdische Kämpfer an seinen Ausweis kommen konnten, erklärt er nicht.

Kurden in die Schuhe geschoben?

War der Anschlag in der Unabhängigkeitsstraße also eine „False Flag“, eine Operation unter falscher Flagge? Eine Bluttat türkischer Offizieller oder ihrer Unterstützer, die den Kurden in die Schuhe geschoben wird? In jedem Fall kommt der Anschlag wie gerufen für Präsident Erdoğan. Im kommenden Jahr wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Erdoğans Koalition droht Umfragen zufolge ein herber Stimmenverlust. Durch die Angriffe auf das kurdische Siedlungsgebiet und eine mögliche Bodenoffensive kann sich der Präsident als starker Mann präsentieren. Und damit womöglich bei den Wählern punkten. Die PKK dagegen hätte durch den Anschlag überhaupt nichts gewonnen. Wenn sie ihn denn verübt hat.

Thomas Wolf

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Syrien: „Schlimmer als während des Krieges“

2011 eskalierten die Proteste gegen die Regierung von Syriens säkularem Präsidenten Baschar al-Assad zum blutigen Bürgerkrieg. Islamistische Gruppierungen, die nicht selten von der Türkei oder Katar oder sogar vom Westen unterstützt wurden, bemächtigten sich ganzer syrischer Regionen und töteten oder vertrieben Zigtausende, darunter viele Christen. Heute, mehr als zehn Jahre nach Beginn der Mordens, ist in weiten Teilen des Landes die heiße Phase der Kämpfe vorbei. Nach Ansicht der Ordensschwester Annie Demerjian ist die Lage aber „schlimmer als während des Krieges, was die wirtschaftliche Situation und den Alltag der Menschen angeht“. Das sagte Demerjian in einem Interview mit dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“.

Kinder beten im syrischen Ost-Ghouta vor der Ikone „Unsere Liebe Frau von den Schmerzen, Trösterin der Syrer“. (Foto: Kirche in Not)

In einigen Landesteile seien auch nach elf Jahren des Bürgerkriegs noch immer islamistische Milizen wie der „Islamische Staat“ oder Nachfolge-Organisationen der al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front aktiv, beklagt Demerjian. Dort werde nach wie vor gekämpft. In den anderen Landesteilen fielen zwar keine Bomben mehr, „aber das Leben ist nicht friedlich. Es gibt keinen geregelten Alltag, denn unser Volk kämpft jeden Tag ums Überleben“. Demerjian gehört der Gemeinschaft der „Schwestern Jesu und Mariens“. Zusammen mit ihren Mitschwestern betreut sie kirchliche Hilfseinrichtungen in Syrien und im benachbarten Libanon.

Die Lage der Infrakstruktur sei vielerorts desolat, sagt die Ordensfrau: Viele Menschen hätten nur ein bis zwei Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung sei unterbrochen. Die Löhne könnten mit den enorm gestiegenen Preisen nicht mithalten: „Ein Familienvater in Aleppo verdient durchschnittlich umgerechnet um die 30 Euro. Allein die Miete beträgt aber 40 bis 50 Euro, in der Hauptstadt Damaskus sogar noch mehr. Wie soll das funktionieren?“ Viele Menschen seien der Situation überdrüssig. Die Auswanderungswelle, mit der Syrien seit Jahren zu kämpfen hat, setze sich fort.

Kritik an Sanktionen

Scharf kritisiert die Ordensfrau die Sanktionen, die die Europäische Union und die US-Regierung nach Beginn der Unruhen gegen Syrien verhängten: „Sie treffen das einfache Volk und machen uns das Leben sehr schwer. Ich verstehe die Länder nicht, die von Menschenrechten reden und Sanktionen gegen das Leben der Menschen verhängen.“ Die Kirche versuche, die schlimmsten Nöte zu lindern und weitere Auswanderungen zu stoppen, erklärt Schwester Annie. Sie schätzt, dass im Vergleich zur Zeit vor dem Bürgerkrieg nur noch etwa ein Drittel der Christen in Syrien geblieben seien.

