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Syrien: „Schlimmer als während des Krieges“

2011 eskalierten die Proteste gegen die Regierung von Syriens säkularem Präsidenten Baschar al-Assad zum blutigen Bürgerkrieg. Islamistische Gruppierungen, die nicht selten von der Türkei oder Katar oder sogar vom Westen unterstützt wurden, bemächtigten sich ganzer syrischer Regionen und töteten oder vertrieben Zigtausende, darunter viele Christen. Heute, mehr als zehn Jahre nach Beginn der Mordens, ist in weiten Teilen des Landes die heiße Phase der Kämpfe vorbei. Nach Ansicht der Ordensschwester Annie Demerjian ist die Lage aber „schlimmer als während des Krieges, was die wirtschaftliche Situation und den Alltag der Menschen angeht“. Das sagte Demerjian in einem Interview mit dem katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“.

Kinder beten im syrischen Ost-Ghouta vor der Ikone „Unsere Liebe Frau von den Schmerzen, Trösterin der Syrer“. (Foto: Kirche in Not)

In einigen Landesteile seien auch nach elf Jahren des Bürgerkriegs noch immer islamistische Milizen wie der „Islamische Staat“ oder Nachfolge-Organisationen der al-Qaida-nahen Al-Nusra-Front aktiv, beklagt Demerjian. Dort werde nach wie vor gekämpft. In den anderen Landesteilen fielen zwar keine Bomben mehr, „aber das Leben ist nicht friedlich. Es gibt keinen geregelten Alltag, denn unser Volk kämpft jeden Tag ums Überleben“. Demerjian gehört der Gemeinschaft der „Schwestern Jesu und Mariens“. Zusammen mit ihren Mitschwestern betreut sie kirchliche Hilfseinrichtungen in Syrien und im benachbarten Libanon.

Die Lage der Infrakstruktur sei vielerorts desolat, sagt die Ordensfrau: Viele Menschen hätten nur ein bis zwei Stunden am Tag Strom, die Wasserversorgung sei unterbrochen. Die Löhne könnten mit den enorm gestiegenen Preisen nicht mithalten: „Ein Familienvater in Aleppo verdient durchschnittlich umgerechnet um die 30 Euro. Allein die Miete beträgt aber 40 bis 50 Euro, in der Hauptstadt Damaskus sogar noch mehr. Wie soll das funktionieren?“ Viele Menschen seien der Situation überdrüssig. Die Auswanderungswelle, mit der Syrien seit Jahren zu kämpfen hat, setze sich fort.

Kritik an Sanktionen

Scharf kritisiert die Ordensfrau die Sanktionen, die die Europäische Union und die US-Regierung nach Beginn der Unruhen gegen Syrien verhängten: „Sie treffen das einfache Volk und machen uns das Leben sehr schwer. Ich verstehe die Länder nicht, die von Menschenrechten reden und Sanktionen gegen das Leben der Menschen verhängen.“ Die Kirche versuche, die schlimmsten Nöte zu lindern und weitere Auswanderungen zu stoppen, erklärt Schwester Annie. Sie schätzt, dass im Vergleich zur Zeit vor dem Bürgerkrieg nur noch etwa ein Drittel der Christen in Syrien geblieben seien.

Die Kirche versucht, den Syrern mit Suppenküchen zu helfen. (Foto: Kirche in Not)

Das Engagement von Schwester Annies Gemeinschaft erstreckt sich deshalb auch auf den Libanon, wo sich nach wie vor viele syrische Flüchtlinge aufhalten. Im syrischen Aleppo konzentriert sich die Hilfe auf rund 300 mittellose Familien. Die Ordensfrauen leisten Beihilfen für die Miete und versorgen die Menschen mit Lebensmitteln und Medikamenten. Diese seien nach wie vor ein besonders rares Gut, erzählt Demerjian: „Ich weiß von vielen Menschen, dass sie ihre Medikamente nur alle paar Tage einnehmen. Sie strecken sie, damit sie möglichst lang den Bedarf decken können.“ 

Traumatisierte Kinder

Für traumatisierte Kinder bieten die Ordensfrauen Musik- und Kunsttherapien an. „Das Trauma, das unsere Kinder erlitten haben, ist sehr stark, besonders bei denen, die während des Krieges geboren wurden“, sagt Schwester Annie. Ein weiteres Augenmerk liege auf dem Bereich Arbeit und Bildung. In der christlich geprägten Kleinstadt Maalula im Südwesten Syriens nahe der libanesischen Grenze hat die Gemeinschaft eine Nähwerkstatt aufgebaut, in der über 20 Frauen Arbeit und Lohn finden. Während des Kriegs war Maalula zeitweise von dschihadistischen Kämpfern besetzt.

