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Im Blickpunkt

„Gibt kaum jemanden, der objektiver sein könnte“

Vor genau einem Jahr marschierten die russischen Streitkräfte in der Ukraine ein. Dem zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren andauernden Bürgerkrieg im Donbass brachte dies eine neue Eskalation. Die junge Deutsche Alina Lipp erlebte den Beginn der Invasion vor Ort mit. Sie war im Herbst 2021 nach Donezk in der gleichnamigen separatistischen „Volksrepublik“ gezogen, um von dort zu berichten. Ihre Videos und Nachrichten, die sie großteils über Telegram verbreitet, widersprechen spätestens seit Beginn der „speziellen Militäroperation“ dem gängigen westlichen Narrativ.

Das folgende Interview gab Alina Lipp kurz nach Kriegsbeginn. Es sollte in einer überregionalen deutschen Wochenzeitung erscheinen. Da der Chefredakteur den Vorwurf vermeintlicher „Russlandnähe“ fürchtete, flog der Beitrag kurzfristig aus dem Blatt. Erstmals veröffentlicht wurde er erst in der Januar-Ausgabe des monatlich erscheinenden Stichpunkt-Magazins.

Alina Lipp bereist den Donbass und dokumentiert Zerstörungen. (Foto: Lipp)

Frau Lipp, die deutsche Öffentlichkeit nimmt den russischen Einmarsch in der Ukraine als verbrecherischen Angriffskrieg wahr. Sie betonen dagegen, man dürfe die Vorgeschichte der Invasion nicht außer Acht lassen. Wie stellt sich diese für Sie dar?

2014 fand in Kiew ein Umsturz statt, infolgedessen eine neue west­orientierte Regierung an die Macht kam – gestützt von ultranationalisti­schen, anti­russischen Kräften. Der russischsprachige Osten des Landes, der Donbass, und die Krim-Bevölkerung haben diesen Putsch nicht unterstützt und sich von der Uk­raine losgesagt. Daraufhin schickte die illegal an die Macht gekomme­ne Regierung Armee, Polizei sowie Geheimdienste, um die abtrünnigen Gebiete mit Gewalt zurückzuholen.

Die Armee wollte nicht so rich­tig gegen ihr eigenes Volk kämpfen. Deshalb mobilisierten die Putschis­ten Rechtsradikale, bewaffnete diese und schickten sie in die abtrünnigen Republiken. Später haben Vertreter dieser paramilitärischen Einheiten wie „Asow“, „Donbass“, „Ajdar“ in der Armee, in den Geheimdiensten und in der Polizei Schlüsselpositionen übernommen.

Viele Verbrechen wurden gefilmt

Der Terror im Osten begann. Menschen verschwanden, wurden gefoltert und ermordet. Viele Ver­brechen wurden gefilmt. Ich habe selber einige grauenhafte Szenen ge­sehen. Die Menschen im Osten wurden pauschal zu Terroristen erklärt. Die Regierung startete eine „antiterroristische Operation“, die schnell in einen echten Krieg ausartete. Seit 2014 sind nach UN-Angaben rund 14.000 Menschen ums Leben gekommen. Laut OSZE gingen 75 Prozent davon auf das Konto der Ukraine.

Veteranen des umstrittenen Asow-Regiments marschieren 2019 durch Kiew. Ihr Erkennungszeichen, von dem sich die Einheit mittlerweile offiziell distanziert, ist eine Wolfsangel, die auch von NS-Verbänden genutzt wurde. (Foto: Goo3/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das Minsker Abkommen brachte die Hoffnung, dass durch gegenseitige Zugeständnisse Frieden einkehrt. Doch die Ukraine hat es in acht Jahren nicht geschafft, die Schlüsselpunkte des Abkommens umzusetzen. Die Rechtsradikalen haben immer wieder gedroht, die Regierung in Kiew zu stürzen, wenn diese irgendwelche Zugeständnisse machen würde. Sie forderten die gewaltsame Lösung des Konflikts.

Russland will die Ukraine „entnazifizieren“. Im Westen heißt es dagegen, die Ultranationalisten spielten in Parlament und Regierung keine Rolle. Und ist es nicht absurd, wenn ausgerechnet der jüdische Präsident Wolodymyr Selenskyi in die Nähe der Nazis gerückt wird?

Das finde ich nicht absurd. Ein „Nazi“ ist nicht automatisch ein Antisemit, sondern jemand, der ra­dikale Ansichten über andere Men­ schengruppen oder Ethnien vertritt. In der Ukraine wurden Gesetze verabschiedet, die den russischsprachigen Teil der Bevölkerung zu Bürgern zweiter Klasse machen: Behörden und Dienstleister dürfen Russisch als Sprache im Wesentlichen nicht mehr verwenden. Russischsprachige Schulen wurden geschlossen.

Durch das „Gesetz über die ein­ heimischen Völker“ werden die Bürger der Ukraine nach völkischen Kriterien in drei Kategorien eingeteilt, die unterschiedliche Rechte haben. Russen gehören zur dritten Kategorie und haben damit weniger Rechte und Ansprüche auf finanzielle Unterstützung als Ukrainer. Stellen Sie sich vor, ein europäisches Land würde solche Gesetze verabschieden – das wäre ein Skandal!

„Russische Untermenschen“

Möglich ist eine solche Gesetz­ gebung in der Ukraine, weil Ultranationalisten eben doch eine Rolle in Parlament und Regierung spielen. Es gibt staatlich subventionierte Ferienlager, in denen Kinder lernen, man müsse „russische Untermenschen“ erschießen. Das Asow-Regiment untersteht dem Verteidigungsministerium. Die Verwendung von Nazi-Symbolik ist gut belegt. Auch das ZDF hat darüber berichtet.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission. (Foto: European Commission/Dati Bendo via Wikimedia Commons)

Selenskyi trat sein Amt als Präsident 2019 mit dem Versprechen an, den Konflikt im Donbass zu beenden. Warum ist er gescheitert?

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Selenskyi mit guten und ehrlichen Absichten antrat, den Frie­den wiederherzustellen. Gescheitert scheint er am Widerstand der nationalistischen Kräfte zu sein. Sobald er auch nur andeutete, Zugeständnisse gegenüber der abgespaltenen Republiken in Erwägung zu ziehen, versammelten sich radikale Nationalisten mit Molotow-Cocktails vor dem Regierungsgebäude.