Die Kirche versucht, den Syrern mit Suppenküchen zu helfen. (Foto: Kirche in Not)

Das Engagement von Schwester Annies Gemeinschaft erstreckt sich deshalb auch auf den Libanon, wo sich nach wie vor viele syrische Flüchtlinge aufhalten. Im syrischen Aleppo konzentriert sich die Hilfe auf rund 300 mittellose Familien. Die Ordensfrauen leisten Beihilfen für die Miete und versorgen die Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten. Diese seien nach wie vor ein besonders rares Gut, erzählt Demerjian: „Ich weiß von vielen Menschen, dass sie ihre Medikamente nur alle paar Tage einnehmen. Sie strecken sie, damit sie möglichst lang den Bedarf decken können.“ 

Traumatisierte Kinder

Für traumatisierte Kinder bieten die Ordensfrauen Musik- und Kunsttherapien an. „Das Trauma, das unsere Kinder erlitten haben, ist sehr stark, besonders bei denen, die während des Krieges geboren wurden“, sagt Schwester Annie. Ein weiteres Augenmerk liege auf dem Bereich Arbeit und Bildung. In der christlich geprägten Kleinstadt Maalula im Südwesten Syriens nahe der libanesischen Grenze hat die Gemeinschaft eine Nähwerkstatt aufgebaut, in der über 20 Frauen Arbeit und Lohn finden. Während des Kriegs war Maalula zeitweise von dschihadistischen Kämpfern besetzt.

Schwester Annie Demerjian (links) mit Frauen in der Nähwerkstatt der christlichen Siedlung Maalula. (Foto: Kirche in Not)
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„Die extreme Rechte auf dem Vormarsch“

Israel wählt heute ein neues Parlament – schon wieder. Die regierende Acht-Parteien-Koalition war zuvor nach nur einem Jahr auseinandergebrochen. Es ist die fünfte vorzeitige Wahl innerhalb von nur dreieinhalb Jahren. Und wieder einmal ist in den Wochen vor dem Urnengang die Parteienlandschaft durchgeschüttelt worden. Die echten Probleme des Nahen Ostens geraten so in den Hintergrund.

Das israelische Parlament, die Knesset, in Jerusalem. Mehr als zehn Parteien und Wahlbündnisse könnten bei der heutigen Wahl den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde schaffen. (Foto: Chris Yunker from St. Louis/United States/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Die noch 2020 als gemeinsame Liste angetretenen drei arabischen Parteien Hadash-Ta’al, Ra’am und Balad versuchen dieses Mal, eigenständig über die 3,25-Prozent-Hürde zu springen. Diese Aufsplitterung ist ein Grund dafür, dass die traditionell niedrige Wahlbeteiligung der Araber in Israel, die sich selbstbewusst „Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit“ nennen, wohl historisch schwach ausfallen wird. Umfragen gehen von 30 bis 40 Prozent aus. Immerhin rund 21 Prozent der Israelis gehören der Minderheit an.

Israel reißt Häuser ab

Die Zeitung Ha’aretz hat kürzlich acht arabische Wahlverweigerer porträtiert. Wir werden weiter benachteiligt, beklagen sie. Und selbst wenn einer von ihnen in der Regierung sitzt (wie derzeit Mansour Abbas), reißt Israel weiterhin palästinensische Häuser ab – vor allem jene von Beduinen im Negev. Zweites Beispiel: Der frühere Generalstabschef Benny Gantz vom liberalen Wahlbündnis „Blau-Weiß“ hat sich mit dem rechten Justizminister Gideon Sa’ar und seiner „Neuen Hoffnung“ zur Partei der Nationalen Einheit (Staatspartei) zusammengetan. Um die zwölf Sitze werden ihr prognostiziert. 

Der frühere Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Seine rechte Likud-Partei wird die Wahl wohl gewinnen. Ob Netanjahu dann an die Spitze der Regierung zurückkehrt, ist aber völlig unklar. (Foto: U.S. Air Force Staff Sgt. Jack Sanders/U.S. Secretary of Defense/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Stärkste Kraft dürfte bei der Wahl wieder Benjamin Netanjahus rechter Likud mit 30 bis 32 Sitzen werden. Auf dem zweiten Platz wird wohl Israels kommissarischer Ministerpräsident Jair Lapid mit seiner Zukunftspartei landen. Je nach Umfrage könnte er zwischen 24 und 27 Sitze erringen. Drittstärkste Kraft dürfte das ultrarechte Bündnis von Bezalel Smotrich werden: die Partei des religiösen Zionismus. Smotrich, der in einer jüdischen Siedlung im Westjordanland lebt, gilt als Agitator und Provokateur. Manche bezeichnen ihn als „Israels Trump“. Seinem Bündnis werden 12 bis 14 Sitze vorhergesagt. Das wäre eine Verdopplung der aktuellen Mandate.

