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Tödliche Kollision überm Bodensee

Mehr als 70 Tote, auseinandergerissene Familien, eine Ferienregion in Schockstarre und ein Schrecken, der mit der Katastrophe nicht endete. Am 1. Juli 2002 kollidierten über dem Bodensee zwei Flugzeuge. Niemand an Bord überlebte. Nahe der badischen Stadt Überlingen, wo die Trümmer der zerstörten Maschinen auf die Erde fielen, erinnern zwei Gedenkstätten an die Opfer der Tragödie. Es war das schlimmste Unglück in der bundesdeutschen Luftfahrt-Geschichte. Lediglich der Absturz einer Aeroflot-Maschine 1986 in Ost-Berlin und die Flugzeug-Katastrophe von Königs Wusterhausen 1972 in der damaligen DDR forderten mehr Todesopfer.

Nacht zum 2. Juli 2002

Wie schon im vergangenen Jahr, so steht das Gedenken auch 21 Jahre nach dem Unglück im Schatten des Kriegs in der Ukraine. Ein Unglück, das in der Nacht auf den 2. Juli 2002 seinen Lauf nahm. Für Fluglotse Peter Nielsen, Flugverkehrsleiter bei der Schweizer Flugsicherungsgesellschaft Skyguide in Zürich, war es zunächst ein Abend wie unzählige zuvor. Gegen 23.20 Uhr meldet sich DHL-Flug 611 aus Bergamo bei Skyguide an. Als Bezirkskontrollstelle ist das Schweizer Unternehmen mit der Flugsicherung im äußersten Süden Baden-Württembergs betraut. Später sollte das Landgericht Konstanz dies als rechtswidrig verurteilen.

DHL-Flug 611 aus Bergamo steuert direkt auf die Tupolew der Bashkirian Airlines zu. (Foto: Anynobody/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Auf Anfrage von DHL-Kapitän Paul Phillips gestattet Nielsen der Frachtmaschine einen Anstieg auf rund elf Kilometer. Dass sich auf derselben Höhe ein anderes Flugzeug nähert, bemerkt er nicht. Es ist eine Tupolew der russischen Gesellschaft Bashkirian Airlines. An Bord von Flug 2937 befinden sich 69 Menschen. Die meisten von ihnen sind Schulkinder aus der russischen Republik Baschkortostan rund um Ufa. Weil der zweite Fluglotse Pause hat, muss Nielsen zwei Radarschirme beaufsichtigen. Und ist einen Moment abgelenkt. Als er die gefährlichen Flugbewegungen erkennt, befiehlt er der Tupolew sofort, in den Sinkflug zu gehen. Nahezu zeitgleich ordnet an Bord das Kollisionswarnsystem den Steigflug an.

Bashkirian-Pilot Alexander Gross und seine Cockpit-Crew sind irritiert und diskutieren die Anweisung. Schließlich gehorchen sie dem Fluglotsen. DHL-Kapitän Phillips folgt derweil der Anweisung seines Bord-Warnsystems und geht mit der Boeing ebenfalls in den Sinkflug. Beide Maschinen befinden sich nun erst recht auf Kollisionskurs! Als Gross ein Ausweichmanöver beginnt, ist es zu spät. Um 23.35 Uhr zertrümmert die DHL-Maschine den Rumpf der Tupolew und lässt sie nördlich von Überlingen abstürzen. Die Boeing trudelt noch ein paar Kilometer durch die Luft und kracht bei Taisersdorf in einen Wald.

Kinder aus Russland

Alle 71 Menschen an Bord sterben. Auch die 49 Kinder aus Baschkortostan. Die Schüler, die bei dem Unglück zu Tode kommen, waren auf dem Weg nach Barcelona zu einer Ferienfreizeit. Daran hätten sie als Belohnung für herausragende schulische Leistungen teilnehmen dürfen. Weil ihr Bus den Moskauer Flughafen zu spät erreichte, waren sie gezwungen, auf die Unglücksmaschine umzubuchen. Ihre Familien sollten die Kinder nie mehr wiedersehen. Manche der Angehörigen zerbrachen an der Schreckensnachricht aus Deutschland. So wie Witali Kalojew, der bei Überlingen seine Frau und zwei Kinder verlor. Für ihn ist Fluglotse Peter Nielsen ein Mörder.

Ein Fluglotse der Schweizer Flugsicherung Skyguide im Kontrollturm des Flughafens Zürich. (Foto: Petar Marjanovic/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Und so endet das Sterben nicht in jener Nacht zum 2. Juli 2002. Nielsen sollte zum 72. Opfer der Tragödie werden. Knapp zwei Jahre nach dem Unglück. Obwohl technische Probleme zu der Kollision beitrugen, gibt Witali Kalojew dem diensthabenden Fluglotsen die Schuld. Gerade einmal vier Jahre alt war Kalojews Tochter Diana, als sie bei Überlingen aus dem Leben gerissen wurde – das jüngste Opfer des Unglücks. Noch während die Staatsanwaltschaft in der Schweiz wegen fahrlässiger Tötung gegen Nielsen ermittelt, lauert Kalojew dem 36-Jährigen im Februar 2004 auf und ersticht ihn.

Technische Probleme

Zwar trägt Nielsen eine Mitverantwortung für die Kollision. Doch versagt hat auch die Technik. Bei Skyguide funktionierten an jenem Abend die Telefone nicht. Und auch das bodengestützte Warnsystem, das die Gefahr von Kollisionen in der Luft anzeigen sollte, war außer Betrieb. Massive technische Probleme gab es auch im vergangenen Jahr wieder bei Skyguide. Mehrere Stunden lang waren im Juni 2022 in der gesamten Schweiz weder Flugzeugstarts noch Landungen oder Überflüge möglich. Der gesamte Luftraum war gesperrt. Offenbar hatte es Schwierigkeiten mit der Computertechnik gegeben. Menschliche Eingriffe, etwa einen Hackerangriff, schloss Skyguide aus.

Am Ort des Absturzes der Tupolew-Maschine erinnert das Mahnmal „Die zerrissene Perlenkette“ an die Flugzeugkatastrophe vom 1. Juli 2002 und an die Opfer, darunter 49 russische Schulkinder. (Foto: privat)

Bis heute ist das Unglück über dem Bodensee in der Ferienregion nicht vergessen. Viele Menschen in Überlingen und Umgebung erinnern sich an jene Nacht, als plötzlich Explosionsgeräusche die nächtliche Stille zerrissen. Zwei Gedenkstätten halten die Erinnerung an die Katastrophe und die 71 Opfer des 1. Juli 2002 wach. Wo der Rumpf der Tupolew aufschlug und die meisten Todesopfer geborgen wurden, beim Überlinger Ortsteil Brachenreute, ziehen mächtige Edelstahlkugeln die Blicke auf sich. Wie silberne Glieder einer zerrissenen Perlenkette liegen sie am Rand eines Wäldchens, das mit Birken, Eschen und Sibirischen Zirbelkiefern bepflanzt ist.

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„Ich weigere mich, Angst zu haben“

Gut 15 Monate nach dem Einmarsch in der Ukraine hat der Krieg längst Russland selbst erreicht. Nahezu täglich steht das Land mittlerweile unter Beschuss. Vor allem der russische Grenzbezirk Belgorod nordwestlich der umkämpften Donbass-Regionen Lugansk und Donezk ist betroffen. Hier gelang kürzlich Kämpfern zweier pro-ukrainischer Milizen ein medialer Coup. Die „Legion Freiheit für Russland“ und das „Russische Freiwilligenkorps“ drangen auf russisches Territorium vor und leisteten den Sicherheitskräften mehr als 24 Stunden erbittert Widerstand. Sogar nach Einschätzung westlicher Medien stehen die beiden Milizen, die vorgeben, Russland befreien zu wollen, unter der Kontrolle von militanten Rechtsextremisten.

Kämpfer des „Russischen Freiwilligenkorps“ bei einer Pressekonferenz mit westlichen Journalisten. Führer der pro-ukrainischen Miliz ist der russische Rechtsextremist Denis Kapustin (im Bild), der eine Zeitlang in Köln lebte. Dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Herbert Reul (CDU), galt er einst als einer der einflussreichsten Neonazis in Deutschland. (Foto: Oksana Ivanecz/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Selbst das mehr als 600 Kilometer von Belgorod entfernte Moskau ist nicht mehr sicher. Bereits Anfang Mai schoss die russische Luftabwehr eine Drohne über dem Kreml ab. Der schlagzeilen-trächtigen Attacke folgte am Dienstag ein massiver Angriff, an dem russischen Angaben zufolge rund 25 ferngesteuerte Kleinst-Flugzeuge beteiligt waren. Anfangs hörte man im Westen Stimmen, die mutmaßten, solch frontferne Angriffe seien inszeniert. Doch was hätte der Kreml davon? Offenbar verfolgen die Angreifer mit den Drohnen-Attacken den Zweck, in der russischen Hauptstadt für Angst und Schrecken zu sorgen. Und das Vertrauen der Moskauer und der Russen insgesamt in das eigene Militär und die Regierung zu schwächen.

„Seit etwa einem Monat“

Zunehmend gerät neben Belgorod und Moskau auch eine dritte Gegend ins Visier der Angreifer. „Es passiert seit etwa einem Monat immer wieder etwas in meiner Region“, erzählt Nina Popova, die die Telegram-Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“ betreibt. Ihre Region – das ist der Krasnodarskij Kraj am Schwarzen und am Asowschen Meer, der Bezirk um die südrussische Millionen-Stadt Krasnodar. „Als die Taman vor ein paar Wochen gebrannt hat, konnte ich es von meinem Fenster aus sehen“, sagt Popova. Der Drohnen-Angriff auf ein Öllager schaffte es auch in die Tagesschau. Taman ist etwa 20 Kilometer von Ninas Wohnort entfernt.