Schwester Annie Demerjian (links) mit Frauen in der Nähwerkstatt der christlichen Siedlung Maalula. (Foto: Kirche in Not)
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„Die extreme Rechte auf dem Vormarsch“

Israel wählt heute ein neues Parlament – schon wieder. Die regierende Acht-Parteien-Koalition war zuvor nach nur einem Jahr auseinandergebrochen. Es ist die fünfte vorzeitige Wahl innerhalb von nur dreieinhalb Jahren. Und wieder einmal ist in den Wochen vor dem Urnengang die Parteienlandschaft durchgeschüttelt worden. Die echten Probleme des Nahen Ostens geraten so in den Hintergrund.

Das israelische Parlament, die Knesset, in Jerusalem. Mehr als zehn Parteien und Wahlbündnisse könnten bei der heutigen Wahl den Sprung über die 3,25-Prozent-Hürde schaffen. (Foto: Chris Yunker from St. Louis/United States/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Die noch 2020 als gemeinsame Liste angetretenen drei arabischen Parteien Hadash-Ta’al, Ra’am und Balad versuchen dieses Mal, eigenständig über die 3,25-Prozent-Hürde zu springen. Diese Aufsplitterung ist ein Grund dafür, dass die traditionell niedrige Wahlbeteiligung der Araber in Israel, die sich selbstbewusst „Palästinenser mit israelischer Staatsangehörigkeit“ nennen, wohl historisch schwach ausfallen wird. Umfragen gehen von 30 bis 40 Prozent aus. Immerhin rund 21 Prozent der Israelis gehören der Minderheit an.

Israel reißt Häuser ab

Die Zeitung Ha’aretz hat kürzlich acht arabische Wahlverweigerer porträtiert. Wir werden weiter benachteiligt, beklagen sie. Und selbst wenn einer von ihnen in der Regierung sitzt (wie derzeit Mansour Abbas), reißt Israel weiterhin palästinensische Häuser ab – vor allem jene von Beduinen im Negev. Zweites Beispiel: Der frühere Generalstabschef Benny Gantz vom liberalen Wahlbündnis „Blau-Weiß“ hat sich mit dem rechten Justizminister Gideon Sa’ar und seiner „Neuen Hoffnung“ zur Partei der Nationalen Einheit (Staatspartei) zusammengetan. Um die zwölf Sitze werden ihr prognostiziert. 

Der frühere Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Seine rechte Likud-Partei wird die Wahl wohl gewinnen. Ob Netanjahu dann an die Spitze der Regierung zurückkehrt, ist aber völlig unklar. (Foto: U.S. Air Force Staff Sgt. Jack Sanders/U.S. Secretary of Defense/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Stärkste Kraft dürfte bei der Wahl wieder Benjamin Netanjahus rechter Likud mit 30 bis 32 Sitzen werden. Auf dem zweiten Platz wird wohl Israels kommissarischer Ministerpräsident Jair Lapid mit seiner Zukunftspartei landen. Je nach Umfrage könnte er zwischen 24 und 27 Sitze erringen. Drittstärkste Kraft dürfte das ultrarechte Bündnis von Bezalel Smotrich werden: die Partei des religiösen Zionismus. Smotrich, der in einer jüdischen Siedlung im Westjordanland lebt, gilt als Agitator und Provokateur. Manche bezeichnen ihn als „Israels Trump“. Seinem Bündnis werden 12 bis 14 Sitze vorhergesagt. Das wäre eine Verdopplung der aktuellen Mandate.