Wenn es Russland um die „Befreiung“ des Donbass geht – warum marschiert es dann auf breiter Front ein und greift auch Kiew, Lemberg oder Charkiw an, die hunderte Kilometer von Donezk und Lugansk entfernt liegen?

Einfach nur die Donbass-Republiken mit Soldaten zu unterstützen hätte nichts gebracht, da die ukrainische Armee mit Raketen auf die Republiken schießt. Deshalb muss Russland die ukrainischen Einheiten so weit wie möglich zurückdrängen – und sicherstellen, dass danach nicht wieder vorgerückt wird.

Russland hat sich die Demilitari­sierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine als Ziel gesetzt, da die nationalistischen Kräfte ansonsten im­mer wieder versuchen würden, den Donbass anzugreifen. Russland zerstört daher militärstrategische Ziele überall im Land, um die ukrainische Armee zu schwächen: Waffen­ und Öllager, Übungsplätze, militärische Flughäfen.

Warum hat Russland jetzt angegriffen – und nicht bereits 2014?

Wenn Wladimir Putin der blutrünstige Aggressor wäre, als der er in westlichen Medien meist dargestellt wird, hätte er wohl 2014 angegriffen. Das tat er aber nicht. Russland hat sich aus dem Konflikt weitgehend herausgehalten. Die im Donbass abgehaltenen Referenden, nach denen sich Donezk und Lugansk zu „Volksrepubliken“ erklärten, wurden durch Russland acht Jahre lang nicht anerkannt. Putin legte den Republiken sogar nahe, dass er ihren Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation nicht annehmen würde, sollten sie einen solchen stellen. Viele Menschen im Donbass haben gefragt, warum Russland ihnen nicht helfe. Einige waren sogar richtig sauer.

Die heftigen Kampfhandlungen in Mariupol ließen auch zahlreiche Wohngebiete zerstört und verwüstet zurück. (Foto: Lipp)

Ukraine in die NATO

Aktuell wurde Russland durch mehrere Umstände gezwungen, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen. Erstens nahm der Beschuss der Donbass-Bevölkerung, von der ein Großteil die russische Staatsbürgerschaft besitzt, extrem zu. Zweitens lehnten NATO und USA Russlands Vorschläge für gegenseitige Sicherheitsgarantien ab. Damit signalisierten sie, die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen, womit die Errichtung von NATO-Stützpunkten unmittelbar an der russischen Grenze ermöglicht würde. Putin hat immer wieder da­ vor gewarnt, dass dies eine rote Linie überschreiten und Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Und drittens verkündete Selenskyi auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass er in Erwägung zieht, den im Budapester Abkommen geregelten Verzicht der Ukrai­ne auf den Besitz von Atomwaffen zurückzunehmen.

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Kommentar

Ein Tag, den man niemals vergisst

Es gibt Tage, die vergisst man nicht. Tage, von denen man noch Jahre und Jahrzehnte später genau weiß, was man damals getan hat. Was man dachte oder fühlte. Der 11. September 2001 ist so ein Tag. Der islamistische Großangriff auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington markierte den Beginn des westlichen „Kriegs gegen der Terror“. Hunderttausende starben in den Folgejahren bei US-Militäroperationen. In Afghanistan, im Irak, Libyen, Syrien und anderswo. Für eine frühere Generation hatte der 1. September 1939 eine ähnliche Bedeutung: der Beginn des Zweiten Weltkriegs. Oder der 8. Mai 1945: der Tag der Kapitulation der Wehrmacht.

14 „Leoparden“ für die Ukraine

Heute steht zu befürchten, dass der 25. Januar 2023 von seiner Bedeutung her an die Seite dieser welthistorischen Ereignisse treten wird. Die Bundesregierung teilt offiziell mit, sie werde der Ukraine 14 Kampfpanzer vom Typ „Leopard 2“ aus deutschen Beständen zur Verfügung stellen. Zugleich erteile sie anderen Ländern, allen voran Polen, die Erlaubnis, ihrerseits „Leoparden“ in das Kriegsgebiet zu entsenden. Die Ankündigung, die Regierungssprecher Steffen Hebestreit der Presse am späten Vormittag mitteilte, ist keine Kriegserklärung. Der Knall, der „Wumms“, mit dem sie einhergeht, ist deutlich verhaltener als bei früheren Großkonflikten.

„Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen“, verkündete Adolf Hitler am 1. September 1939 im Reichstag. Die Rede des Nazi-„Führers“ ist ungleich pathetischer als die Ankündigung der Bundesregierung, Kampfpanzer in die Ukraine zu schicken. Die Folgen sind kaum abzusehen. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-E10402/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Der blasse SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz, der die Panzer-Lieferung zuvor im Bundeskabinett verkündet hatte und danach im Bundestag Stellung nahm, ist kein Hitler, der verkündet, „seit 5 Uhr 45“ werde „jetzt zurückgeschossen“. Auch Sondersendungen im Fernsehen wie 1999, als Kanzler Gerhard Schröder – gleichfalls Sozialdemokrat – von der Mattscheibe die Teilnahme deutscher Truppen am NATO-Krieg gegen Jugoslawien verkündete, fehlen diesmal. Immerhin war dies die erste direkte Kriegsbeteiligung deutscher Soldaten seit 1945. Und nach Schröders späterem Eingeständnis wohl völkerrechtswidrig.

Neue Forderungen aus Kiew

Jetzt also Panzer für die Front in der Ukraine. Die Bedeutung der Entscheidung ist nicht zu unterschätzen. Trotz der unspektakulären Verkündung . Zum ersten Mal seit acht Jahrzehnten sollen sich deutsche Kampfpanzer gegen Russland richten. Genau davor hat der Kreml seit Monaten gewarnt. Nun ist die „Rote Linie“ endgültig überschritten. Dass dies nicht etwa die Ukraine stärkt, sondern vielmehr Deutschland schwächt, wie der Bundeswehr-Verband moniert, ist der Regierung offensichtlich egal. Doch damit nicht genug: Schon kommen aus Kiew neue Forderungen. Etwa vom Ex-Botschafter der Ukraine in Berlin, Andrij Melnyk. Westliche Kampfjets sollen die Wende im Abwehrkampf gegen die russische Invasion bringen.