Nina Popova lebt im südrussischen Krasnodarskij Kraj. Die Flammen, die aus dem attackierten Öllager von Taman aufloderten, sah sie am Horizont. (Foto: privat)

Nur wenige Kilometer weiter liegt die Brücke, die über die Straße von Kertsch auf die Halbinsel Krim führt. Die Brücke wurde im vergangenen Herbst bei einem heftigen Anschlag stark beschädigt, kann mittlerweile aber wieder befahren werden. Die russischen Behörden machten die Ukraine für die Attacke mit einem Sprengstoff-Lkw verantwortlich. Amtlich zugegeben, dass es wirklich so war, hat Kiew allerdings erst vor wenigen Tagen. „Ich wohne nah an der Brücke“, sagt Nina Popova. Und fügt hinzu: „Wäre doch eine Ironie: Deutsche Raketen treffen eine deutsche Staatsbürgerin.“ Dann entschuldigt sie sich im Gespräch für ihren „schwarzen Humor“.

Extra auf die Kinder gewartet?

Popova ist 40 Jahre alt, lebte rund drei Jahrzehnte in der Bundesrepublik und hat einen deutschen Pass. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Sie liebt Deutschland und setzt sich über ihre beiden Telegram-Kanäle auch für die deutsch-russische Versöhnung ein. Seit 2019 ist Nina zurück in Russland, wo sie mit ihrem russischen Mann und einer Tochter lebt. Dass die Angriffe gerade jetzt zunehmen, kann sie nicht verstehen. „Das Schreckliche ist, dass jetzt hier Ferien sind und die Menschen ihre Kinder hierher bringen. Sie haben extra gewartet, dass hier viele Kinder sind. Ich empfehle mittlerweile jedem, dieses Jahr nicht mehr hierhin zu kommen.“

Die Region Krasnodar am Schwarzen Meer ist ein Touristen-Magnet, besonders im Sommer. Ausgerechnet jetzt, am Beginn der warmen Jahreszeit, intensiviert die Ukraine ihre Angriffe. (Foto: SpartanDav/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Dann wendet sich Nina Popova an Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock. „Ich hoffe, ihr schlaft gut und euch raubt der Gedanke nicht den Schlaf, dass die Ukrainer bis zum Sommer gewartet haben.“ Scholz und Baerbock tragen die politische Hauptverantwortung für die deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine. Zunächst hatte die Ampel-Koalition nur Schutzhelme und Verbandsmaterial liefern wollen. Mittlerweile rollen wieder schwere deutsche Panzer gegen Russland. Dagegen findet die Lieferung von Kampfflugzeugen bislang keine Mehrheit in der deutschen Politik. Wirklich ausgeschlossen hat die Regierung sie allerdings nicht. „Deutschland hat Terroristen ausgestattet“, ist Nina angesichts der Angriffe in Russland überzeugt.

„Die Kuban war nie ukrainisch“

Warum ist gerade die Kuban-Region um Krasnodar zu einem der Zentren ukrainischer Angriffe geworden? „Das Problem ist, dass hier unkontrolliert Ukrainer als Flüchtlinge reingekommen sind“, erzählt Popova. Sie könnten strategische Positionen an feindliche Kämpfer verraten, mutmaßt sie. „Nun soll jeder einzelne besser überprüft werden. Etwa 1,5 Millionen sind bereits russische Staatsbürger. Die anderen bekommen ab jetzt keine Auszahlungen mehr. Bisher haben die überall Gelder bekommen – ungeachtet der Staatsangehörigkeit.“ Ukrainische Nationalisten, erklärt Nina, betrachten das Gebiet um Krasnodar als Teil der Ukraine. „Sie haben schon vor 2014 davon geträumt, es Russland wegzunehmen. Doch die Kuban war noch nie ukrainisch.“

Die Grenzziehung der Groß-Ukraine, wie sie die ukrainische Delegation auf der Pariser Friedenskonferenz 1919 vorschlug. Die Region um Krasnodar ist auf der französischen Karte als „Kouban“ eingetragen. (Foto: gemeinfrei)

Die Begehrlichkeiten dürften Gründe haben, die weit in die Vergangenheit zurückreichen. Gut 100 Jahre nämlich. Bis in die Zeit der Ukrainischen Volksrepublik, die als erster ukrainischer Nationalstaat gilt. Das Staatswesen, das sich im Januar 1918 für unabhängig erklärte, beanspruchte Gebiete, die weit über die heutige Ukraine hinausgehen. Bei den Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg in Paris präsentierte eine ukrainische Delegation ihre Forderungen. Rostow am Don wäre demnach ebenso ukrainisch geworden wie die Krim-Halbinsel und die Region Kuban bis zur georgischen Grenze. Im Westen hätten sich Ausläufer dieser Groß-Ukraine fast bis vor die Tore Krakaus ausgedehnt. Im Süden wären Transnistrien und Teile Moldawiens an Kiew gefallen.

„So viele töten wie möglich“

Die einheimischen Medien, erzählt Popova, berichten wenig von den Angriffen in Russland. „Das ist ja das Problem. Die Medien versuchen, die Leute nicht in Panik zu versetzen, und bewirken das Gegenteil.“ Dabei sei Panik genau das, was die Angreifer auslösen wollten, meint Nina. „Sie sagen ja offen, was sie wollen: so viele töten wie möglich.“ Der Westen wolle das aber nicht hören. Ganz im Gegenteil: „Sie bekennen sich immer zuerst, freuen sich, bis man sie vom Westen her zwingt zu widerrufen. Es läuft immer nach dem gleichen Muster.“

Angst habe sie trotz der zunehmenden Angriffe in Russland und auf ihre Heimat keine, bekräftigt Nina auf Nachfrage. „Ich weigere mich, Angst zu haben.“ Das hat auch mit ihrem christlichen Glauben zu tun. „Ich vertraue auf Gott“, sagt die 40-Jährige. „Er hat mich hierher geführt. Er hat mich mein Leben lang beschützt. Ich soll wohl jetzt hier sein und alles selbst sehen.“

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

„Deutschland gegenüber positiv eingestellt“

Nina Popova ist 40 Jahre und lebt in der russischen Region Krasnodar nahe der Küste des Schwarzen Meeres. Auf Telegram betreibt sie die deutschsprachigen Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“. Deutschland kennt und liebt sie, seit sie als Kind mit ihrer Familie in die Bundesrepublik kam. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Zurück in Russland ist sie seit 2019. Im Interview erzählt Nina von ihrer neuen und alten Heimat, ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine, der russischen Liebe zu Deutschland und der Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen.

Nina Popova lebt in der südrussischen Region Krasnodar. (Foto: privat)

Nina, in westlicher Wahrnehmung gibt es in Russland praktisch keine privaten Medien mehr, sondern nur noch staatliche. Wie sieht die Situation tatsächlich aus? 

Es gibt einige freie Journalisten, die ich sehr gerne lese. Als Journalist ist man in Russland frei zu schreiben, was man will, solange keine Gesetze verletzt werden. Die Gesetze sind im übrigen den westlichen ähnlich. Solange keine radikalen Aufrufe enthalten sind, darf man schreiben. Die Situation der freien Medien wird eher vom Westen her erschwert. So hat man mit einer russischen IP-Adresse keinen Zugriff auf deutsche Medien. Russland sperrt keine Nachrichten aus. Es werden sogar Tipps gegeben, wie man westliche Medien weiterhin lesen kann. 

Das heißt konkret: Wie informierst Du Dich?

Ich nutze wie empfohlen VPN, um weiterhin alle Nachrichten aus aller Welt zu lesen. Selbstverständlich lese ich alle großen deutschen Nachrichtenagenturen, ebenso englischsprachige Medien und natürlich die in russischer Sprache. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass ich so am besten fahre. Wobei die westlichen Medien mittlerweile sehr viel behaupten und nicht wirklich prüfen. 

Wie berichten russische Medien über den Krieg in der Ukraine?

Vielseitig. Das trifft es wohl am besten. Es gibt Berichte direkt von der Front, Augenzeugenberichte usw. Was mich hier sehr erstaunt, ist, dass gegen andere Länder oder Menschen in keiner Weise gehetzt wird. 

Du betreibst zwei Telegram-Kanäle mit Nachrichten aus Russland. Welche Rolle spielen Fake News in Deiner täglichen Arbeit?

Fake News erschweren meine Arbeit. Ich gebe mir Mühe, alles zu prüfen, was ich veröffentliche. Mir ist es wichtig, dass man nicht schockiert oder nur kritisiert. Ich möchte, dass man sich informieren kann. Natürlich ist es gerade bei dringenden Nachrichten schwierig, immer gleich zu prüfen, ob sich keine Fake News dahinter verbergen. Bisher hatte ich Glück oder einfach ein Gefühl dafür, was nicht stimmt. Sollte es mir dennoch mal passieren, so würde ich das selbstverständlich auch berichten.

Der Krieg ist ihr nah: Als die Brücke über die Straße von Kertsch attackiert wurde, war Nina Popova Ohrenzeugin der Explosion. Im Bild: die Grenze zur Volksrepublik Donezk. (Foto: privat)

Du lebst in der Nähe von Krasnodar, nicht weit von der Brücke über die Straße von Kertsch auf die Krim-Halbinsel. Wie nah ist Dir der Krieg?

Dieser Krieg ist mir nah. Im Oktober bin ich von der Explosion der Brücke aufgewacht. Aber auch menschlich ist er uns nah. Ich habe Verwandte in der Ukraine. Ich sehe täglich Flüchtlinge aus der Ukraine. Wie viele Menschen hier tun auch mir diese Menschen, die alles verloren haben, leid.

Du bist schon mehrfach in Frontnähe gewesen und hast Soldaten besucht. Wie sehen diese Besuche konkret aus – was macht Ihr dort?