Ähnlich viele Sitze dürften der Block Vereinigtes Thorajudentum und die orthodoxe Shas-Partei gewinnen. Daneben gibt es eine ganze Reihe Parteien, die, sollten sie die Sperrklausel nehmen, zwischen fünf und zehn Sitzen erringen dürften. Unter ihnen ist die linke Meretz als einzige jüdische Partei, die sich für ein Ende der Besatzung des Palästinensergebiets und für Frieden unter den Volksgruppen einsetzt. Auch die einst mächtige Arbeitspartei Avoda, Avigdor Liebermans rechte Partei Israel Beitenu (Israel – unser Heim) sowie das Jüdische Haus der amtierenden rechten Innenministerin Ajelet Schaked könnten in die Knesset einziehen.

Ultraorthodoxe zum Wehrdienst

„Die extreme Rechte ist auf dem Vormarsch, die Linke ist in Schwierigkeiten und Netanjahus Schicksal steht auf dem Spiel“, fasst die Politologin Dahlia Scheindlin die Umfragen zusammen. Das Thema Konfliktlösung und Frieden spielt im Wahlkampf keine Rolle. Stattdessen kreisen die Kampagnen nahezu aller jüdischen Parteien um innere Themen Israels. Die einen wollen die Stadtbahn im Raum Tel Aviv auch am Sabbat, dem heiligen Ruhetag der Juden, fahren lassen. Andere möchten Homo- und Transsexuelle einschränken. Gleich mehrere Parteien möchten ultraorthodoxe Juden anders als bisher zum Wehrdienst einziehen. Andere dagegen möchten den jüdischen Charakter des Staates stärken.

Israelische Soldaten bei einem Einsatz in der palästinensischen Stadt Nablus. Der Frieden in den Palästinensergebieten ist brüchig. (Foto: Israel Defense Forces/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Die drei arabischen Parteien haben den Frieden zwar auf dem Schirm. Nach der Abspaltung von der einstigen gemeinsamen Liste sind sie allerdings zu sehr mit Neuorientierung und Selbstfindung beschäftigt, als dass sie das Friedensthema offensiv und erfolgreich vertreten könnten. Die Mehrheit der Parteien tut so, als existiere 35 Kilometer von Tel Aviv entfernt kein Besatzungsregime. Dieses tötet auch im 55. Jahr seines Bestehens Menschen auf beiden Seiten, beraubt Palästinenser und Israelis ihrer Träume und Zukunft. Sie bindet Gelder, die anderswo fehlen, zerfrisst die Beatzungsmacht Israel seelisch-moralisch.

Mehr als 100 tote Palästinenser

Allein in diesem Jahr wurden 136 Palästinenser und 13 Israelis getötet. Israel hat über 700 palästinensische Häuser, Ställe und Zisternen abgerissen. Mehr als 800 Menschen wurden obdachlos. Die UN-Agentur OCHA verzeichnet 527 Angriffe von jüdischen Siedlern auf Palästinenser. Ob die neue israelische Regierung die Frage der Besatzung anpackt? Dieses Urübel des Unfriedens, wie es manch ein Beobachter nennt? Die Staatengemeinschaft sollte den zukünftigen Premier dazu ermutigen. 

Johannes Zang

Der Autor hat fast zehn Jahre in Israel und Palästina gelebt. Er ist Autor und freier Journalist. Sein aktuelles Buch heißt „Erlebnisse im Heiligen Land“ und ist bei Promedia erschienen. Zang betreibt einmal im Monat den Podcast Jeru-Salam. Seit 2008 hat er über 60 Reisegruppen durch Israel, Palästina und Jordanien begleitet.

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Unterstützt Deutschland Al-Qaida-Ableger?

Nachdem die islamistische Miliz „Haiʾat Tahrir asch-Scham“ (HTS) die Kontrolle über die vor allem von Kurden besiedelte syrische Region Afrin übernommen hat, richtet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) einen dringenden Appell an den Bundestag. Das Parlament müsse die Bundesregierung per Beschluss zwingen, ihre Unterstützung für islamistische Gruppen, die von der Türkei kontrolliert werden, zu überprüfen. Die HTS ist der inoffizielle Nachfolger der dschihadistischen Al-Nusra-Front. Damit ist das „Komitee zur Befreiung der Levante“ nichts anderes als der syrische Ableger des Terrornetzwerks Al-Qaida.