Andrij Melnyk im September 2022 bei der ARD-Sendung „Hart aber fair“. (Foto: Sandro Halank/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Man kann dieser Tage förmlich zusehen, wie der jahrzehntelange Frieden in Mitteleuropa zerrinnt. Nur ein paar wenige Tage schien es so, als würde Olaf Scholz den immer drängenderen Forderungen aus Kiew, Warschau und Washington nicht nachgeben. Forderungen, die auch von Grünen wie Anton Hofreiter und Liberalen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann immer dreister vorgetragen wurden. Es schien so, als würde Scholz vor dem letzten Schritt der Eskalation zurückschrecken. Die Hoffnung war vergebens. Am Ende siegte die transatlantische Solidarität über den Friedenswillen. Anders als 2003, als Gerhard Schröder einer deutschen Beteiligung am US-Angriff auf den Irak widerstand.

Unabsehbare Konsequenzen

Die unabsehbaren Konsequenzen müssen nun alle Deutschen tragen. Auch wenn sie Panzer-Lieferungen ablehnen. Ja, der 25. Januar 2023 wird wohl im Gedächtnis bleiben. Wie der 1. September 1939 oder der 11. September 2001. Ein Tag, von dem man noch Jahre später genau weiß, was man damals dachte oder fühlte: Entsetzen. Und Hoffnungslosigkeit.

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

Wer zuerst schießt, verliert

Es ist so eine Sache mit Familienfesten. Vielleicht kennen Sie das auch? Man sitzt im Kreise seiner lieben Verwandten, isst, trinkt, redet. Irgendwann kommt die Sprache auf ein unangenehmes Thema, das man besser nicht besprochen hätte. Ein kontroverses Thema. Politik zum Beispiel. Ein Wort gibt das andere. Und bald ist vom Familienfrieden nicht mehr allzu viel übrig. Das kann, wie kürzlich, an Weihnachten geschehen oder an Silvester. Es kann aber auch auf jeder beliebigen Geburtstagsfeier passieren. Oder im Sommer beim gemütlichen Grillabend. Der Krieg in der Ukraine ist so ein Thema, das die Gemüter in Wallung bringt und geeignet ist, höchst kontrovers diskutiert zu werden.

Der Wunsch nach Frieden

Solch familiäre Diskussionen können ganz harmlos beginnen. Für Gespräche im Freundeskreis gilt freilich dasselbe. Man wünscht sich baldigen Frieden für die kriegsgeplagte Ukraine. Dass das Kämpfen und Sterben auf dem Schlachtfeld bald enden möge. Dass die Angriffe, die immer wieder auch zivile Ziele treffen, eingestellt werden. Soweit so verständlich. Erst recht angesichts solcher Bilder wie jüngst aus Dnipro (Dnjepropetrowsk), wo ukrainischen Angaben zufolge bei einem russischen Luftschlag mindestens 40 Zivilisten getötet wurden. Sei es, weil der russische Marschflugkörper von der Flugabwehr getroffen und abgelenkt wurde. Sei es, weil die Ch-22 ein Ziel traf, auf das sie nicht programmiert war.

Wladimir Putin auf einem Truppenübungsplatz im Oblast Rjasan südöstlich von Moskau im Oktober. Der russische Präsident lässt sich dabei den Stand der Teilmobilmachung erläutern. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Bei Friedensappellen bleibt es im familiären Diskurs nicht. Schnell tritt die Schuldfrage in den Vordergrund. Für den gemeinen deutschen Medien-Konsumenten endet hier die Diskussion und beginnen die Fakten. Schuld ist der Russe! Und nur der Russe! Der „Teufel“ Wladimir Putin, der brutale „Diktator im Kreml“, habe die friedliebende Ukraine überfallen und ihr einen Vernichtungskrieg aufgezwungen. So oder so ähnlich hört, sieht und liest der durchschnittliche Deutsche es seit Monaten in den öffentlich-rechtlichen Medien und der Tageszeitung. Wer diesen leitmedialen Konsens in Frage stellt, ist ein böser „Putin-Versteher“, „Russland-Freund“ oder „Kreml-Propagandist“. Oder schlimmeres. Und damit praktisch ein Hochverräter an der westlichen Demokratie und ihrer gerechten Sache.

Moralischer Verlierer

Wer zuerst schießt, verliert. Getreu diesem Motto sehen die deutschen Leitmedien den Konflikt in der Ukraine offenbar. Denn dass Russlands Truppen in das Nachbarland einmarschierten, ohne dass es zuvor ukrainische Angriffe auf Russland gegeben hatte – das dürfte kaum jemand bestreiten. Vor dem 24. Februar beschränkte sich der Krieg in der Ukraine auf den Donbass. Eine großflächige Eskalation brachte erst die russische Februar-Invasion, die mit Luftschlägen und Zerstörungen in weiten Teilen des Landes einher ging. Auf dem Papier mag die Feststellung also zutreffen, dass Russland den Krieg begonnen hat. Es hat zuerst geschossen – und steht damit als moralischer Verlierer da.

Tatsächlich stellt der Einmarsch am 24. Februar eine Zäsur dar. Zumindest in der Wahrnehmung weiter Teile der deutschen Öffentlichkeit. Vom ersten Krieg in Europa seit 1945 war in den Medien die Rede. Dass das historischer Unsinn ist, dürfte vielen gar nicht bewusst sein. Obwohl selbst die Jüngeren sich eigentlich problemlos daran erinnern müssten. In den 1990er Jahren kam der Balkan nicht zur Ruhe. Mit dem Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaats Jugoslawien entluden sich die Spannungen in einem jahrelangen brutalen Krieg. Im Kern mag er ein Bürgerkrieg zwischen den Volksgruppen gewesen sein. Durch die westliche Anerkennung der Balkan-Staaten als unabhängig änderte sich die Situation aber schnell.