Ich habe Freunde, die eingezogen worden sind. Wir sind sozusagen die Feldpost. Wie bringen Briefe oder Päckchen von den Familien der Jungs. Ich bin vor allem mitgefahren, weil ich mir ein eigenes Bild machen wollte und einfach musste. 

Dieses zerstörte Haus in Mariupol hat Nina Popova lange beschäftigt. Auf der Tür steht „Kinder“. Die Warnung bedeutet nach Ninas Aussage, dass sich während der Kämpfe Kinder in dem Haus versteckt haben. (Foto: privat)

Wie organisiert Ihr die Besuche? Welche Rolle spielen dabei der Staat oder das Militär?

Wir fahren mit anderen Freiwilligen. Selbstverständlich bedarf es der Erlaubnis von der Armee. Der Staat spielt bei unseren Unternehmungen nur soweit eine Rolle, dass wir eine Erlaubnis brauchen. Ansonsten ist es wie gesagt freiwillig. Wir tragen die Kosten selbst.

Du warst im Zuge Deiner Besuche vor einiger Zeit auch in Mariupol. Die Stadt ist eines der Symbole für den Krieg und die Zerstörungen, die er verursacht. Zumindest im Westen. Wie ist die Situation dort?

Die Stadt hat mich unheimlich berührt. Es ist für mich kaum vorstellbar, was diese Menschen ertragen haben müssen. Diese Stadt ist eine Stadt der Gegensätze geworden. Man erahnt ihre einstige Schönheit. Und sie erwach wieder zum Leben. Ich habe die Neubaugebiete selbst gesehen. Aber es ist noch viel zu tun. 
Mich hat die Freundlichkeit der Menschen dort berührt. 

Das Industriegelände von Asowstal wurde während des Kampfs um Mariupol zum Rückzugsorts ukrainischer Soldaten und ultranationalistischer Einheiten. Heute ist das Gebiet gesperrt. Fotoaufnahmen aus der Nähe sind verboten. (Foto: privat)

Du hast große Teile Deiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht, bist deutsche Staatsbürgerin und wohnst erst seit wenigen Jahren wieder in Russland. Worin unterscheidet sich das Leben in beiden Ländern?

Ich habe 30 Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht. Ich mag beide Länder sehr gerne, aber in Russland ist das Leben entschleunigt. Man hat irgendwie mehr Zeit – also wenn man nicht gerade in Moskau lebt. In Deutschland hatte ich oft wenig Zeit für meine Familie. Hier ist die Ausrichtung der Werte viel mehr auf Kinder und Familie ausgerichtet. Ich arbeite und habe dennoch mehr Zeit. 

Wie denkst Du heute über Deutschland?

Ich habe viele Freunde und auch Teile der Familie immer noch in Deutschland. Mir ging es auch in Deutschland gut. Ich habe mich aus persönlichen Gründen für den Umzug entschieden. Wobei ich sagen muss, dass ich die heutige Regierung in Deutschland nicht ganz verstehe und mir aus meiner Sicht mehr Neutralität wünschen würde. 

Was stört Dich an Russland?

Es sind eher meine angewöhnten Eigenheiten oder Sachen, die ich aus Deutschland gewohnt war – wie Pünktlichkeit. Die ist hier manchmal ein dehnbarer Begriff. Außer der russischen Bahn: Die ist auf die Sekunde pünktlich! Und mich stört die Grundentspanntheit mancher Handwerker. 

Wie könnte für Deutschland und Russland ein Ausweg aus der aktuellen Spirale von Sanktionen, Hetze und Hass aussehen? Wie könnten sie zurückfinden zu alter Freundschaft?

Ich wünsche mir, dass Deutschland wieder mehr Neutralität walten lässt. Der radikale Kurs der deutschen Regierung wird auch eine zukünftige diplomatische Zusammenarbeit unmöglich machen. In Russland wird nicht gegen das deutsche Volk gehetzt. Niemand wünscht sich, Deutschland zu zerstören. Ich lese ja diese Sachen in den deutschen Medien und bin bestürzt. In Russland sind die Menschen Deutschland gegenüber immer positiv eingestellt gewesen. Man schätzt hier deutsche Autos, deutsches Bier und die Industrie in Deutschland. „Made in Germany“ ist ein Qualitätsmerkmal. Als ich meine Kanäle schuf, wollte ich, dass unsere Völker das Verständnis füreinander nicht verlieren.

Interview: Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Nur Putin-Freunde wollen Frieden

Ostern ist nicht nur das christliche Fest der Auferstehung Jesu Christi. Die Ostertage sind in Deutschland auch traditionell die Zeit der Ostermärsche. In vielen Städten prägen die Kundgebungen für den Frieden das verlängerte Osterwochenende. Auch in diesem Jahr. Eine „unterm Strich positive Bilanz“ ziehen die Organisatoren. Mehr als 120 Demonstrationen brachten Zehntausende Menschen auf die Straße. Kern des Anliegens wie schon im vergangenen Jahr: Frieden in der Ukraine. Damit machen sich die Ostermarschierer angreifbar. Denn Frieden wollen nur Putin-Freunde. So jedenfalls scheint es, wenn man Äußerungen deutscher Politiker und Medien zugrunde legt.

Die Ostermärsche standen in diesem Jahr ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs. Im bayerischen Hof trugen Teilnehmer ein Plakat mit der Aufschrift „Für Frieden und Abrüstung“. (Foto: PantheraLeo1359531/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

„Wer über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit Putin verlangt, der steht auf der falschen Seite der Geschichte.“ So sieht es Stephan Thomae, der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag. Eine Waffenruhe würde „dem russischen Aggressor diejenigen Gebiete ausliefern, die dieser durch Bruch des Völkerrechts und mit unerträglicher Brutalität erobert hat“. Und weiter: „Wir müssen alles tun, um die Ukraine in diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu unterstützen.“

Freiheit statt Frieden

Auch der frühere Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) lehnt die Forderungen der Ostermarschierer ab. Ihren Pazifismus bezeichnet er im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst als naiv. „Aber er ist zugleich nötig als kritischer Maßstab. Es gibt bei diesen schwierigen Abwägungen keine widerspruchsfreien Lösungen. Natürlich verlängert eine Waffenlieferung das Töten und Sterben. Wenn man das ablehnt, muss man sich aber im Klaren sein, dass der Preis dafür wahrscheinlich Unfreiheit ist. Letztlich geht es also um die Frage: Ist Frieden oder Freiheit wichtiger? Für mich ist Freiheit wichtiger als Frieden. Das ist mein Vorwurf an den Pazifismus.“

Bereits im vergangenen Jahr hatte der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff die Teilnehmer der Ostermärsche als „fünfte Kolonne“ Putins bezeichnet. Kommentatoren sprachen angesichts dessen von „verrückten Zeiten“. In der Tat steht die Welt Kopf seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022. Wer seine Stimme für Frieden und Verhandlungen erhebt, muss sich als Unterstützer eines „völkerrechtswidrigen Angriffskriegs“ beschimpfen lassen. Wer die Lieferung schwerer Waffen in das Kriegsgebiet kritisiert, fällt demnach der Ukraine in den Rücken. Und wer die Gesprächskanäle zu Russland nicht abreißen lassen möchte oder sich gar der Ablehnung alles Russischen entgegenstellt, ist bestenfalls „Putin-Versteher“.

FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff (links) sieht in den Teilnehmern der Ostermärsche die „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins. (Foto: Kuhlmann/MSC/CC BY 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Eine jener angeblichen „Putin-Versteherinnen“ ist Margot Käßmann. Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland bekräftigte kurz vor Ostern ihre ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine. „Anfangs hieß es, wir würden reine Verteidigungswaffen liefern, jetzt sind daraus ganz klar Angriffswaffen geworden“, sagte sie im Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Mit den gelieferten deutschen Panzern werde auf russische Soldaten geschossen. „Das kann doch auch keine Lösung sein“, sagte Käßmann.

Verhandlung, nicht Kapitulation

Dabei machte die einstige Landesbischöfin von Hannover auch deutlich, dass sie durchaus keine „Putin-Freundin“ ist. Den russischen Einmarsch sieht sie als Angriffskrieg eines Diktators auf ein freies Land. Dennoch müsse es durch Friedensverhandlungen schnellstmöglich zu einem Ende des Tötens kommen. „Verhandlung heißt nicht Kapitulation“, betonte Käßmann. Der Ukraine spricht sie nicht das Recht ab, sich zu verteidigen. Aber sie fürchte, sagt sie, dass Deutschland durch Waffenlieferungen nach und nach selbst zur Kriegspartei werde. Über allem steht für die Theologin die Vision einer „Welt ohne Waffen“. Sie wolle sie nicht aufgeben.

Kaum jemand vertritt die Forderungen nach schweren westlichen Waffen für die Ukraine seit der russischen Invasion so vehement wie mancher Grünen-Politiker. Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) offenbar noch hoffte, mit Helmen und Munition sei es getan, forderte Anton Hofreiter bereits deutsche Panzer für die Front im Donbass. Statt eines schnellen Friedens für die Ukraine stand bald ein Sieg über Russland auf der politischen und militärischen Agenda. „Wie irre ist die ehemalige Friedenspartei geworden?“, fragte Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht bereits vor einem Jahr.