Ähnlich viele Sitze dürften der Block Vereinigtes Thorajudentum und die orthodoxe Shas-Partei gewinnen. Daneben gibt es eine ganze Reihe Parteien, die, sollten sie die Sperrklausel nehmen, zwischen fünf und zehn Sitzen erringen dürften. Unter ihnen ist die linke Meretz als einzige jüdische Partei, die sich für ein Ende der Besatzung des Palästinensergebiets und für Frieden unter den Volksgruppen einsetzt. Auch die einst mächtige Arbeitspartei Avoda, Avigdor Liebermans rechte Partei Israel Beitenu (Israel – unser Heim) sowie das Jüdische Haus der amtierenden rechten Innenministerin Ajelet Schaked könnten in die Knesset einziehen.

Ultraorthodoxe zum Wehrdienst

„Die extreme Rechte ist auf dem Vormarsch, die Linke ist in Schwierigkeiten und Netanjahus Schicksal steht auf dem Spiel“, fasst die Politologin Dahlia Scheindlin die Umfragen zusammen. Das Thema Konfliktlösung und Frieden spielt im Wahlkampf keine Rolle. Stattdessen kreisen die Kampagnen nahezu aller jüdischen Parteien um innere Themen Israels. Die einen wollen die Stadtbahn im Raum Tel Aviv auch am Sabbat, dem heiligen Ruhetag der Juden, fahren lassen. Andere möchten Homo- und Transsexuelle einschränken. Gleich mehrere Parteien möchten ultraorthodoxe Juden anders als bisher zum Wehrdienst einziehen. Andere dagegen möchten den jüdischen Charakter des Staates stärken.

Israelische Soldaten bei einem Einsatz in der palästinensischen Stadt Nablus. Der Frieden in den Palästinensergebieten ist brüchig. (Foto: Israel Defense Forces/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Die drei arabischen Parteien haben den Frieden zwar auf dem Schirm. Nach der Abspaltung von der einstigen gemeinsamen Liste sind sie allerdings zu sehr mit Neuorientierung und Selbstfindung beschäftigt, als dass sie das Friedensthema offensiv und erfolgreich vertreten könnten. Die Mehrheit der Parteien tut so, als existiere 35 Kilometer von Tel Aviv entfernt kein Besatzungsregime. Dieses tötet auch im 55. Jahr seines Bestehens Menschen auf beiden Seiten, beraubt Palästinenser und Israelis ihrer Träume und Zukunft. Sie bindet Gelder, die anderswo fehlen, zerfrisst die Beatzungsmacht Israel seelisch-moralisch.

Mehr als 100 tote Palästinenser

Allein in diesem Jahr wurden 136 Palästinenser und 13 Israelis getötet. Israel hat über 700 palästinensische Häuser, Ställe und Zisternen abgerissen. Mehr als 800 Menschen wurden obdachlos. Die UN-Agentur OCHA verzeichnet 527 Angriffe von jüdischen Siedlern auf Palästinenser. Ob die neue israelische Regierung die Frage der Besatzung anpackt? Dieses Urübel des Unfriedens, wie es manch ein Beobachter nennt? Die Staatengemeinschaft sollte den zukünftigen Premier dazu ermutigen. 

Johannes Zang

Der Autor hat fast zehn Jahre in Israel und Palästina gelebt. Er ist Autor und freier Journalist. Sein aktuelles Buch heißt „Erlebnisse im Heiligen Land“ und ist bei Promedia erschienen. Zang betreibt einmal im Monat den Podcast Jeru-Salam. Seit 2008 hat er über 60 Reisegruppen durch Israel, Palästina und Jordanien begleitet.

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Unterstützt Deutschland Al-Qaida-Ableger?