NATO-Pressesprecher Jamie Shea. Während des Kriegs gegen Jugoslawien 1999 bezeichnete er zivile Todesopfer wiederholt als „Kollateralschäden“. (Foto: Friends of Europe/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Unstrittig ein „richtiger Krieg“ war das, was am Abend des 24. März 1999 mit massiven Luftangriffen der NATO auf Belgrad und andere jugoslawische Orte begann. Mit dem hierzulande meist Kosovokrieg genannten Waffengang ergriff das Militärbündnis endgültig Partei für die kosovarische Untergrundarmee UÇK, deren Kämpfer der jugoslawischen Regierung um Slobodan Milošević als Terroristen galten. Die Angriffe dauerten bis in den Juni hinein und trafen immer wieder auch die Zivilbevölkerung. „Kollateralschäden“ nannte das NATO-Pressesprecher Jamie Shea. Die weithin als zynisch wahrgenommene Bezeichnung, die zuvor im Deutschen kaum geläufig war, wurde prompt zum Unwort des Jahres 1999 gekürt. Für Deutschland, das sich unter rot-grüner Führung an den Luftschlägen beteiligte, war der Krieg gegen Serbien und Montenegro der erste Kampfeinsatz seit Ende des Zweiten Weltkriegs.

Vorwurf des Völkermords

Dass der Krieg völkerrechtlich auf äußerst wackeligen Füßen stand, spielte in der Berichterstattung nahezu keine Rolle. Auch die zahlreichen Angriffe auf die zivile Infrastruktur, auf Brücken und Elektrizitätswerke, wurden kaum kritisch hinterfragt, solange der Einsatz lief. Hinterher konnte freilich wieder ausgiebig berichtet und diskutiert werden, ob die Begründung für die Luftschläge womöglich eine Lüge war. Zumindest mehrten sich die Zweifel an serbischen Massakern und dem sogenannten „Hufeisenplan“, der der NATO und vor allem deutschen Politikern dazu diente, die jugoslawische Regierung um Slobodan Milošević eines vorgeblich geplanten Völkermords an den Kosovo-Albanern zu bezichtigen.

Ein Mahnmal erinnert im Tasmajdan-Park in Belgrad an die serbischen Kinder, die zu Opfern der NATO-Luftangriffe wurden. „Wir waren bloß Kinder“, liest man auf der Skulptur. Die Figur eines kleines Mädchens soll Milica Rakić darstellen, die am 17. April 1999 als Dreijährige durch NATO-Streumunition getötet wurde. Eigentliches Ziel des Angriffs war wohl eine Militärbasis in rund einem Kilometer Entfernung. (Foto: Simon Legner/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das damalige Vorgehen der Medien wiederholte sich – für unvoreingenommene Betrachter noch deutlicher erkennbar – im Zusammenhang mit Corona. Erst seit die Pandemie faktisch beendet und in die endemische Phase eingetreten ist, häufen sich auch in den Leitmedien Berichte über die teils erschreckenden Nebenwirkungen oder die mangelnde Wirksamkeit der Corona-Impfung. Oder über die schädlichen Folgen der Corona-Maßnahmen etwa auf Psyche und Gesundheit von Kindern. Zuvor galten die verordneten Einschränkungen noch als unbedingt nötig, um ein Massensterben nicht nur der „vulnerablen Gruppen“ zu verhindern. Und die Impfung galt (und gilt großteils bis heute) als Allheilmittel gegen das Virus. Wer dagegen seine Stimme erhob, wurde schnell zum „Querdenker“ oder gar zum „Nazi“. Kurz: zum Außenseiter. Auch innerhalb der Familie.

Die Spaltung vertieft sich

Nun also der Krieg in der Ukraine. Wieder ist die Leit-Meinung der großen Medien nahezu flächendeckend die der Regierung. Wieder überbieten sich Politiker in immer neuen Forderungen und Anschuldigungen an die Adresse der Andersdenkenden. Und wieder vertieft sich die Spaltung der Gesellschaft, stehen abweichende Stimmen am Pranger. In der Öffentlichkeit und im Kreis der Familie. Wieder drohen Freundschaften zu zerbrechen. Und mancher, der in Bezug auf den Krieg vermeintliche Gewissheiten des Westens in Frage stellt, ist besser still. Selbst wenn er vielleicht sogar Verbindungen in die Ukraine oder den Donbass hat und die dortige Situation einigermaßen unzensiert mitbekommt.

Wer sein Augenmerk allein auf den 24. Februar und die Monate danach richtet, muss zum Schluss kommen, dass die alleinige Schuld an Krieg und Eskalation bei Russland liegt. Bei Wladimir Putin. Die Vorgeschichte der Invasion spielt dann dieselbe Rolle, die sie auch in den meisten deutschen Medien spielt: keine. Dann verwundert es auch nicht, dass jeder, der Russlands Kriegsschuld relativiert, als böser Propagandist des Kreml gilt. Wetten, dass objektive Formen der Berichterstattung und freiere Diskussionen wieder zunehmen, sobald der Krieg beendet ist? Dann dürfte auch das Sterben im Donbass seit 2014 wieder vermehrt zur Sprache kommen. Und der Druck, den die NATO über Jahre gegen Russland aufbaute.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

General: Noch nie solche Gleichschaltung erlebt

Polen will deutsche Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern und bringt die Bundesrepublik damit in Zugzwang. Denn Berlin müsste die Ausfuhr genehmigen. Bislang lehnt die Bundesregierung dies ab. Allerdings wurden zuletzt auch hierzulande die Forderungen lauter. FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann rief Kanzler Olaf Scholz auf, die Exportgenehmigung zu erteilen. „Der Kanzler sollte angesichts des Dramas in der Ukraine über seinen Schatten springen“, meint die FDP-Politikerin, die seit Monaten schwere Waffen für die Ukraine fordert. Auch die Lieferung von 40 Marder-Schützenpanzern deutet an, dass die Bundesregierung von ihrem Nein abrückt. Scharfe Kritik an derlei Waffenlieferungen kommt nun erneut von Ex-Brigadegeneral Erich Vad.