Deutsche Kampfpanzer des Typs Leopard 2 A5 bei einer Lehr- und Gefechtsvorführung. (Foto: © Bundeswehr/Modes/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Mittlerweile sind deutsche Panzer in der Ukraine längst Realität. Selbst „Leopard 2“, deren Lieferung Kanzler Scholz lange abgelehnt hatte, sind im Einsatz gegen Russland. Kiew hätte nun gern moderne westliche Kampfflugzeuge. MiG-29 aus Polen und der Slowakei befinden sich bereits im Land. Noch zögert die Bundesregierung, lehnt die Lieferung eigener Jets ab. Doch wirklich ausgeschlossen hat dies niemand. Erst recht nicht für alle Zukunft. Er halte es nicht für richtig, „jetzt darüber zu reden“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor gut zwei Monaten. „Wir tun nur Dinge, die uns nicht zur Kriegspartei werden lassen. Wobei nicht ganz klar ist, wo diese Linie verläuft.“

Westen ist „Konfliktpartei“

Genau das ist das Problem. Während der Westen betont, die Lieferung von Kampfpanzern und selbst Flugzeugen sei keine Kriegsbeteiligung, sieht Russland das naturgemäß anders. Im Kreml betonte man bereits vor Monaten, man betrachte den Westen als „Konfliktpartei“. Was immer das konkret bedeutet. Die Gefahr einer weiteren Eskalation jedenfalls ist groß. Und dürfte sich mit jeder weiteren Waffenlieferung noch vergrößern. Im schlimmsten Fall droht die äußerste Eskalation: der Atomkrieg zwischen Ost und West. Davor warnte auch Kanzler Scholz.

Vor einem handverlesenen Publikum fragte NS-Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-J05235/Schwahn/CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

„Wollt ihr den totalen Krieg?“, schleuderte Joseph Goebbels, der Propagandaminister der Nazis, im Februar 1943 bei seiner Rede im Berliner Sportpalast dem ausgewählten Publikum verbal entgegen. „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ besagte ein Transparent über der Bühne, auf der Goebbels sprach. Heute wäre der kürzeste totale Krieg ein nuklearer. Er würde aller Wahrscheinlichkeit nach zur weitgehenden Vernichtung der menschlichen Zivilisation führen. Das wissen die Russen. Und das wissen die Amerikaner. Aber wissen es auch diejenigen, die nach immer mehr schweren Waffen rufen?

Frank Brettemer

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Kommentar

Die Ampel-Koalition: ein Irrenhaus?

Leben wir heute in einem deutschen Irrenhaus? In einem Ampel-Irrenhaus? Da gibt es Politiker (noch nicht einmal wenige und noch nicht einmal nur das Fußvolk), die unentwegt nach Krieg rufen. Nach immer mehr Waffenlieferungen für die Ukraine. Das, obwohl sie seit einem Jahr Elend und Not, den Tod ungezählter Menschen durch Waffeneinwirkung, die Zerstörung der Infrastruktur, die Flucht von Millionen von Menschen ins Ungewisse mitbekommen haben müssen.

Das Schlachten verlängert

Alle Waffenlieferungen, alle sonstige Unterstützung der Ukraine haben nichts gebracht, nur das Schlachten verlängert. Es ist auch nicht absehbar, dass sie in der Zukunft etwas bringen werden. Wer das nicht erkennt, beweist eine erschreckende Distanz zur Realität. Die Zeit für Verhandlungen – so die Behauptung – sei noch nicht gekommen. Wann, so ist zu fragen, wird das der Fall sein? Nach einer russischen Niederlage?

Ein deutscher Leopard 2A6 bei einer NATO-Gefechtsübung in Grafenwöhr. (Foto: 7th Army Training Command Grafenwöhr/U.S. Army Photo by Kevin S. Abel/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Wer das Wort „Frieden“ oder „Verhandlungen“ in den Mund nimmt, wird – ohne Prüfung der Argumente – als „Putinversteher“ oder „Putin-Unterstützer“ ausgegrenzt. Demonstranten aus dem linken und aus dem rechten politischen Spektrum, die – wie viele Regierungschefs aus aller Welt – den Frieden wollen, werden verächtlich gemacht. Die von Frau Wagenknecht in Berlin organisierte Groß-Demonstration für den Frieden wurde mit „umstritten“ verunglimpft. Sie habe sich nicht eindeutig gegen rechts abgegrenzt. Die Frage muss erlaubt sein, ob Rechte kein Bedürfnis nach Frieden haben dürfen.

Anfeuerndes Kriegsgeschrei

Solche Politiker werden – in Verkennung der Realitäten – Deutschland mit nicht enden wollenden Waffenlieferungen und anfeuerndem Kriegsgeschrei in einen blutigen Krieg gegen eine hochgerüstete, atomar bewaffnete Supermacht treiben. Rein juristisch sind wir das schon. 

Die Bundeswehr hat eine Personalstärke von 183.277 Soldatinnen und Soldaten. Die Zahl der an der Front einsetzbaren Soldaten dürfte sich auf sehr wenige 10.000 belaufen. Russland dagegen verfügt derzeit über 850.000 aktive Soldaten, 200.000 davon in der Ukraine an der Front und – so der Inspekteur des deutschen Heeres – „Ressourcen, die nahezu unerschöpflich sind“. Die Bundeswehr ist nicht atomar bewaffnet. Russland verfügt über die meisten nuklearen Sprengköpfe aller Staaten der Welt (6255).

Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius und US-Botschafterin Amy Gutmann warten auf US-Verteidigungsminister Lloyd Austin. (Foto: DoD photo by U.S. Air Force Tech. Sgt. Jack Sanders/U.S. Secretary of Defense/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Zum Potenzial, das die Bundeswehr in der Ukraine einsetzen könnte, hat der Inspekteur des Heeres, Alfons Mais, in schlichter, auch für Politiker verständlicher Sprache gesagt: „Die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da.“ Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius’ vernichtendes Urteil über die Truppe lautet (sinngemäß): Die Streitkräfte sind nicht verteidigungsfähig. Der Eindruck kommt auf, dass die Damen und Herren aus der Politik das besser wissen.

Während Russland aktuell auf dem ukrainischen Gefechtsfeld mehr als 12.000 Panzer einsetzt, sind es weniger als 2000 auf ukrainischer Seite. Der Westen hat es nicht geschafft, die von der Ukraine geforderten 300 zusammen zu bekommen. Halbherzige Zusagen der Staaten sind – als die Übergabe konkretisiert werden sollte – weitgehend in sich zusammengebrochen.

Abrams nur geschwächt?

Während etwa US-Präsident Joe Biden der Lieferung von „Abrams“-Kampfpanzern in die Ukraine zunächst zugestimmt hatte, wurde diese Zusage nach der deutschen Entscheidung, Leopard-Kampfpanzer zu liefern, wieder zurückgezogen. Nun sollen sie doch – langfristig – zur Verfügung gestellt werden. Es wurde behauptet, dass eine begrenzte Anzahl davon bis Ende 2023 umgebaut und – in der Panzerung geschwächt – an die Ukraine ausgeliefert werden sollen. Als stärkster und modernster Panzer der Welt gilt der russische T-14 Armata, der 2015 erstmals vorgestellt wurde.

Russische Kampfpanzer vom Typ T-14 Armata bei einer Präsentation nahe Moskau. (Foto: Vitaly V. Kuzmin/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Was die ungemein wichtige Artilleriemunition angeht, ist festzustellen, dass die Ukraine an einem Tag so viel Granaten verschießt, wie sie in Deutschland in einem halben Jahr produziert werden können.

Bei Übungen einer deutschen Panzergrenadierbrigade waren innerhalb weniger Tage alle 18 eingesetzten Puma-Panzer ausgefallen. Alle heißt: 100 Prozent. Nicht etwa durch Beschuss! Durch Mängel an der Technik! Das waren die Panzer, die der NATO für 2023 als Kern ihrer schnellen Eingreiftruppe zugesagt worden waren. Abschrecken soll nun der 50 Jahre alte Panzer „Marder“. Würde man fragen, für wie viele Gefechtstage dessen Munitionsbevorratung vorhanden ist: Man sollte es lieber nicht tun. Bedenken sind angebracht.

China hält sich bereit

Unter den Staaten mit den meisten verfügbaren Jagdflugzeugen/ Abfangjägern im Jahr 2023 ist Deutschland mit 134 an Position 19 aufgeführt. Russland hat 773. Wenn mir nun entgegengehalten würde, dass ja die Bundeswehr in diesem Kampf nicht alleine dasteht, wäre meine Antwort: Das tun die Russen auch nicht. China hält sich im Hintergrund bereit. Und China hat 1199 Flugzeuge dieser Art. Zu glauben, dass Deutschland zum Krieg hetzt, die anderen europäischen Staaten diesen dann aber bestreiten, ist in gleicher Weise realitätsfremd.

Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee nehmen an der Militärparade zur Feier des Sieges über Nazi-Deutschland in Moskau teil. (Foto: kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

So bleibt nur zu hoffen, dass die deutschen Scharfmacherinnen und Scharfmacher, die sich in der oben genannten Weise äußern, von anderen Staaten, insbesondere vom angepeilten Gegner, nicht allzu ernst genommen werden. Allen muss klar sein, dass die weit überwiegende Anzahl aller Deutschen – von links bis rechts – weiß, was Krieg bedeutet. Deswegen ist ihr „Nein“ zu Waffenlieferungen, Ihr „Nein“ zum Krieg und „Ja“ zum Frieden nur zu verständlich!

Die vor Jahresfrist vom Kanzler verkündete „Zeitenwende“ hat sich als fundamentale Fehlentscheidung und selbst zu verantwortendes Desaster nicht nur für Deutschland erwiesen.

Hannes Zimmermann

Dieser Text entspricht einem leicht redigierten „Offenen Brief“ des Autors an Politik und Medien. Der Autor diente ab 1959 in der Luftwaffe und war u.a. Gruppen- und Zugführer in der Grundausbildung von Rekruten, Kommandeur bei der Tornado-Instandsetzung und Organisationsstabsoffizier bei der Abwicklung der Luftstreitkräfte der NVA. 1993 trat er als Oberstleutnant in den Ruhestand ein. Er wurde mit dem Ehrenkreuz der Bundeswehr in Gold ausgezeichnet. Nach seinem Ruhestand war er dann Geschäftsführer eines Ingenieurbüros und mit der Übersetzung flugzeugtechnischer Vorschriften der MIG-29 vom Russischen ins Deutsche befasst.

