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Im Blickpunkt

Perversion oder Selbstbestimmung?

In den beiden separatistischen Volksrepubliken Donezk und Lugansk haben Volksabstimmungen begonnen. Sie sollen darüber entscheiden, ob sich der Donbass, die umkämpfte Industrieregion im Osten der Ukraine, der Russischen Föderation anschließt. Auch die Menschen in den teilweise besetzten ukrainischen Bezirken Saporischschja und Cherson sind aufgerufen, bis Dienstag über einen Anschluss an das Nachbarland abzustimmen. Betroffen sind nach Angaben von tagesschau.de rund 15 Prozent des ukrainischen Staatsgebiets.

Weißes Haus: Ein „Affront“

Die westliche Kritik an den Volksentscheiden ist scharf. Von „Scheinreferenden“ ist die Rede und von einem Verstoß gegen internationales Recht. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete die Abstimmungen als „Parodie“. Im Weißen Haus sieht man einen „Affront gegen die Prinzipien von Souveränität und territorialer Integrität“. Der deutsche Völkerrechtler Maximilian Bertamini von der Universität Bochum, den die Tagesschau befragt hat, spricht gar von der „Perversion“ eines legitimen Instruments zur Selbstbestimmung. „Es wird vorgeschoben, um Gebietsgewinne in einem illegalen Angriffskrieg faktisch zu verstetigen.“ Aber ist es wirklich so einfach?

In vier ukrainischen Bezirken, darunter den „Volksrepubliken“ im Donbass, sind die Menschen aufgerufen, über einen Beitritt zu Russland abzustimmen. (Foto: Pexels)

Offensichtlich ist immerhin, dass die Abstimmungen zur Unzeit kommen – auch für Russland. Erst kürzlich hatte die prorussische Bezirksverwaltung von Cherson das geplante Referendum auf unbestimmte Zeit verschoben. Grund: die unsichere Kriegslage. Nun ist das kein Hindernis mehr. Nun soll es schnell gehen. In wenigen Tagen wurden großangelegte Abstimmungen eingeleitet, deren Vorbereitung zuvor in Wochen, ja Monaten nicht abgeschlossen war. Noch dazu befinden sich die Gebiete, in denen die Menschen zur Abstimmung aufgerufen sind, unter teils ständigem Beschuss durch ukrainische Truppen. Im Donbass sterben täglich Zivilisten – auch durch Waffen, die der Westen liefert.

Zwei Kernsätze des Völkerrechts

Die Referenden bewegen sich im Spannungsfeld zweier Kernsätze des Völkerrechts. Auf der einen Seite steht die territoriale Unversehrtheit, also die Unverletztlichkeit der international anerkannten Grenzen eines souveränen Staates. Demnach wäre jede Abspaltung eines Teils der Ukraine, dem die Regierung in Kiew nicht ausdrücklich zustimmt, völkerrechtswidrig. Egal, ob er zum Zwecke des Anschlusses an Russland oder mit dem Ziel der Unabhängigkeit erfolgen würde.

Betrachtet man einen anderen Grundsatz des Völkerrechts, sieht die Sache dagegen ganz anders aus: das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Es besagt, dass ein Volk das Recht hat, frei über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Dies schließt die Freiheit ein, sich von Fremdherrschaft zu befreien und einen eigenen Staat zu bilden. Oder sich eben in freier Willensentscheidung einem anderen Staat anzuschließen. Darauf zielen ganz offensichtlich die Volksabstimmungen in der Ukraine.

Der damalige katalanische Premierminister Carles Puigdemont verkündet am 10. Oktober 2017 die Unabhängigkeit von Spanien. Weder Madrid noch die europäischen Staaten akzeptieren die Selbstständigkeit Kataloniens. (Foto: Generalitat de Catalunya)

Auch wenn westliche Völkerrechtler das Selbstbestimmungsrecht in Frage stellen – Beispiele, wo nationale oder kulturelle Minderheiten sich darauf berufen, gibt es zuhauf. So steht Schottlands Unabhängigkeit von Großbritannien erneut zur Debatte. Nordirland könnte sich mit Irland wiedervereinigen. Katalanische Separatisten betreiben die Loslösung von Spanien, während in Italien deutsche und ladinische Südtiroler die Selbstbestimmung einfordern. In Asien möchte Palästina ein eigener Staat werden. Die Kurden kämpfen seit Jahrzehnten gegen die türkische Herrschaft. Tibet widersetzt sich dem kommunistischen China.