Prominenter Kritiker

„Das ist eine militärische Eskalation, auch in der Wahrnehmung der Russen“, sagt Vad in einem gestern veröffentlichten Interview mit der Zeitschrift Emma. Der Marder sei zwar keine Wunderwaffe. Mit der kürzlich genehmigten Lieferung der mehr als 40 Jahre alten Schützenpanzer begebe sich Deutschland aber auf eine Rutschbahn. „Das könnte eine Eigendynamik entwickeln, die wir nicht mehr steuern können.“ Vad war bis 2013 militärpolitischer Berater von Angela Merkel. Seit Monaten gehört er zu den prominentesten Kritikern der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Auch den Offenen Brief, den eine Reihe von Prominenten um die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer im April an Bundeskanzler Scholz geschrieben hat, hat Vad unterzeichnet. Mittlerweile unterstützen den Brief fast 500.000 Menschen. Für seine Haltung sieht sich der Ex-Militär teils heftiger Angriffe ausgesetzt.

Die deutschen Schützenpanzer vom Typ Marder sind mehr als vier Jahrzehnte alt. 40 von ihnen sollen an die Ukraine geliefert werden. (Foto: Sonaz/CC BY-SA 2.0 DE via Wikimedia Commons)

Vad sieht die Solidarität mit der Ukraine grundsätzlich als richtig an. „Natürlich ist Putins Überfall nicht völkerrechtskonform“, meint er. Es fehle der westlichen Politik aber eine klare Strategie. Was wollen NATO, USA, EU und Bundesrepublik also in der Ukraine erreichen? Lange hieß es insbesondere in Deutschland: Die Ukraine darf nicht verlieren. Immer häufiger hört man nun von Regierungsvertretern: Russland muss besiegt werden. „Wir haben eine militärisch operative Patt-Situation, die wir aber militärisch nicht lösen können“, sagt dazu der Ex-General. Das sei auch die Meinung des amerikanischen Generalstabschefs Mark Milley. „Er hat gesagt, dass ein militärischer Sieg der Ukraine nicht zu erwarten sei und dass Verhandlungen der einzig mögliche Weg seien. Alles andere bedeutet den sinnlosen Verschleiß von Menschenleben.“

Eine unbequeme Wahrheit

Mit ihrer Ablehnung der bedingungslosen Unterstützung der Ukraine kommen Vad und andere Kritiker in den großen deutschen Medien nahezu nicht vor. Auch die Äußerungen von US-Stabschef Milley fanden nicht statt, hat Vad festgestellt. „Das Interview mit Milley von CNN tauchte nirgendwo größer auf, dabei ist er der Generalstabschef unserer westlichen Führungsmacht.“ Die unbequeme Wahrheit, die Milley ausgesprochen habe, passe nicht zur medialen Meinungsbildung. „Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien, wie ich sie so in der Bundesrepublik noch nie erlebt habe“, kritisiert Vad. „Das ist pure Meinungsmache. Und zwar nicht im staatlichen Auftrag, wie es aus totalitären Regimen bekannt ist, sondern aus reiner Selbstermächtigung.“

Anton Hofreiter ist einer der grünen Wortführer, wenn es um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine geht. (Foto: Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

In der Bevölkerung habe die Lieferung schwerer Waffen längst keine Mehrheit mehr, sagt Vad. „Das alles wird jedoch nicht berichtet. Es gibt weitestgehend keinen fairen offenen Diskurs mehr zum Ukraine-Krieg, und das finde ich sehr verstörend.“ Vor allem die Grünen kritisiert Vad scharf. „Die Mutation der Grünen von einer pazifistischen zu einer Kriegspartei verstehe ich nicht. Ich selbst kenne keinen Grünen, der überhaupt auch nur den Militärdienst geleistet hätte. Anton Hofreiter ist für mich das beste Beispiel dieser Doppelmoral.“ Dass Deutschland mit Annalena Baerbock „endlich mal eine Außenministerin“ hat, freue ihn. „Aber es reicht nicht, nur Kriegsrhetorik zu betreiben und mit Helm und Splitterschutzweste in Kiew oder im Donbass herumzulaufen. Das ist zu wenig.“

Eine Strategie, die nicht funktioniert

In der Ukraine werde ein Abnutzungskrieg geführt, analysiert Vad. „Und zwar einer mit mittlerweile annähernd 200.000 gefallenen und verwundeten Soldaten auf beiden Seiten, mit 50.000 Ziviltoten und mit Millionen von Flüchtlingen.“ Dem US-Stabschef drängte sich da der Vergleich zum Ersten Weltkrieg auf. Allein die „Blutmühle von Verdun“ habe „zum Tod von fast einer Million junger Franzosen und Deutscher geführt“, erinnert Vad. „Sie sind damals für nichts gefallen. Das Verweigern der Kriegsparteien von Verhandlungen hat also zu Millionen zusätzlicher Toter geführt. Diese Strategie hat damals militärisch nicht funktioniert – und wird das auch heute nicht tun.“

Um zu einer Lösung der Krise zu kommen, meint Vad, sollte man die Menschen in der Region, also im Donbass und auf der Krim, einfach fragen, zu wem sie gehören wollen. „Man müsste die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen, mit bestimmten westlichen Garantien. Und die Russen brauchen so eine Sicherheitsgarantie eben auch. Also keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine. Seit dem Gipfel von Bukarest von 2008 ist klar, dass das die rote Linie der Russen ist.“

Thomas Wolf

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„Mainstream“ berichtet nicht ausgewogen

Wer in den vergangenen drei Jahren mit aufmerksamem Blick die deutsche Medienlandschaft beobachtete, der kann sich eines bestimmten Eindrucks nicht erwehren. Die einstige Vielfalt ist weitgehend passé. Ob linke taz, Spiegel, öffentlich-rechtlicher Rundfunk oder (einst) konservative FAZ: In Sachen Corona unterschied sich die Berichterstattung kaum. Das Virus galt durch die Bank als Todesbringer, die Impfung mit Vektor- und kaum getesteten mRNA-Wirkstoffen als Allheilmittel. Erst seit kurzer Zeit werden die mangelhafte Schutzwirkung der Impfung und die Probleme, die sie verursacht, thematisiert. Mit Abstrichen gilt die mediale Einheitlichkeit auch für die Flüchtlingskrise 2015. Eine Analyse der Uni Mainz und der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung hat dies nun erstmals auch für die Berichterstattung zum Ukraine-Krieg bestätigt.