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Im Blickpunkt

Unabhängige Journalistin oder Kreml-Troll?

Alina Lipp ist umstritten. Ihren Kanal „Neues aus Russland“ verfolgen auf der Nachrichtenplattform Telegram mehr als 180.000 Menschen. Damit hat Lipp eine Reichweite, die über der manch einer Tageszeitung liegt. Alina Lipp versteht sich selbst als Journalistin. Deutschen Leitmedien gilt sie dagegen als „Putins Infokriegerin“, „Russland-Troll“ oder „Propagandistin des Kreml“. Weil sie aus Russland und dem umkämpften Donbass berichtet und ihren Telegram-Abonnenten dabei die russische Perspektive auf den Konflikt schildert, ja sich durchaus auch mit ihr gemein macht, zweifeln deutsche Medien an ihrer Unabhängigkeit.

Alina Lipp mit Helm: kein Beleg für ihre Nähe zu den russischen Streitkräften, sondern nur eine Sicherheitsvorkehrung. (Foto: Lipp)

Seit Beginn der russischen Invasion hat sich die heute 29-Jährige zu einem der bekanntesten Gesichter der „prorussischen“ Berichterstattung entwickelt. Die russische Perspektive liegt Alina Lipp sozusagen in den Genen. 1993 wurde sie in Hamburg als Tochter eines Russen und einer Deutschen geboren. 2018 wanderte Vater Wladimir auf die russisch gewordene Halbinsel Krim aus. In ihrem Kanal verlinkt Alina immer wieder Videos, in denen er vom ländlichen Leben auf der Halbinsel berichtet. Lipp studierte Umweltsicherung und Nachhaltigkeitswissenschaften und war eine Zeitlang bei den Grünen politisch aktiv.

Heute sieht sie ihre einstige Partei äußerst kritisch: „Die Grünen haben sich leider zum Negativen verändert. Sie zeigen momentan, dass sie eine Partei sind, die ausschließlich die Interessen der USA umsetzt und nicht jene der deutschen Bevölkerung.“ Die ablehnende Haltung der Partei hinsichtlich der mittlerweile gesprengten Erdgas-Leitung „Nord Stream 2“ zeuge von der „fachlichen Inkompetenz der Parteivorsitzenden“, meint Alina Lipp. Statt auf günstiges Erdgas aus Russland müsse Deutschland nun auf teures und umweltschädliches Frackinggas aus den USA zurückgreifen. „Die deutsche Wirtschaft und die Bevölkerung sollen leiden, damit es Putin weh tut.“

„Die Wahrheit vermitteln“

Als 2014 die Proteste gegen den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch eskalierten und in der Folge im Donbass ein Bürgerkrieg ausbrach, begann Lipp, das westliche Narrativ zusehends zu hinterfragen. Sie befasste sich mit Heimat, Sprache und Kultur ihres Vaters und bereiste Russland. Im August 2021 kam sie zum ersten Mal ins umkämpfte Donezk. Zusammen mit einem Bekannten, der ursprünglich aus der Stadt stammt. „Ich war ziemlich geschockt über das, was ich da gesehen habe. Dass da Zivilisten umgebracht werden und in Deutschland nicht darüber berichtet wird“, sagt Lipp. Im Oktober fuhr sie wieder nach Donezk. Diesmal, um zu bleiben. Der Wunsch, „die Wahrheit nach Deutschland zu vermitteln“, war stärker als die Angst, in einem Kriegsgebiet zu leben, das regelmäßig von ukrainischen Truppen beschossen wird. 

Durch Beschuss im Bürgerkrieg wurde das Haus dieser Menschen im Donbass zerstört. (Foto: Lipp)

„Ich hatte zwei Monate überlegt, weil ich genau wusste: Das könnte Konsequenzen für mein Leben haben.“ Sie sollte Recht behalten. Ob sie jemals in die Bundesrepublik zurückkehren kann, ist fraglich. Für ihre Berichterstattung droht ihr hierzulande eine Freiheitsstrafe. Bis zu drei Jahre Haft. Denn nach Paragraf 140 des deutschen Strafgesetzbuchs ist es verboten, bestimmte Straftaten „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts“ zu billigen. Zu jenen Straftaten gehören Kriegsverbrechen und völkerrechtswidrige Angriffskriege. Nach westlicher Sichtweise liegt beides im Fall der russischen Invasion in der Ukraine vor.

„Jemand, der filmt, was er sieht“

Just wenige Monate vor dem Beginn von Russlands „spezieller Militäroperation“ in der Ukraine zog Lipp nach Donezk. Dass sie sich dort zum Kreml-Troll entwickelte, steht für viele deutsche Medien außer Frage. Sie selbst weist das entschieden zurück: „Ich finde das eine Frechheit, mich als Putin-Troll oder Infokrieger zu bezeichnen. Ich bin einfach jemand, der vor Ort ist, filmt, was er dort sieht, und Gespräche vor Ort ins Deutsche übersetzt. Ohne irgendwelche Aufträge zu haben.“ Nie, betont Lipp, habe sie sich als Propagandistin präsentiert. Nie habe sie sich vor die Kamera gestellt und gesagt, sie unterstütze die Spezialoperation. „Wenn man mein Material anguckt, sieht man, dass ich meistens einfach die Kamera rumschwenke und die Leute reden lasse.“ 

Die „Volksrepublik Donezk“, aus der Lipp seit Herbst 2021 berichtet, spaltete sich 2014 nach einem international kritisierten Referendum von der Ukraine ab. Seit einem nicht minder umstrittenen erneuten Volksentscheid im vergangenen Jahr gehört Donezk zur Russischen Föderation. Zumindest nach russischer Lesart. Für den Westen bildet die „Volksrepublik“ nach wie vor einen Oblast (Bezirk) der Ukraine. Meist teilt Alina Lipp in ihrem Kanal Meldungen anderer – und verbreitet so auch Inhalte, die sich dann als „Fake News“ erweisen. Das macht sie angreifbar für ihre Kritiker im Westen, die in der Deutsch-Russin nur ein junges, attraktives Gesicht der Kreml-Propaganda sehen. Sie selbst betont: „Ich habe noch nie absichtlich Fakes verbreitet. Wenn ich auf einen Fake reingefallen bin, stelle ich das immer richtig.“

Wiederaufbau geht voran

Ihre Videos, die sie selbst bei Fahrten in die Nähe der Front, ins russisch besetzte Mariupol oder in andere „befreite“ Orte der „Volksrepublik Donezk“ aufnimmt, sind wichtige Primärquellen. Das, was die Menschen ihr – so wirkt es – bereitwillig in die Kamera erzählen, weicht teils beträchtlich von dem ab, was westliche Medien und Politiker spätestens seit dem 24. Februar 2022 verbreiten. Dass für den Donbass der Krieg bereits 2014 begann. Dass das ukrainische Militär Zivilisten beschießt und als menschliche Schutzschilde missbraucht. Auch wenn der Wahrheitsgehalt der Aussagen von Deutschland aus oft nicht überprüft werden kann, so bleibt doch der Eindruck, dass die Menschen im Donbass den russischen Einmarsch großteils begrüßen. Auch der Wiederaufbau der zerstörten Orte geht zügig voran. Lipps Botschaft stimmt häufig mit dem überein, was andere westliche Journalisten aus dem Donbass berichten.

Bereits im September 2021, also Monate vor der Invasion, als Lipp noch primär von der Krim schrieb, traf die junge Deutsche in Moskau Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums. Westlichen Medien ist das ein weiteres Mosaiksteinchen in der Argumentation, Alina Lipp sei nichts weiter als eine Marionette des Kremls. Dagegen betont die 29-Jährige, Sacharowa habe lediglich „das Buch eines norwegischen Kollegen der Krim-Freunde signiert, bei denen ich Mitglied bin. Er hatte mich dazu mitgenommen.“ Bei einer Konferenz jener Krim-Freunde im März 2022 sah Lipp Sacharowa dann noch einmal. „Maria Sacharowa ist mit einer kleinen Rede aufgetreten und dann abgehauen.“

Teil eines Medienkriegs

Finanzieren lässt sich Alina Lipp von privaten Unterstützern, sagt sie. Das ist nicht ganz unproblematisch. Der Bezahldienstleister Paypal kündigte ihr das Konto. Ebenso ihre Direktbank. Lipp sieht die Kündigung als Teil eines Medienkriegs gegen sie. Wie viel Spenden sie erhält, behält die 29-Jährige für sich. „Aussagen über das Geld, das ich bekomme, mache ich nicht.“ Deutlich wird sie allerdings auf die Frage, ob sie jemals Geld von russischen Staatsmedien oder gar vom Kreml angenommen habe.

Mit Helm und Seit’ an Seit’ mit Wladimir Putin: So zeigte das Nachrichtenportal T-Online Alina Lipp. (Foto: Screenshot T-Online.de)

„Das war dieser blöde Artikel von T-Online, der das Gerücht gestreut hat, ich würde für Staatsmedien arbeiten. Das stimmt überhaupt nicht. Als unabhängiger Journalist verkauft man sein Material. Man bekommt keine Aufträge. Wenn jemandem etwas gefällt, kauft er das. Das ist völlig normale Praxis für freie Journalisten.“ Ein einziges Mal habe sie Sputnik Deutschland beliefert. „Das war vor der Spezialoperation. Da habe ich Sputnik drei kurze Videos geschickt, die alle nur etwa eine Minute oder so dauerten. Erst nach Monaten bekam ich dafür einen Mini-Betrag.“ Absehen davon habe sie nie Geld von russischen Medien erhalten.