Die Flagge der Dschihadisten-Miliz HTS zeigt das islamische Glaubensbekenntnis. (Foto: gemeinfrei)

„Die von der deutschen Bundesregierung als gemäßigt eingestuften islamistischen Gruppen, die vorher die Kontrolle hatten, haben keinen Widerstand geleistet“, betont Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV. „Einige haben der HTS sogar Gefolgschaft geschworen. Im Kampf gegen den sogenannten ‚Islamischen Staat‘ haben kurdische und andere Gruppen die Hauptlast getragen“, erinnert Sido. Die protürkischen islamistischen Gruppen seien nur daran interessiert, sich auf Kosten der lokalen Bevölkerung zu bereichern oder diese zu vertreiben. Ideologisch unterscheiden sie sich kaum vom „Islamischen Staat“.

Unter Erdoğans Kontrolle

Die deutsche Bundesregierung, insbesondere das Auswärtige Amt, unterstützt seit Jahren die sogenannte „Nationalkoalition syrischer Revolutions- und Oppositionskräfte“. Sie gilt als politischer Arm der islamistischen Milizen und stehe schon lange unter der vollständigen Kontrolle Recep Tayyip Erdoğans. „In Afrin sowie in anderen von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens morden, vergewaltigen und terrorisieren diese Milizen die kurdische, assyrisch/aramäische, armenische, christliche, jesidische und alewitische Bevölkerung. Vor allem Frauen leiden unter den islamistischen Besatzern“, berichtet Sido.

„Erdogans Behauptungen, die Milizen würden in den von der Türkei besetzten Gebieten Nordsyriens für ‚Schutz und Sicherheit‘ sorgen, sind nur leeres Gerede. Für die Zivilbevölkerung kommen diese Gebiete tatsächlich einer Hölle gleich.“ Die deutsche Politik, kritisiert der GfbV-Experte, habe regelrecht Angst vor Erdogan. „Solange sie vor ihm einknickt, kann sie nicht von wertegeleiteter Außenpolitik sprechen. Sie schadet dem Ansehen Deutschlands weltweit“, meint Sido.

Kämpfer der Al-Nusra-Front in der syrischen Stadt Idlib 2015. Al-Nusra war einst der offizielle Al-Qaida-Ableger in Syrien. Seit 2017 bildet die umbenannte Front den Kern der HTS-Miliz. (Foto: Halab Today TV/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)
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Wird der Iran zum nächsten Syrien?

Die Situation im schiitisch geprägten Iran eskaliert immer weiter. Nachdem eine junge Kurdin nach ihrer Festnahme unter ungeklärten Umständen gestorben war, gingen in der Hauptstadt Teheran und in den kurdischen Landesteilen Zigtausende Menschen auf die Straße. Die 22-jährige Mahsa Amini soll gegen die islamischen Kleidervorschriften verstoßen haben. Die Behörden machen für ihren plötzlichen Tod eine Vorerkrankung am Herzen verantwortlich. Ihre Familie und Oppositionelle vermuten dagegen, sie sei im Gewahrsam der Sittenpolizei durch Schläge gegen den Kopf getötet worden.

Aufstand gegen die Mullahs

Die anfänglichen Proteste gegen Polizeigewalt und für Frauenrechte nehmen immer mehr die Züge eines Aufstands gegen das klerikale Mullah-Regime an. In der Hauptstadt warfen Demonstranten Molotow-Cocktails. Die Polizei setzt Tränengas und scharfe Munition ein. Mehr als 80 Menschen sollen bei den Unruhen nach Informationen von Amnesty International bereits ums Leben gekommen sein. Darunter sind auch Sicherheitskräfte. Teheran spricht von Krawallmachern und Terroristen, gegen die es vorgehen müsse. Iranische Truppen griffen sogar kurdische Stellungen im benachbarten Irak an.

Iranische Polizisten während einer Demonstration. (Foto: Fars Media Corporation/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Beobachter erinnern die Auseinandersetzungen im Iran an den Beginn des Bürgerkriegs in Syrien 2011. Aus einzelnen Protestaktionen gegen die autoritäre Politik von Präsident Baschar al-Assad entwickelte sich binnen weniger Monate ein rücksichtslos geführter Krieg verschiedener militanter Gruppen gegen die Regierung in Damaskus. Damals wie heute stellte sich der Westen schnell an die Seite der vorgeblich demokratischen Proteste gegen das autoritäre Regime. Tatsächlich war von der demokratischen Gesinnung der syrischen Opposition bald nichts mehr zu spüren.