Acht Leitmedien untersucht

Ein Forscherteam der Johannes-Gutenberg-Universität um den Kommunikationswissenschaftler Marcus Maurer hat sich rund 4300 Beiträge mit Kriegsbezug aus den ersten drei Monaten seit der russischen Invasion angesehen und daraus Schlüsse gezogen. Die untersuchten Beiträge erschienen in der ARD-Tagesschau, der Heute-Sendung des ZDF, bei „RTL Aktuell“ sowie in den Zeitungen und Nachrichten-Magazinen FAZ, Bild, Süddeutsche Zeitung, Zeit und Spiegel. Allesamt also Leitmedien, der mediale „Mainstream“ der Bundesrepublik. Von ausgewogener Berichterstattung kann der Untersuchung „Die Qualität der Medienberichterstattung über den Ukraine-Krieg“ zufolge kaum die Rede sein.

Solidarität mit der Ukraine prägt die Berichterstattung der deutschen Leitmedien – bis hin zur Forderung, schwere Waffen zu liefern. Kritische Positionen zur Rolle Kiews oder des Westens in dem Konflikt finden sich kaum. (Foto: Zach Rudisin/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

„Während die Ukraine und Präsident Selenskyj in der Berichterstattung weit überwiegend positiv bewertet wurden, wurden Russland und Präsident Putin fast ausschließlich negativ bewertet.“ So lautet ein zentrales Fazit des kürzlich vorgelegten Forschungsberichts. „Noch positiver als die Ukraine wurde nur Außenministerin Baerbock bewertet.“ Ein klares Indiz also für grünenfreundliche Berichterstattung. „Bei Kanzler Scholz und der Bundesregierung insgesamt überwogen negative Bewertungen. Die Bewertung von Scholz schwankte darüber hinaus im Zeitverlauf stark mit überwiegend positiver Berichterstattung zu Beginn und einem Tiefpunkt Mitte April während der Diskussionen um Waffenlieferungen und einen möglichen Scholz-Besuch in Kiew.“

AfD und Linke nahezu ohne Medienpräsenz

Zur positiven Darstellung der Grünen gesellt sich die Tatsache, dass die Opposition deutlich seltener zu Wort kam als die Regierung. „Von den Berichten über deutsche Parteien und ihre Politiker entfielen fast die Hälfte (48%) auf die SPD. Wesentlich seltener kamen die Grünen und ihre Politiker in den Berichten vor (23%). Die CDU/CSU (17%) als größte Oppositionspartei kam zumindest noch häufiger vor als die FDP. Linkspartei und AfD hatten in der Kriegsberichterstattung praktisch keine Medienpräsenz. Vergleicht man die Medienpräsenz von Regierungs- und Oppositionsparteien insgesamt, kam die Regierung auf etwa 80% und somit auf eine mehr als viermal höhere Medienpräsenz als die Opposition.“

Als Verursacher des Kriegs stellten die von den Wissenschaftlern untersuchten Medien fast ausnahmslos Russland und seinen Präsidenten Wladimir Putin dar. „Eine (Mit-)Verantwortung durch die Ukraine“ oder westliche Akteure wie NATO und Vereinigte Staaten „thematisierten sie zwar auch, aber relativ selten“. Für mehr als 90 Prozent der Beiträge war damit allein Russland Schuld an der Eskalation. In gerade einmal vier Prozent wurde dem Westen eine Mitverantwortung zugeschrieben. Die Ukraine mit nur zwei Prozent sogar noch seltener.

Russlands Präsident Wladimir Putin: Er gilt den deutschen Leitmedien nahezu durch die Bank als alleiniger Verantwortlicher für den Krieg. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Bei den Überlegungen zur Beendigung des Kriegs nehmen in den untersuchten Medien militärische Mittel den größten Raum ein. Sowohl eine allgemeine militärische Unterstützung als auch die Lieferung schwerer Waffen werden meist als „sinnvoll“ bewertet.„Unsere Analysen zeigen, dass die Lieferung schwerer Waffen von allen untersuchten Medien mit Ausnahme des Spiegel deutlich überwiegend befürwortet wurde“, liest man in dem Bericht. „Im Spiegel dagegen hielten sich ablehnende und befürwortende Beiträge in etwa die Waage.“ Auch Wirtschaftssanktionen gelten den Leitmedien als adäquates Mittel. Selbst wenn sie Deutschland womöglich mehr schaden als Russland.

Einen Konsens unterstellt

Ein anderes Team unter Leitung von Professor Maurer hatte 2021 bereits anhand von elf Leitmedien die Berichterstattung zur Corona-Pandemie untersucht. Auch dabei fiel die Beurteilung kritisch aus. „Die Medien haben insgesamt überwiegend sachlich über die Pandemie berichtet“, heißt es zwar im Abschlussbericht. Allerdings haben die Beiträge „in Bezug auf die medizinischen Aspekte der Pandemie überwiegend einen Konsens in der Wissenschaft unterstellt“. Einen Konsens also, der offenbar gar nicht bestand. Und mehr noch: „Die Unsicherheit von wissenschaftlichen Prognosen wurde oft nicht vermittelt.“

Die umstrittenen Corona-Maßnahmen „wurden in den meisten Medien als angemessen oder sogar als nicht weitreichend genug bewertet. Dass die Maßnahmen zu weit gingen, war in den Medien eher eine Minderheitenposition, die allerdings quantitativ durchaus ins Gewicht fiel.“ Als „Leitwert“ habe das Streben nach Sicherheit über allem gestanden. Auch und gerade über der Freiheit.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Der Papst und der Krieg in der Ukraine

Der russische Botschafter beim Vatikan, Alexander Awdejew, hat Aussagen von Papst Franziskus zum Krieg in der Ukraine empört zurückgewiesen. Das Kirchenoberhaupt hatte zuvor in einem Interview mit dem Magazin „America“ des US-Zweigs der Jesuiten scharfe Kritik an der russischen Kriegführung geäußert und die Invasion vom 24. Februar als „Aggression“ verurteilt. Vor allem tschetschenische und burjatische Soldaten hätten sich als besonders „grausam“ hervorgetan, meint der Papst. Zuletzt war Franziskus in seiner Bewertung des Konflikts immer deutlicher geworden – und kritischer gegenüber Russland. Seine anfangs noch abwägende Haltung hatte ihm den Vorwurf eingebracht, „pro Putin“ zu sein.