Wer also ist Alina Lipp? Verbreitet sie für den Kreml russische Propaganda? Ist sie die „Friedensjournalistin“, als die sie sich selbst sieht? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? „Ich bin einfach eine Journalistin, die Ungerechtigkeit gesehen hat und versucht, diese Ungerechtigkeit bekannt zu machen und aufzudecken“, sagt Lipp. Ihre Gegner an der medialen Front wird sie damit nicht überzeugen. Alle anderen vielleicht schon.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

„Gibt kaum jemanden, der objektiver sein könnte“

Vor genau einem Jahr marschierten die russischen Streitkräfte in der Ukraine ein. Dem zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren andauernden Bürgerkrieg im Donbass brachte dies eine neue Eskalation. Die junge Deutsche Alina Lipp erlebte den Beginn der Invasion vor Ort mit. Sie war im Herbst 2021 nach Donezk in der gleichnamigen separatistischen „Volksrepublik“ gezogen, um von dort zu berichten. Ihre Videos und Nachrichten, die sie großteils über Telegram verbreitet, widersprechen spätestens seit Beginn der „speziellen Militäroperation“ dem gängigen westlichen Narrativ.

Das folgende Interview gab Alina Lipp kurz nach Kriegsbeginn. Es sollte in einer überregionalen deutschen Wochenzeitung erscheinen. Da der Chefredakteur den Vorwurf vermeintlicher „Russlandnähe“ fürchtete, flog der Beitrag kurzfristig aus dem Blatt. Erstmals veröffentlicht wurde er erst in der Januar-Ausgabe des monatlich erscheinenden Stichpunkt-Magazins.

Alina Lipp bereist den Donbass und dokumentiert Zerstörungen. (Foto: Lipp)

Frau Lipp, die deutsche Öffentlichkeit nimmt den russischen Einmarsch in der Ukraine als verbrecherischen Angriffskrieg wahr. Sie betonen dagegen, man dürfe die Vorgeschichte der Invasion nicht außer Acht lassen. Wie stellt sich diese für Sie dar?

2014 fand in Kiew ein Umsturz statt, infolgedessen eine neue west­orientierte Regierung an die Macht kam – gestützt von ultranationalisti­schen, anti­russischen Kräften. Der russischsprachige Osten des Landes, der Donbass, und die Krim-Bevölkerung haben diesen Putsch nicht unterstützt und sich von der Uk­raine losgesagt. Daraufhin schickte die illegal an die Macht gekomme­ne Regierung Armee, Polizei sowie Geheimdienste, um die abtrünnigen Gebiete mit Gewalt zurückzuholen.

Die Armee wollte nicht so rich­tig gegen ihr eigenes Volk kämpfen. Deshalb mobilisierten die Putschis­ten Rechtsradikale, bewaffnete diese und schickten sie in die abtrünnigen Republiken. Später haben Vertreter dieser paramilitärischen Einheiten wie „Asow“, „Donbass“, „Ajdar“ in der Armee, in den Geheimdiensten und in der Polizei Schlüsselpositionen übernommen.

Viele Verbrechen wurden gefilmt

Der Terror im Osten begann. Menschen verschwanden, wurden gefoltert und ermordet. Viele Ver­brechen wurden gefilmt. Ich habe selber einige grauenhafte Szenen ge­sehen. Die Menschen im Osten wurden pauschal zu Terroristen erklärt. Die Regierung startete eine „antiterroristische Operation“, die schnell in einen echten Krieg ausartete. Seit 2014 sind nach UN-Angaben rund 14.000 Menschen ums Leben gekommen. Laut OSZE gingen 75 Prozent davon auf das Konto der Ukraine.

Veteranen des umstrittenen Asow-Regiments marschieren 2019 durch Kiew. Ihr Erkennungszeichen, von dem sich die Einheit mittlerweile offiziell distanziert, ist eine Wolfsangel, die auch von NS-Verbänden genutzt wurde. (Foto: Goo3/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das Minsker Abkommen brachte die Hoffnung, dass durch gegenseitige Zugeständnisse Frieden einkehrt. Doch die Ukraine hat es in acht Jahren nicht geschafft, die Schlüsselpunkte des Abkommens umzusetzen. Die Rechtsradikalen haben immer wieder gedroht, die Regierung in Kiew zu stürzen, wenn diese irgendwelche Zugeständnisse machen würde. Sie forderten die gewaltsame Lösung des Konflikts.

Russland will die Ukraine „entnazifizieren“. Im Westen heißt es dagegen, die Ultranationalisten spielten in Parlament und Regierung keine Rolle. Und ist es nicht absurd, wenn ausgerechnet der jüdische Präsident Wolodymyr Selenskyi in die Nähe der Nazis gerückt wird?

Das finde ich nicht absurd. Ein „Nazi“ ist nicht automatisch ein Antisemit, sondern jemand, der ra­dikale Ansichten über andere Men­ schengruppen oder Ethnien vertritt. In der Ukraine wurden Gesetze verabschiedet, die den russischsprachigen Teil der Bevölkerung zu Bürgern zweiter Klasse machen: Behörden und Dienstleister dürfen Russisch als Sprache im Wesentlichen nicht mehr verwenden. Russischsprachige Schulen wurden geschlossen.

Durch das „Gesetz über die ein­ heimischen Völker“ werden die Bürger der Ukraine nach völkischen Kriterien in drei Kategorien eingeteilt, die unterschiedliche Rechte haben. Russen gehören zur dritten Kategorie und haben damit weniger Rechte und Ansprüche auf finanzielle Unterstützung als Ukrainer. Stellen Sie sich vor, ein europäisches Land würde solche Gesetze verabschieden – das wäre ein Skandal!

„Russische Untermenschen“

Möglich ist eine solche Gesetz­ gebung in der Ukraine, weil Ultranationalisten eben doch eine Rolle in Parlament und Regierung spielen. Es gibt staatlich subventionierte Ferienlager, in denen Kinder lernen, man müsse „russische Untermenschen“ erschießen. Das Asow-Regiment untersteht dem Verteidigungsministerium. Die Verwendung von Nazi-Symbolik ist gut belegt. Auch das ZDF hat darüber berichtet.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission. (Foto: European Commission/Dati Bendo via Wikimedia Commons)

Selenskyi trat sein Amt als Präsident 2019 mit dem Versprechen an, den Konflikt im Donbass zu beenden. Warum ist er gescheitert?

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Selenskyi mit guten und ehrlichen Absichten antrat, den Frie­den wiederherzustellen. Gescheitert scheint er am Widerstand der nationalistischen Kräfte zu sein. Sobald er auch nur andeutete, Zugeständnisse gegenüber der abgespaltenen Republiken in Erwägung zu ziehen, versammelten sich radikale Nationalisten mit Molotow-Cocktails vor dem Regierungsgebäude.

Wenn es Russland um die „Befreiung“ des Donbass geht – warum marschiert es dann auf breiter Front ein und greift auch Kiew, Lemberg oder Charkiw an, die hunderte Kilometer von Donezk und Lugansk entfernt liegen?

Einfach nur die Donbass-Republiken mit Soldaten zu unterstützen hätte nichts gebracht, da die ukrainische Armee mit Raketen auf die Republiken schießt. Deshalb muss Russland die ukrainischen Einheiten so weit wie möglich zurückdrängen – und sicherstellen, dass danach nicht wieder vorgerückt wird.

Russland hat sich die Demilitari­sierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine als Ziel gesetzt, da die nationalistischen Kräfte ansonsten im­mer wieder versuchen würden, den Donbass anzugreifen. Russland zerstört daher militärstrategische Ziele überall im Land, um die ukrainische Armee zu schwächen: Waffen­ und Öllager, Übungsplätze, militärische Flughäfen.

Warum hat Russland jetzt angegriffen – und nicht bereits 2014?

Wenn Wladimir Putin der blutrünstige Aggressor wäre, als der er in westlichen Medien meist dargestellt wird, hätte er wohl 2014 angegriffen. Das tat er aber nicht. Russland hat sich aus dem Konflikt weitgehend herausgehalten. Die im Donbass abgehaltenen Referenden, nach denen sich Donezk und Lugansk zu „Volksrepubliken“ erklärten, wurden durch Russland acht Jahre lang nicht anerkannt. Putin legte den Republiken sogar nahe, dass er ihren Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation nicht annehmen würde, sollten sie einen solchen stellen. Viele Menschen im Donbass haben gefragt, warum Russland ihnen nicht helfe. Einige waren sogar richtig sauer.

Die heftigen Kampfhandlungen in Mariupol ließen auch zahlreiche Wohngebiete zerstört und verwüstet zurück. (Foto: Lipp)

Ukraine in die NATO

Aktuell wurde Russland durch mehrere Umstände gezwungen, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen. Erstens nahm der Beschuss der Donbass-Bevölkerung, von der ein Großteil die russische Staatsbürgerschaft besitzt, extrem zu. Zweitens lehnten NATO und USA Russlands Vorschläge für gegenseitige Sicherheitsgarantien ab. Damit signalisierten sie, die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen, womit die Errichtung von NATO-Stützpunkten unmittelbar an der russischen Grenze ermöglicht würde. Putin hat immer wieder da­ vor gewarnt, dass dies eine rote Linie überschreiten und Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Und drittens verkündete Selenskyi auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass er in Erwägung zieht, den im Budapester Abkommen geregelten Verzicht der Ukrai­ne auf den Besitz von Atomwaffen zurückzunehmen.

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Kommentar

Ein Tag, den man niemals vergisst

Es gibt Tage, die vergisst man nicht. Tage, von denen man noch Jahre und Jahrzehnte später genau weiß, was man damals getan hat. Was man dachte oder fühlte. Der 11. September 2001 ist so ein Tag. Der islamistische Großangriff auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington markierte den Beginn des westlichen „Kriegs gegen der Terror“. Hunderttausende starben in den Folgejahren bei US-Militäroperationen. In Afghanistan, im Irak, Libyen, Syrien und anderswo. Für eine frühere Generation hatte der 1. September 1939 eine ähnliche Bedeutung: der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Oder der 8. Mai 1945: der Tag der Kapitulation der Wehrmacht.