Sunnitischer Terror

Stattdessen setzten sich radikale Islamisten und militante Extremisten unter den Aufständischen durch. Die sunnitische Terrorgruppe Al-Qaida und die aus ihrer irakischen Sektion hervorgegangene Terrormiliz „Islamische Staat“ (IS) griffen in den Bürgerkrieg ein. Zeitweise standen weite Teile Syriens und des nördlichen Iraks unter IS-Kontrolle. Kurdische Kämpfer und dem Iran nahestehende Schiiten-Milizen drängten die sunnitischen Dschihadisten zurück. Heute gilt der IS zwar als weitgehend besiegt. Aus dem Untergrund heraus allerdings wird er immer wieder aktiv.

Die islamisch-konservativ geführte Türkei stand zeitweilig im Verdacht, im Kampf gegen das ihr verhasste, weil säkulare Assad-Regime mit den Dschihadisten gemeinsame Sache zu machen. Belegt ist immerhin, dass die Türkei eigene Islamisten-Verbände ausgerüstet und in Syrien eingesetzt hat. Rund 4000 von ihnen wurden später als Söldner angeworben, um in der umstrittenen Kaukasus-Region Bergkarabach gegen christliche Armenier zu kämpfen. Dabei soll sogar von einem „heiligen Krieg gegen die Christen“ in Bergkarabach die Rede gewesen sein.

Syriens Präsident Baschar al-Assad (links) besucht mit Wladimir Putin eine orthodoxe Kirche. Rechts: Patriarch Johannes X. von Antiochien. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Auch seitens der westlichen Politik war es mit der Demokratie offenbar nicht allzu weit her. Der Nahost-Experte und ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Jürgen Todenhöfer warf den Regierungen Europas und der USA schon 2012 vor, an einer echten Demokratie in Syrien nicht interessiert zu sein. „Der größte Widerstand gegen demokratische Reformen geht derzeit von der westlichen Politik aus“, sagte Todenhöfer damals. Assad, den er persönlich kennt, bescheinigte der Ex-Abgeordnete einen ernsthaften Reformwillen. „Ich habe den Eindruck, dass Assad Syrien in der Tat in Richtung Demokratie umgestalten will.“

Verbündeter Irans

Todenhöfer hat den syrischen Präsidenten als ruhigen Mann erlebt, der rational argumentierte. Er sei „nicht der typische Macho-Diktator, als der er im Westen dargestellt wird“. Für Todenhöfer stellte sich der Westen aus einem ganz bestimmten Grund auf die Seite der syrischen Opposition: Er hoffte, mit Assad einen wichtigen Bündnispartner des Iran zu beseitigen. „Assad könnte morgen die perfekte Demokratie in Syrien einführen – solange er Verbündeter Irans ist, würden die USA immer einen Grund finden, ihn zu bekämpfen“, zeigte Todenhöfer sich überzeugt.

Hier nun schließt sich der Kreis zu den eskalierenden Protesten im Iran. Werden sie in Kürze ebenfalls in einen Bürgerkrieg münden? Exiliraner hoffen bereits auf eine Revolution, die das strenge schiitische Herrschaftssystem hinwegfegen könnte. Womöglich stacheln westliche Geheimdienste die Proteste sogar ganz bewusst an. Gerade die USA dürften ein großes Interesse daran haben, dass das Mullah-Regime fällt. Nicht nur wegen des seit Jahren schwelenden Atomstreits. Auch im Ukraine-Krieg hat das Land sich für den westlichen Geschmack etwas zu pro-russisch positioniert.

Thomas Wolf

Irans Revolutionsführer Ali Chamenei. Die Massenproteste richten sich zunehmend gegen sein schiitisch-konservatives Mullah-System. (Foto: Khamenei.ir/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)
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Ein ungeklärter Tod und verbrannte Kopftücher

Der Tod einer 22-Jährigen, die wegen angeblich „unislamischer“ Kleidung in Gewahrsam der iranischen Sittenpolizei geraten war, hat in der Islamischen Republik Massenproteste ausgelöst. Frauen schneiden sich öffentlich ihre Haare ab oder verbrennen ihr Kopftuch, das sie als Zeichen der Unterdrückung begreifen. Der klerikal-konservative Präsident Ebrahim Raisi kündigte auf Druck der Straße an, den Tod der jungen Frau untersuchen zu lassen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen kritisiert derweil eine auffällige Leerstelle in der Berichterstattung vieler Medien.