Nachdem die islamistische Miliz „Haiʾat Tahrir asch-Scham“ (HTS) die Kontrolle über die vor allem von Kurden besiedelte syrische Region Afrin übernommen hat, richtet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) einen dringenden Appell an den Bundestag. Das Parlament müsse die Bundesregierung per Beschluss zwingen, ihre Unterstützung für islamistische Gruppen, die von der Türkei kontrolliert werden, zu überprüfen. Die HTS ist der inoffizielle Nachfolger der dschihadistischen Al-Nusra-Front. Damit ist das „Komitee zur Befreiung der Levante“ nichts anderes als der syrische Ableger des Terrornetzwerks Al-Qaida.

Die Flagge der Dschihadisten-Miliz HTS zeigt das islamische Glaubensbekenntnis. (Foto: gemeinfrei)

„Die von der deutschen Bundesregierung als gemäßigt eingestuften islamistischen Gruppen, die vorher die Kontrolle hatten, haben keinen Widerstand geleistet“, betont Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV. „Einige haben der HTS sogar Gefolgschaft geschworen. Im Kampf gegen den sogenannten ‚Islamischen Staat‘ haben kurdische und andere Gruppen die Hauptlast getragen“, erinnert Sido. Die protürkischen islamistischen Gruppen seien nur daran interessiert, sich auf Kosten der lokalen Bevölkerung zu bereichern oder diese zu vertreiben. Ideologisch unterscheiden sie sich kaum vom „Islamischen Staat“.

Unter Erdoğans Kontrolle

Die deutsche Bundesregierung, insbesondere das Auswärtige Amt, unterstützt seit Jahren die sogenannte „Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte“. Sie gilt als politischer Arm der islamistischen Milizen und stehe schon lange unter der vollständigen Kontrolle Recep Tayyip Erdoğans. „In Afrin sowie in anderen von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens morden, vergewaltigen und terrorisieren diese Milizen die kurdische, assyrisch/aramäische, armenische, christliche, jesidische und alewitische Bevölkerung. Vor allem Frauen leiden unter den islamistischen Besatzern“, berichtet Sido.

„Erdogans Behauptungen, die Milizen würden in den von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens für ‚Schutz und Sicherheit‘ sorgen, sind nur leeres Gerede. Für die Zivilbevölkerung kommen diese Gebiete tatsächlich einer Hölle gleich.“ Die deutsche Politik, kritisiert der GfbV-Experte, habe regelrecht Angst vor Erdogan. „Solange sie vor ihm einknickt, kann sie nicht von wertegeleiteter Außenpolitik sprechen. Sie schadet dem Ansehen Deutschlands weltweit“, meint Sido.

Kämpfer der Al-Nusra-Front in der syrischen Stadt Idlib 2015. Al-Nusra war einst der offizielle Al-Qaida-Ableger in Syrien. Seit 2017 bildet die umbenannte Front den Kern der HTS-Miliz. (Foto: Halab Today TV/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)
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Wird der Iran zum nächsten Syrien?

Die Situation im schiitisch geprägten Iran eskaliert immer weiter. Nachdem eine junge Kurdin nach ihrer Festnahme unter ungeklärten Umständen gestorben war, gingen in der Hauptstadt Teheran und in den kurdischen Landesteilen Zigtausende Menschen auf die Straße. Die 22-jährige Mahsa Amini soll gegen die islamischen Kleidervorschriften verstoßen haben. Die Behörden machen für ihren plötzlichen Tod eine Vorerkrankung am Herzen verantwortlich. Ihre Familie und Oppositionelle vermuten dagegen, sie sei im Gewahrsam der Sittenpolizei durch Schläge gegen den Kopf getötet worden.

Aufstand gegen die Mullahs

Die anfänglichen Proteste gegen Polizeigewalt und für Frauenrechte nehmen immer mehr die Züge eines Aufstands gegen das klerikale Mullah-Regime an. In der Hauptstadt warfen Demonstranten Molotow-Cocktails. Die Polizei setzt Tränengas und scharfe Munition ein. Mehr als 80 Menschen sollen bei den Unruhen nach Informationen von Amnesty International bereits ums Leben gekommen sein. Darunter sind auch Sicherheitskräfte. Teheran spricht von Krawallmachern und Terroristen, gegen die es vorgehen müsse. Iranische Truppen griffen sogar kurdische Stellungen im benachbarten Irak an.