14 „Leoparden“ für die Ukraine

Heute steht zu befürchten, dass der 25. Januar 2023 von seiner Bedeutung her an die Seite dieser welthistorischen Ereignisse treten wird. Die Bundesregierung teilt offiziell mit, sie werde der Ukraine 14 Kampfpanzer vom Typ „Leopard 2“ aus deutschen Beständen zur Verfügung stellen. Zugleich erteile sie anderen Ländern, allen voran Polen, die Erlaubnis, ihrerseits „Leoparden“ in das Kriegsgebiet zu entsenden. Die Ankündigung, die Regierungssprecher Steffen Hebestreit der Presse am späten Vormittag mitteilte, ist keine Kriegserklärung. Der Knall, der „Wumms“, mit dem sie einhergeht, ist deutlich verhaltener als bei früheren Großkonflikten.

„Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“, verkündete Adolf Hitler am 1. September 1939 im Reichstag. Die Rede des Nazi-„Führers“ ist ungleich pathetischer als die Ankündigung der Bundesregierung, Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken. Die Folgen sind kaum abzusehen. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-E10402/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Der blasse SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Panzer-Lieferung zuvor im Bundeskabinett verkündet hatte und danach im Bundestag Stellung nahm, ist kein Hitler, der verkündet, „seit 5 Uhr 45“ werde „jetzt zurückgeschossen“. Auch Sondersendungen im Fernsehen wie 1999, als Kanzler Gerhard Schröder – gleichfalls Sozialdemokrat – von der Mattscheibe die Teilnahme deutscher Truppen am NATO-Krieg gegen Jugoslawien verkündete, fehlen diesmal. Immerhin war dies die erste direkte Kriegsbeteiligung deutscher Soldaten seit 1945. Und nach Schröders späterem Eingeständnis wohl völkerrechtswidrig.

Neue Forderungen aus Kiew

Jetzt also Panzer für die Front in der Ukraine. Die Bedeutung der Entscheidung ist nicht zu unterschätzen. Trotz der unspektakulären Verkündung . Zum ersten Mal seit acht Jahrzehnten sollen sich deutsche Kampfpanzer gegen Russland richten. Genau davor hat der Kreml seit Monaten gewarnt. Nun ist die „Rote Linie“ endgültig überschritten. Dass dies nicht etwa die Ukraine stärkt, sondern vielmehr Deutschland schwächt, wie der Bundeswehr-Verband moniert, ist der Regierung offensichtlich egal. Doch damit nicht genug: Schon kommen aus Kiew neue Forderungen. Etwa vom Ex-Botschafter der Ukraine in Berlin, Andrij Melnyk. Westliche Kampfjets sollen die Wende im Abwehrkampf gegen die russische Invasion bringen.

Andrij Melnyk im September 2022 bei der ARD-Sendung „Hart aber fair“. (Foto: Sandro Halank/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Man kann dieser Tage förmlich zusehen, wie der jahrzehntelange Frieden in Mitteleuropa zerrinnt. Nur ein paar wenige Tage schien es so, als würde Olaf Scholz den immer drängenderen Forderungen aus Kiew, Warschau und Washington nicht nachgeben. Forderungen, die auch von Grünen wie Anton Hofreiter und Liberalen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann immer dreister vorgetragen wurden. Es schien so, als würde Scholz vor dem letzten Schritt der Eskalation zurückschrecken. Die Hoffnung war vergebens. Am Ende siegte die transatlantische Solidarität über den Friedenswillen. Anders als 2003, als Gerhard Schröder einer deutschen Beteiligung am US-Angriff auf den Irak widerstand.

Unabsehbare Konsequenzen

Die unabsehbaren Konsequenzen müssen nun alle Deutschen tragen. Auch wenn sie Panzer-Lieferungen ablehnen. Ja, der 25. Januar 2023 wird wohl im Gedächtnis bleiben. Wie der 1. September 1939 oder der 11. September 2001. Ein Tag, von dem man noch Jahre später genau weiß, was man damals dachte oder fühlte: Entsetzen. Und Hoffnungslosigkeit.

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

Wer zuerst schießt, verliert

Es ist so eine Sache mit Familienfesten. Vielleicht kennen Sie das auch? Man sitzt im Kreise seiner lieben Verwandten, isst, trinkt, redet. Irgendwann kommt die Sprache auf ein unangenehmes Thema, das man besser nicht besprochen hätte. Ein kontroverses Thema. Politik zum Beispiel. Ein Wort gibt das andere. Und bald ist vom Familienfrieden nicht mehr allzu viel übrig. Das kann, wie kürzlich, an Weihnachten geschehen oder an Silvester. Es kann aber auch auf jeder beliebigen Geburtstagsfeier passieren. Oder im Sommer beim gemütlichen Grillabend. Der Krieg in der Ukraine ist so ein Thema, das die Gemüter in Wallung bringt und geeignet ist, höchst kontrovers diskutiert zu werden.

Der Wunsch nach Frieden

Solch familiäre Diskussionen können ganz harmlos beginnen. Für Gespräche im Freundeskreis gilt freilich dasselbe. Man wünscht sich baldigen Frieden für die kriegsgeplagte Ukraine. Dass das Kämpfen und Sterben auf dem Schlachtfeld bald enden möge. Dass die Angriffe, die immer wieder auch zivile Ziele treffen, eingestellt werden. Soweit so verständlich. Erst recht angesichts solcher Bilder wie jüngst aus Dnipro (Dnjepropetrowsk), wo ukrainischen Angaben zufolge bei einem russischen Luftschlag mindestens 40 Zivilisten getötet wurden. Sei es, weil der russische Marschflugkörper von der Flugabwehr getroffen und abgelenkt wurde. Sei es, weil die Ch-22 ein Ziel traf, auf das sie nicht programmiert war.

Wladimir Putin auf einem Truppenübungsplatz im Oblast Rjasan südöstlich von Moskau im Oktober. Der russische Präsident lässt sich dabei den Stand der Teilmobilmachung erläutern. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Bei Friedensappellen bleibt es im familiären Diskurs nicht. Schnell tritt die Schuldfrage in den Vordergrund. Für den gemeinen deutschen Medien-Konsumenten endet hier die Diskussion und beginnen die Fakten. Schuld ist der Russe! Und nur der Russe! Der „Teufel“ Wladimir Putin, der brutale „Diktator im Kreml“, habe die friedliebende Ukraine überfallen und ihr einen Vernichtungskrieg aufgezwungen. So oder so ähnlich hört, sieht und liest der durchschnittliche Deutsche es seit Monaten in den öffentlich-rechtlichen Medien und der Tageszeitung. Wer diesen leitmedialen Konsens in Frage stellt, ist ein böser „Putin-Versteher“, „Russland-Freund“ oder „Kreml-Propagandist“. Oder schlimmeres. Und damit praktisch ein Hochverräter an der westlichen Demokratie und ihrer gerechten Sache.

Moralischer Verlierer

Wer zuerst schießt, verliert. Getreu diesem Motto sehen die deutschen Leitmedien den Konflikt in der Ukraine offenbar. Denn dass Russlands Truppen in das Nachbarland einmarschierten, ohne dass es zuvor ukrainische Angriffe auf Russland gegeben hatte – das dürfte kaum jemand bestreiten. Vor dem 24. Februar beschränkte sich der Krieg in der Ukraine auf den Donbass. Eine großflächige Eskalation brachte erst die russische Februar-Invasion, die mit Luftschlägen und Zerstörungen in weiten Teilen des Landes einher ging. Auf dem Papier mag die Feststellung also zutreffen, dass Russland den Krieg begonnen hat. Es hat zuerst geschossen – und steht damit als moralischer Verlierer da.

Tatsächlich stellt der Einmarsch am 24. Februar eine Zäsur dar. Zumindest in der Wahrnehmung weiter Teile der deutschen Öffentlichkeit. Vom ersten Krieg in Europa seit 1945 war in den Medien die Rede. Dass das historischer Unsinn ist, dürfte vielen gar nicht bewusst sein. Obwohl selbst die Jüngeren sich eigentlich problemlos daran erinnern müssten. In den 1990er Jahren kam der Balkan nicht zur Ruhe. Mit dem Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaats Jugoslawien entluden sich die Spannungen in einem jahrelangen brutalen Krieg. Im Kern mag er ein Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen gewesen sein. Durch die westliche Anerkennung der Balkan-Staaten als unabhängig änderte sich die Situation aber schnell.

NATO-Pressesprecher Jamie Shea. Während des Kriegs gegen Jugoslawien 1999 bezeichnete er zivile Todesopfer wiederholt als „Kollateralschäden“. (Foto: Friends of Europe/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Unstrittig ein „richtiger Krieg“ war das, was am Abend des 24. März 1999 mit massiven Luftangriffen der NATO auf Belgrad und andere jugoslawische Orte begann. Mit dem hierzulande meist Kosovokrieg genannten Waffengang ergriff das Militärbündnis endgültig Partei für die kosovarische Untergrundarmee UÇK, deren Kämpfer der jugoslawischen Regierung um Slobodan Milošević als Terroristen galten. Die Angriffe dauerten bis in den Juni hinein und trafen immer wieder auch die Zivilbevölkerung. „Kollateralschäden“ nannte das NATO-Pressesprecher Jamie Shea. Die weithin als zynisch wahrgenommene Bezeichnung, die zuvor im Deutschen kaum geläufig war, wurde prompt zum Unwort des Jahres 1999 gekürt. Für Deutschland, das sich unter rot-grüner Führung an den Luftschlägen beteiligte, war der Krieg gegen Serbien und Montenegro der erste Kampfeinsatz seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Vorwurf des Völkermords

Dass der Krieg völkerrechtlich auf äußerst wackeligen Füßen stand, spielte in der Berichterstattung nahezu keine Rolle. Auch die zahlreichen Angriffe auf die zivile Infrastruktur, auf Brücken und Elektrizitätswerke, wurden kaum kritisch hinterfragt, solange der Einsatz lief. Hinterher konnte freilich wieder ausgiebig berichtet und diskutiert werden, ob die Begründung für die Luftschläge womöglich eine Lüge war. Zumindest mehrten sich die Zweifel an serbischen Massakern und dem sogenannten „Hufeisenplan“, der der NATO und vor allem deutschen Politikern dazu diente, die jugoslawische Regierung um Slobodan Milošević eines vorgeblich geplanten Völkermords an den Kosovo-Albanern zu bezichtigen.