„Frau Amini war Kurdin“

„Bei aller berechtigten Empörung über Mahsa Aminis Tod wird ihre nationale Identität verschwiegen“, erklärt Dr. Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV. „Frau Amini war Kurdin. Ihren kurdischen Vornamen Jina durfte sie im Iran nicht tragen. Neben der offensichtlich frauenverachtenden Kleiderordnung wurde die junge Frau wie Millionen andere auch als Kurdin von iranischen Behörden unterdrückt.“ Mahsa Amini, heißt es aus dem Iran, sei an einer Hirnblutung gestorben, nachdem Polizisten ihr auf den Kopf geschlagen hatten. Offiziell ist ihr Tod als Folge von Herzversagen und eines epileptischen Anfalls eingetreten.

Das Todesopfer Mahsa Amini auf einer Aufnahme, die in den sozialen Netzwerken im Internet kursiert. (Foto: Twitter)

Bereits nach der Geburt sollen iranische Behörden den Wunsch der Eltern von Jina Mahsa Amini abgelehnt haben, ihrer Tochter den kurdischen Namen „Jina“ zu geben. Das Kind wurde dann unter dem Namen „Mahsa“ registriert, ist aber mit dem kurdischen Namen „Jina“ (Leben) aufgewachsen. „Viele bezeichnen es als Trauerspiel, dass die junge Frau auch nach ihrem gewaltsamen Tod in den Medien als ‚Masha‘ bezeichnet wird. Denn dieser Name wurde ihr von denselben Behörden aufgezwungen, die jetzt für ihren Tod verantwortlich sind“, sagt Sido.

Mindestens vier Tote

Nach Bekanntgabe ihres Todes riefen kurdische Parteien im Iran zu Protesten auf. Die Sicherheitskräfte setzen Tränengas, Wasserwerfer, Knüppel und Schrotmunition ein. In einigen Ortschaften soll die Polizei mit scharfer Munition geschossen haben. „Unsere kurdischen Quellen berichten von mindestens vier Toten und 200 Verletzten allein in Ost-Kurdistan“, sagt Sido. Vor allem Frauen solidarisieren sich mit Jina Mahsa Amini. Auf der Straße rufen sie Parolen wie: „Tod dem Despoten, egal ob Schah oder Führer!“ Gemeint sind der von den USA installierte und 1979 gestürzte Schah und der jetzige Religionsführer Ayatollah Ali Chamenei. 

Irans klerikal-konservativer Präsident Ebrahim Raisi. (Foto: Duma.gov.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

„Ost-Kurdistan“ nennen die Kurden ihre Siedlungsgebiete im Westen der Islamischen Republik. Von etwa 85 Millionen Menschen im Iran sind nach Angaben der GfbV etwa elf Millionen Kurden. Sie stellen nicht nur in der Provinz Kurdistan die Mehrheit, sondern auch in einigen anderen Regionen. Dem Herrschaftssystem der schiitischen Mullahs bringen sie großes Misstrauen entgegen. Die Mullahs hatten den verschiedenen Volksgruppen des Landes Demokratie und Autonomie versprochen. Das Versprechen wurde jedoch nie eingelöst.

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Türkei weitet Angriffe auf Syrien aus

Im Schatten des Ukrainekriegs bahnt sich die Eskalation weiterer militärischer Konflikte an: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan zündelt in der Ägäis und droht Griechenland unverhohlen mit Krieg: „Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir das Nötige tun. Eines Nachts können wir kommen“, sagte er tagesschau.de zufolge. Hintergrund ist ein Streit über rund 20 griechische Inseln vor der türkischen Küste: Ankara wirft den Griechen vor, die Inseln entgegen historischer Abkommen zu militarisieren. Derweil intensiviert die Türkei ihre Angriffe auf Syrien. Das meldet die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).