Zum Angriff provoziert?

Durch den russischen Einmarsch am 24. Februar eskalierte der jahrelange Bürgerkrieg im Donbass endgültig. Der Papst äußerte mehrfach die Vermutung, das „Bellen der NATO vor Russlands Toren“ könnte Wladimir Putin zum Angriff provoziert haben. Dies löste in der Ukraine und in ihren westlichen Partnerländern heftigen Widerspruch aus. „Der Papst geht dabei ganz offensichtlich von dem seit 2008 auf höchsten diplomatischen Ebenen diskutierten Beitritt der Ukraine zur NATO aus“, analysiert der Münchner Politologe Günther Auth die damalige Aussage des Kirchenoberhaupts. Auth ist Experte für internationale Beziehungen und lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität.

Papst Franziskus bei seinem Besuch in Kasachstan im September. Seine (Foto: Yakov Fedorov/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

„Die forcierte Ausweitung des Bündnisgebiets bis unmittelbar an die Grenze Russlands ignoriert die regelmäßig artikulierten Sicherheitsinteressen Russlands, da in jedem NATO-Mitgliedstaat militärische Anlagen zur Informationsgewinnung und offensiven Kriegführung aufgebaut werden können“, betont Auth. Ein NATO-Beitritt der Ukraine hätte zudem vor 2014 Fragen über die Zukunft des von Russland genutzten Militärhafens in Sewastopol auf der damals noch ukrainischen Krim aufgeworfen. Dieser habe nämlich „eine enorme strategische Bedeutung als Warmwasserhafen“. Auf der anderen Seite kann Auth bei der US-Regierung seit der „einseitigen Kündigung des ABM-Vertrages“ 2002 keine Bereitschaft mehr erkennen, mit Russland über verbindliche Maßnahmen zur Rüstungsbegrenzung, Abrüstung oder Vertrauensbildung zu verhandeln.

Wer auf diese Fakten hinweist, steht nicht automatisch auf russischer Seite. Auch nicht, wer die teils rücksichtslose Kriegführung der Ukraine im Donbass seit 2014 nicht verschweigt. Auch Günther Auth nicht, der den Einmarsch vom 24. Februar durchaus als völkerrechtswidrig einstuft. Und Papst Franziskus schon mal gar nicht. „Pro Putin“ war er nie. Allerdings warnte er davor, den Ukraine-Krieg auf einen Konflikt zwischen Gut und Böse zu reduzieren. Dies berge die Gefahr, dass man das „ganze Drama“ übersehe, sagte der Papst Mitte Mai in einem Interview mit mehreren Jesuiten-Zeitschriften. Ein Drama, „das sich hinter diesem Krieg abspielt, der vielleicht in gewisser Weise entweder provoziert oder nicht verhindert wurde“.

Das „Rotkäppchen“-Schema

Die Weltgemeinschaft möge sich vom „Rotkäppchen“-Schema lösen, forderte Franziskus bei dem Gespräch. Darunter versteht er eine klassische Schwarz-Weiß-Sicht: „Rotkäppchen war gut, und der Wolf war der Bösewicht.“ Eine solche Schwarz-Weiß-Malerei passt laut Papst also nicht auf den Ukraine-Krieg. Zumindest sah er das vor rund einem halben Jahr so. Westliche Politiker hielt diese Mahnung des Oberhaupts von rund 1,3 Milliarden Katholiken nie davon ab, die russische Invasion als etwas abgrundtief Böses zu verurteilen. Und in letzter Konsequenz auch Russland und die russische Kultur zu verdammen. Was liegt da näher, als Putin zum personifizierten Bösen zu erklären, zum Teufel?

Russlands Präsident Wladimir Putin besucht Papst Franziskus im Juli 2019 im Vatikan. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Zuletzt hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sich keinerlei Zurückhaltung auferlegt. Mit der Bombardierung der Infrastruktur in der Ukraine habe Russland erneut Kriegsverbrechen begangen, sagte Baerbock gestern. „Wir erleben auf brutale Art und Weise, dass der russische Präsident jetzt Kälte als Kriegswaffe einsetzt, ein brutaler Bruch nicht nur mit dem Völkerrecht, sondern mit unserer Zivilisation“, meint Baerbock. „Zivilisationsbruch“ – dabei denkt man hierzulande meist an Auschwitz und den Holocaust. Eine bewusste Provokation? Die gezielten Angriffe der NATO auf die zivile Infrastruktur in Jugoslawien 1999 jedenfalls haben nicht ansatzweise eine solche Kritik hervorgerufen.

Der Vatikan als Vermittler

So weit wie die deutsche Außenministerin geht Papst Franziskus nicht. Trotzdem wird seine Kritik am russischen Vorgehen lauter. Immer mehr nähert er sich darin Positionen der westlichen Politik an. Zunächst vermied er es noch, die einmarschierenden russischen Truppen beim Namen zu nennen. Jetzt geht die „Aggression“ für Franziskus klar von Russland aus. Vom „Bellen der NATO“ ist längst keine Rede mehr. Trotzdem bringt der Papst den Vatikan nach wie vor als Vermittler in Stellung. Das Angebot, eine entsprechende Plattform für Gespräche zwischen Russland und der Ukraine zur Verfügung zu stellen, begrüßte der Kreml Anfang der Woche zwar. Aber: „In der aktuellen De-facto- und De-jure-Situation kann die Ukraine solche Plattformen nicht akzeptieren“ betonte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Waffenhilfe statt Lebensschutz?

Die Kirche hat ein Problem. Der Krieg in der Ukraine bringt die katholischen und evangelischen Christen in Deutschland ebenso in ein ethisch-moralisches Dilemma wie die Gesellschaft insgesamt. Soll die Bundesrepublik Waffen an Kiew liefern? Befürworter argumentieren, der militärische Beistand sei nötig, ja sogar Pflicht, um die Ukraine in ihrer Selbstverteidigung gegen einen ansonsten womöglich übermächtigen Feind zu unterstützen. Zugleich ziehen westliche Waffenlieferungen den Krieg in die Länge – und damit das Leiden und Sterben der Zivilbevölkerung. Ist es also zugespitzt formuliert gerechtfertigt, für die Sicherung oder Rückgewinnung ukrainischen Territoriums unzählige Menschenleben zu opfern?