Ein Mahnmal erinnert im Tasmajdan-Park in Belgrad an die serbischen Kinder, die zu Opfern der NATO-Luftangriffe wurden. „Wir waren bloß Kinder“, liest man auf der Skulptur. Die Figur eines kleines Mädchens soll Milica Rakić darstellen, die am 17. April 1999 als Dreijährige durch NATO-Streumunition getötet wurde. Eigentliches Ziel des Angriffs war wohl eine Militärbasis in rund einem Kilometer Entfernung. (Foto: Simon Legner/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das damalige Vorgehen der Medien wiederholte sich – für unvoreingenommene Betrachter noch deutlicher erkennbar – im Zusammenhang mit Corona. Erst seit die Pandemie faktisch beendet und in die endemische Phase eingetreten ist, häufen sich auch in den Leitmedien Berichte über die teils erschreckenden Nebenwirkungen oder die mangelnde Wirksamkeit der Corona-Impfung. Oder über die schädlichen Folgen der Corona-Maßnahmen etwa auf Psyche und Gesundheit von Kindern. Zuvor galten die verordneten Einschränkungen noch als unbedingt nötig, um ein Massensterben nicht nur der „vulnerablen Gruppen“ zu verhindern. Und die Impfung galt (und gilt großteils bis heute) als Allheilmittel gegen das Virus. Wer dagegen seine Stimme erhob, wurde schnell zum „Querdenker“ oder gar zum „Nazi“. Kurz: zum Außenseiter. Auch innerhalb der Familie.

Die Spaltung vertieft sich

Nun also der Krieg in der Ukraine. Wieder ist die Leit-Meinung der großen Medien nahezu flächendeckend die der Regierung. Wieder überbieten sich Politiker in immer neuen Forderungen und Anschuldigungen an die Adresse der Andersdenkenden. Und wieder vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft, stehen abweichende Stimmen am Pranger. In der Öffentlichkeit und im Kreis der Familie. Wieder drohen Freundschaften zu zerbrechen. Und mancher, der in Bezug auf den Krieg vermeintliche Gewissheiten des Westens in Frage stellt, ist besser still. Selbst wenn er vielleicht sogar Verbindungen in die Ukraine oder den Donbass hat und die dortige Situation einigermaßen unzensiert mitbekommt.

Wer sein Augenmerk allein auf den 24. Februar und die Monate danach richtet, muss zum Schluss kommen, dass die alleinige Schuld an Krieg und Eskalation bei Russland liegt. Bei Wladimir Putin. Die Vorgeschichte der Invasion spielt dann dieselbe Rolle, die sie auch in den meisten deutschen Medien spielt: keine. Dann verwundert es auch nicht, dass jeder, der Russlands Kriegsschuld relativiert, als böser Propagandist des Kreml gilt. Wetten, dass objektive Formen der Berichterstattung und freiere Diskussionen wieder zunehmen, sobald der Krieg beendet ist? Dann dürfte auch das Sterben im Donbass seit 2014 wieder vermehrt zur Sprache kommen. Und der Druck, den die NATO über Jahre gegen Russland aufbaute.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

General: Noch nie solche Gleichschaltung erlebt

Polen will deutsche Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern und bringt die Bundesrepublik damit in Zugzwang. Denn Berlin müsste die Ausfuhr genehmigen. Bislang lehnt die Bundesregierung dies ab. Allerdings wurden zuletzt auch hierzulande die Forderungen lauter. FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann rief Kanzler Olaf Scholz auf, die Exportgenehmigung zu erteilen. „Der Kanzler sollte angesichts des Dramas in der Ukraine über seinen Schatten springen“, meint die FDP-Politikerin, die seit Monaten schwere Waffen für die Ukraine fordert. Auch die Lieferung von 40 Marder-Schützenpanzern deutet an, dass die Bundesregierung von ihrem Nein abrückt. Scharfe Kritik an derlei Waffenlieferungen kommt nun erneut von Ex-Brigadegeneral Erich Vad.

Prominenter Kritiker

„Das ist eine militärische Eskalation, auch in der Wahrnehmung der Russen“, sagt Vad in einem gestern veröffentlichten Interview mit der Zeitschrift Emma. Der Marder sei zwar keine Wunderwaffe. Mit der kürzlich genehmigten Lieferung der mehr als 40 Jahre alten Schützenpanzer begebe sich Deutschland aber auf eine Rutschbahn. „Das könnte eine Eigendynamik entwickeln, die wir nicht mehr steuern können.“ Vad war bis 2013 militärpolitischer Berater von Angela Merkel. Seit Monaten gehört er zu den prominentesten Kritikern der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Auch den Offenen Brief, den eine Reihe von Prominenten um die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer im April an Bundeskanzler Scholz geschrieben hat, hat Vad unterzeichnet. Mittlerweile unterstützen den Brief fast 500.000 Menschen. Für seine Haltung sieht sich der Ex-Militär teils heftiger Angriffe ausgesetzt.

Die deutschen Schützenpanzer vom Typ Marder sind mehr als vier Jahrzehnte alt. 40 von ihnen sollen an die Ukraine geliefert werden. (Foto: Sonaz/CC BY-SA 2.0 DE via Wikimedia Commons)

Vad sieht die Solidarität mit der Ukraine grundsätzlich als richtig an. „Natürlich ist Putins Überfall nicht völkerrechtskonform“, meint er. Es fehle der westlichen Politik aber eine klare Strategie. Was wollen NATO, USA, EU und Bundesrepublik also in der Ukraine erreichen? Lange hieß es insbesondere in Deutschland: Die Ukraine darf nicht verlieren. Immer häufiger hört man nun von Regierungsvertretern: Russland muss besiegt werden. „Wir haben eine militärisch operative Patt-Situation, die wir aber militärisch nicht lösen können“, sagt dazu der Ex-General. Das sei auch die Meinung des amerikanischen Generalstabschefs Mark Milley. „Er hat gesagt, dass ein militärischer Sieg der Ukraine nicht zu erwarten sei und dass Verhandlungen der einzig mögliche Weg seien. Alles andere bedeutet den sinnlosen Verschleiß von Menschenleben.“

Eine unbequeme Wahrheit

Mit ihrer Ablehnung der bedingungslosen Unterstützung der Ukraine kommen Vad und andere Kritiker in den großen deutschen Medien nahezu nicht vor. Auch die Äußerungen von US-Stabschef Milley fanden nicht statt, hat Vad festgestellt. „Das Interview mit Milley von CNN tauchte nirgendwo größer auf, dabei ist er der Generalstabschef unserer westlichen Führungsmacht.“ Die unbequeme Wahrheit, die Milley ausgesprochen habe, passe nicht zur medialen Meinungsbildung. „Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien, wie ich sie so in der Bundesrepublik noch nie erlebt habe“, kritisiert Vad. „Das ist pure Meinungsmache. Und zwar nicht im staatlichen Auftrag, wie es aus totalitären Regimen bekannt ist, sondern aus reiner Selbstermächtigung.“

Anton Hofreiter ist einer der grünen Wortführer, wenn es um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine geht. (Foto: Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

In der Bevölkerung habe die Lieferung schwerer Waffen längst keine Mehrheit mehr, sagt Vad. „Das alles wird jedoch nicht berichtet. Es gibt weitestgehend keinen fairen offenen Diskurs mehr zum Ukraine-Krieg, und das finde ich sehr verstörend.“ Vor allem die Grünen kritisiert Vad scharf. „Die Mutation der Grünen von einer pazifistischen zu einer Kriegspartei verstehe ich nicht. Ich selbst kenne keinen Grünen, der überhaupt auch nur den Militärdienst geleistet hätte. Anton Hofreiter ist für mich das beste Beispiel dieser Doppelmoral.“ Dass Deutschland mit Annalena Baerbock „endlich mal eine Außenministerin“ hat, freue ihn. „Aber es reicht nicht, nur Kriegsrhetorik zu betreiben und mit Helm und Splitterschutzweste in Kiew oder im Donbass herumzulaufen. Das ist zu wenig.“

Eine Strategie, die nicht funktioniert

In der Ukraine werde ein Abnutzungskrieg geführt, analysiert Vad. „Und zwar einer mit mittlerweile annähernd 200.000 gefallenen und verwundeten Soldaten auf beiden Seiten, mit 50.000 Ziviltoten und mit Millionen von Flüchtlingen.“ Dem US-Stabschef drängte sich da der Vergleich zum Ersten Weltkrieg auf. Allein die „Blutmühle von Verdun“ habe „zum Tod von fast einer Million junger Franzosen und Deutscher geführt“, erinnert Vad. „Sie sind damals für nichts gefallen. Das Verweigern der Kriegsparteien von Verhandlungen hat also zu Millionen zusätzlicher Toter geführt. Diese Strategie hat damals militärisch nicht funktioniert – und wird das auch heute nicht tun.“

Um zu einer Lösung der Krise zu kommen, meint Vad, sollte man die Menschen in der Region, also im Donbass und auf der Krim, einfach fragen, zu wem sie gehören wollen. „Man müsste die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen, mit bestimmten westlichen Garantien. Und die Russen brauchen so eine Sicherheitsgarantie eben auch. Also keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine. Seit dem Gipfel von Bukarest von 2008 ist klar, dass das die rote Linie der Russen ist.“

Thomas Wolf