Mitverantwortlich für Kriegsverbrechen

Allein für August zählt die GfbV 1917 türkische Granatwerfer- und Raketenangriffe auf verschiedene Gebiete im Norden und Nordosten Syriens. Getroffen würden insbesondere ethnische und religiöse Minderheiten, kritisiert die Gesellschaft. Von der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock fordern die Menschenrechtler eine Verurteilung der „völkerrechtswidrigen Aggression des NATO-Partners“. „Die Grünen-Politikerin betrachtet die türkischen Angriffe auf die kurdische und andere Volksgruppen im Nachbarland als ‚Selbstverteidigung‘ und zeigt Verständnis“, erklärt GfbV-Nahostexperte Kamal Sido. „Tatsächlich finden Kriegsverbrechen statt, für die sich die Außenministerin durch ihr Schweigen mitverantwortlich macht.“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan. (Foto: President.gov.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Nach Baerbocks Türkei-Besuch Anfang August haben die türkischen Streitkräfte nach Angaben der GfbV insbesondere die „Syrian Democratic Forces“ (SDF) attackiert, die die Terrormiliz „Islamischer Staat“ bekämpfen. Hier wurden demnach 15 Angriffe durch Kampfdrohnen gemeldet. „Die Türkei beschoss mehr als 24 Mal mit schwerer Artillerie, Panzern, Raketen und Mörsern Gebiete im Süden von Afrin“, meldet die Gesellschaft. „Dort leben viele kurdische, jesidische, alewitische und christliche Vertriebene. Etwa 766 Artilleriegeschosse, Panzer- und Mörsergranaten trafen die kurdischen Dörfer Bênê, Aqîbê, Zaretê und Meyasê. Dabei wurden sechs Menschen getötet, darunter ein junges Mädchen und eine Frau. 16 Menschen, unter ihnen sechs Frauen, wurden verletzt.“

Assyrische Region angegriffen

Im Nordosten Syriens seien die Ortschaft Tel Tamr und ihre Umgebung mindestens 25 Mal angegriffen worden, davon drei Mal von Drohnen. „Bei diesen Angriffen in einer ursprünglich von assyrischen Christen bewohnten Gegend wurden sechs Menschen getötet: vier Schulmädchen und zwei Kämpfer der SDF. Fünf weitere Personen wurden verletzt“, berichtet die GfbV. „Auch die multiethnische und multireligiöse Region Qamischli wurde wiederholt Ziel türkischer Angriffe. Dort wurden 14 Menschen getötet, darunter zwei Kinder. 19 Menschen wurden verletzt, unter ihnen ein Mädchen und zwei Frauen. Die kurdische Stadt Kobani wurde vier Mal angegriffen. Hier tötete das türkische Militär sechs Menschen, darunter ein Kind. Fünf Personen, darunter ein Kind, wurden verletzt.“

Türkische Soldaten im Norden Syriens. (Foto: Zlatica Hoke/VOA/gemeinfrei)
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Israel: Journalistin wohl durch Armee getötet

Der Tod der palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh bei einem israelischen Militäreinsatz im Westjordanland hat im Mai für Schlagzeilen gesorgt. Jetzt bestätigte eine interne Untersuchung der Armee, was Palästinenser von Anfang an vermutet hatten: Die Kugel, die Abu Akleh bei der Razzia in Dschenin in den Kopf traf, wurde „sehr wahrscheinlich“ von einem israelischen Soldaten abgefeuert. Der Tod der 41-Jährigen wirft ein Schlaglicht auf die Situa­tion der Pressefreiheit in den Palästinensergebieten.

Bei der Beerdigung von Shireen Abu Akleh kam es zu Tumulten und Zusammenstößen mit israelischen Sicherheitskräften. (Foto: Osps7/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Ihre Trauer­feier geriet zum Politikum: Behelmte Uniformierte drängten den Trauerzug zurück, Sicherheitskräfte traten und schlugen Trauergäste und Sargträger, darunter Angehörige der Toten. Der Sarg drohte umzukippen. Die Trauergemeinde rief „Shireen, unsere Märtyrerin“ und „Zusammen für Shireen  – Muslime und Christen“. Abu Akleh war palästinensische Christin und arbeitete rund 25 Jahre lang für den arabischen Fernsehsender Al-Jazeera.