Iranische Polizisten während einer Demonstration. (Foto: Fars Media Corporation/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Beobachter erinnern die Auseinandersetzungen im Iran an den Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011. Aus einzelnen Protestaktionen gegen die autoritäre Politik von Präsident Baschar al-Assad entwickelte sich binnen weniger Monate ein rücksichtslos geführter Krieg verschiedener militanter Gruppen gegen die Regierung in Damaskus. Damals wie heute stellte sich der Westen schnell an die Seite der vorgeblich demokratischen Proteste gegen das autoritäre Regime. Tatsächlich war von der demokratischen Gesinnung der syrischen Opposition bald nichts mehr zu spüren.

Sunnitischer Terror

Stattdessen setzten sich radikale Islamisten und militante Extremisten unter den Aufständischen durch. Die sunnitische Terrorgruppe Al-Qaida und die aus ihrer irakischen Sektion hervorgegangene Terrormiliz „Islamische Staat“ (IS) griffen in den Bürgerkrieg ein. Zeitweise standen weite Teile Syriens und des nördlichen Iraks unter IS-Kontrolle. Kurdische Kämpfer und dem Iran nahestehende Schiiten-Milizen drängten die sunnitischen Dschihadisten zurück. Heute gilt der IS zwar als weitgehend besiegt. Aus dem Untergrund heraus allerdings wird er immer wieder aktiv.

Die islamisch-konservativ geführte Türkei stand zeitweilig im Verdacht, im Kampf gegen das ihr verhasste, weil säkulare Assad-Regime mit den Dschihadisten gemeinsame Sache zu machen. Belegt ist immerhin, dass die Türkei eigene Islamisten-Verbände ausgerüstet und in Syrien eingesetzt hat. Rund 4000 von ihnen wurden später als Söldner angeworben, um in der umstrittenen Kaukasus-Region Bergkarabach gegen christliche Armenier zu kämpfen. Dabei soll sogar von einem „heiligen Krieg gegen die Christen“ in Bergkarabach die Rede gewesen sein.

Syriens Präsident Baschar al-Assad (links) besucht mit Wladimir Putin eine orthodoxe Kirche. Rechts: Patriarch Johannes X. von Antiochien. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Auch seitens der westlichen Politik war es mit der Demokratie offenbar nicht allzu weit her. Der Nahost-Experte und ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer warf den Regierungen Europas und der USA schon 2012 vor, an einer echten Demokratie in Syrien nicht interessiert zu sein. „Der größte Widerstand gegen demokratische Reformen geht derzeit von der westlichen Politik aus“, sagte Todenhöfer damals. Assad, den er persönlich kennt, bescheinigte der Ex-Abgeordnete einen ernsthaften Reformwillen. „Ich habe den Eindruck, dass Assad Syrien in der Tat in Richtung Demokratie umgestalten will.“

Verbündeter Irans

Todenhöfer hat den syrischen Präsidenten als ruhigen Mann erlebt, der rational argumentierte. Er sei „nicht der typische Macho-Diktator, als der er im Westen dargestellt wird“. Für Todenhöfer stellte sich der Westen aus einem ganz bestimmten Grund auf die Seite der syrischen Opposition: Er hoffte, mit Assad einen wichtigen Bündnispartner des Iran zu beseitigen. „Assad könnte morgen die perfekte Demokratie in Syrien einführen – solange er Verbündeter Irans ist, würden die USA immer einen Grund finden, ihn zu bekämpfen“, zeigte Todenhöfer sich überzeugt.

Hier nun schließt sich der Kreis zu den eskalierenden Protesten im Iran. Werden sie in Kürze ebenfalls in einen Bürgerkrieg münden? Exiliraner hoffen bereits auf eine Revolution, die das strenge schiitische Herrschaftssystem hinwegfegen könnte. Womöglich stacheln westliche Geheimdienste die Proteste sogar ganz bewusst an. Gerade die USA dürften ein großes Interesse daran haben, dass das Mullah-Regime fällt. Nicht nur wegen des seit Jahren schwelenden Atomstreits. Auch im Ukraine-Krieg hat das Land sich für den westlichen Geschmack etwas zu pro-russisch positioniert.

Thomas Wolf

Irans Revolutionsführer Ali Chamenei. Die Massenproteste richten sich zunehmend gegen sein schiitisch-konservatives Mullah-System. (Foto: Khamenei.ir/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)