Sie habe aus „ihrer Palästinenserfreundlichkeit keinen Hehl“ gemacht, beschreibt Jacques Ungar vom jüdischen Internetportal
Tachles.ch die 51-jährige Reporterin mit US-Staatsangehörigkeit. Trotzdem habe sie „als objektiv und fachkundig“ gegolten. Ihre Kollegin Dalia Hatuqa lobt: Sie „wollte die Geschichten machen, die kein anderer anpacken wollte“, und habe Menschen zu Wort kommen lassen, „von denen wir sonst nichts wüssten“. 

Im israelischen Sperrfeuer

In einem Youtube-Video sagt Hatuqa über Abu Akleh: „Wie die restlichen palästinensischen Journalisten war sie ein Ziel.“ Tatsächlich werden Journalisten in den Palästinensergebieten nicht selten an der Arbeit gehindert. Manche werden verletzt oder gar getötet. Während der Zweiten Intifada 2002 starb der italienische Fotograf Raffaele Ciriello im israelischen Sperrfeuer, als er in Ramallah eine Razzia der Armee dokumentierte.

Shireen Abu Akleh im Einsatz für den arabischen Fernsehsender Al-Jazeera – am Vorabend ihres Todes. (Foto: Al Jazeera Media Network/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Beim palästinensischen „Marsch der Rückkehr“ 2018 im Gaza-Streifen war das israelische Militär für den Tod von zwei palästinensischen Journalisten verantwortlich. „Kumi Now“, eine Initiative des christlichen Zentrums Sabeel, bezeichnete den Tod von Yasser Murtaja und Ahmed Abu Hassan als „das schwerwiegendste und eindeutigste Zeichen für den Umgang israelischer Besatzungsstreitkräfte mit Journalisten und Medien in Palästina“. 

Schwere Einschränkungen

Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation „Reporter ohne Grenzen“ liegt Palästina auf Platz 170 von 180 – nicht nur, aber auch wegen der israelischen Besatzungspolitik. Journalisten unterliegen dort demnach „teils schweren Einschränkungen“. Die Armee schieße auf Demonstranten und verletze dabei auch Journalisten. Auch bei Luftangriffen kämen Reporter um. „Verhaftungen, Verhöre und Administrativhaft durch Israel“ seien an der Tagesordnung. 

In die Berichterstattung zu Abu Aklehs Tod mischten sich von Beginn an einseitige Schuldzuweisungen, Vorurteile und „Fake News“. Aus israelischen Regierungskreisen verlautete zunächst, die Kugel entstamme möglicherweise einem palästinensischen Gewehr. Die Menschenrechtsorganisation B’Tselem untersuchte die Standorte der israelischen Soldaten und militanter Palästinenser zum Zeitpunkt der Schüsse und kam zu dem Schluss, dass die dokumentierten Schüsse von Palästinensern „wohl nicht die waren“, die die Journalistin töteten.

Ein israelischer Soldat beobachtet einen Protest von Palästinensern. (Foto: Zang)

Die Armee schließt sich dieser Analyse nun offenbar an: „Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Schüsse aus der Waffe eines Soldaten abgegeben wurden“, zitiert tagesschau.de einen ranghohen Vertreter des Militärs. Abu Akleh sei aber nicht als Journalistin identifiziert worden. Es bestehe auch weiterhin die Möglichkeit, dass die Schüsse von bewaffneten Palästinensern abgegeben wurden. Strafrechtliche Ermittlungen wird es jedenfalls nicht geben: „Es gibt keinen Verdacht auf eine Straftat“, hieß es vom israelischen Generalstaatsanwalt.

„Gewaltsame Besatzung“

Ori Givati von der Veteranen-Organisation „Breaking the Silence“ erklärt, dass „unschuldige Palästinenser oft durch Gewehrfeuer“ ums Leben kommen. „Egal, aus welcher Waffe die tödliche Kugel stammte: Israel ist für eine gewaltsame Besatzung und die täglichen Invasionen in palästinensische Städte und Dörfer verantwortlich, die naturgemäß zur Tötung Unschuldiger führen.“ Dies sei genau jene Realität, „die aufzudecken Shireen ihr Leben gewidmet hatte“ – eine Herzensaufgabe, bei deren Ausübung sie ums Leben kam.

Johannes Zang

Der Autor ist freier Journalist und Reiseführer für Israel und Palästina. Aktuell sind von ihm die Bücher „Erlebnisse im Heiligen Land“ und „Begegnungen mit Christen im Heiligen Land“ erhältlich.