Kein „Heiliger Krieg“

Für die Kirchen gehört der Schutz des Lebens zu den zentralen Aussagen der christlichen Botschaft. Von der Lehre eines „Heiligen Krieges“ hat sich die Theologie längst verabschiedet. Stattdessen steht die Forderung nach Frieden und Versöhnung im Zentrum der kirchlichen Lehre. Papst Franziskus hat das gerade erst wieder bei seinem Besuch im muslimischen Insel-Königreich Bahrain deutlich gemacht. Es gelte, sagte das Kirchenoberhaupt, „die Spirale der Rache zu durchbrechen, die Gewalt zu entwaffnen, das Herz zu entmilitarisieren“. Den russischen Einmarsch in der Ukraine hat der Papst stets klar verurteilt. Doch betont er seit Monaten die Notwendigkeit des friedlichen Dialogs der Kriegsparteien. Das hat ihm sogar den Vorwurf eingebracht, er sei „pro Putin“.

Papst Franziskus bei seinem Besuch in Kasachstan im September. Kritiker werfen dem katholischen Kirchenoberhaupt vor, er sei „pro Putin“. (Foto: Yakov Fedorov/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Die kirchliche Diskussion hierzulande sieht anders aus. Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und damit oberste Repräsentantin der Protestanten, Annette Kurschus, äußerte auf der jüngsten Sitzung des Kirchenparlaments, der Synode, Verständnis für westliche Waffenlieferungen. „Waffen helfen, sich zu wehren und zu verteidigen, sie können Leben retten. Das ist sehr viel.“ Zugleich schränkte Kurschus ein und machte damit das Dilemma deutlich: „Waffen allein schaffen aber keinen Frieden.“ Ergänzend müsse dringend der Weg für einen Waffenstillstand gesucht werden.

„Terrorartiges Morden“

Der Berliner evangelische Bischof Christian Stäblein sieht dieses Dilemma offenbar weniger. Er betonte im Oktober im RBB-Hörfunk, die Ukraine müsse unterstützt werden. Es sei „nicht richtig, zuzuschauen, wie Menschen einem terrorartigen Morden durch Raketen ausgesetzt werden“, sagte der Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Er bezog sich damit auf die Zunahme russischer Luftschläge gegen ukrainische Städte nach dem Sprengstoff-Anschlag auf die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch. Wo Unrecht geschehe, ob in der Ukraine, ob im Iran oder in den eigenen Reihen, begründete Stäblein, seien Haltung und Einmischung gefragt.

Der Landesbischof von Mitteldeutschland, Friedrich Kramer, predigt im Magdeburger Dom. Waffenlieferungen an die Ukraine lehnt der Friedensbeauftragte der EKD ab. (Foto: JWBE/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Während also Kurschus und Stäblein Waffenlieferungen begrüßen, zeigt Friedrich Kramer, wie uneins die Evangelische Kirche in der Frage ist. Der Friedensbeauftragte der EKD machte zum Auftakt der Synoden-Tagung seine ablehnende Haltung deutlich. „Müssen wir nicht um der Gerechtigkeit und Nächstenliebe willen helfen? Das ist klar“, sagte der Landesbischof von Mitteldeutschland beim Eröffnungsgottesdienst der Synode im Magdeburger Dom. „Aber auch mit Waffen? Ich sage Nein.“ Statt Milliarden für die Rüstung auszugeben, soll die Gesellschaft nach Kramers Ansicht ihr Augenmerk auf die Bedürfnisse der Armen und Schwachen richten. „Mit der Hälfte allein der deutschen Rüstungsausgaben ließe sich der stark gestiegene Hunger in der Welt eindämmen.“

Waffenlieferungen „grundsätzlich legitim“

Unser Portal fragte die Pressestellen der 27 katholischen Bistümer und Erzbistümer in Deutschland, wie die katholische Kirche zu Waffenlieferungen an die Ukraine steht. Nur eine Minderheit antwortete. Die meisten Rückmeldungen verweisen auf eine Erklärung, die die Deutsche Bischofskonferenz im März auf ihrer Frühjahrs-Vollversammlung in Vierzehnheiligen verabschiedet hat. „Rüstungslieferungen an die Ukraine, die dazu dienen, dass das angegriffene Land sein völkerrechtlich verbrieftes und auch von der kirchlichen Friedensethik bejahtes Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen kann, halten wir deshalb für grundsätzlich legitim“, heißt es darin. „Es ist denjenigen, die die Entscheidung zu treffen haben, aber aufgetragen, präzise zu bedenken, was sie damit aus- und möglicherweise auch anrichten.“

Die Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz fand im März im oberfränkischen Vierzehnheiligen statt. Hier verabschiedeten die katholischen Bischöfe die Ukraine-Erklärung „Der Aggression widerstehen, den Frieden gewinnen, die Opfer unterstützen“. (Foto: Schubbay/Derivative work MagentaGreen/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)
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Kommentar

Das Wohl des Volkes kümmert wenig

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sieht „raue Jahre“ auf Deutschland zukommen. In einer Rede an die Nation stimmte der Hausherr von Schloss Bellevue die Menschen im Land heute auf einen beispiellosen Verlust von Wohlstand und Sicherheit ein. Deutschland befinde sich in der tiefsten Krise seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990. Damit liegt Steinmeier gewiss nicht falsch. Aber er untertreibt noch: Betrachtet man die Höhe der Inflation, so stellt die gegenwärtige Krise, an der die westlichen Sanktionen gegen Russland einen gewaltigen Anteil haben, die größte seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Und ein Ende ist nicht absehbar. Das betont auch der Bundespräsident, wenn er sagt, dass es auch nach diesem Winter „kein einfaches Zurück“ geben werde.

Ein „Epochenbruch“

Den russischen Einmarsch in der Ukraine am 24. Februar nennt Steinmeier einen „Epochenbruch“. Dass ausgerechnet der frühere Bundesaußenminister, der federführend am Minsker Friedensprozess beteiligt war, die Vorgeschichte der Invasion völlig außer Acht lässt, spricht Bände. Steinmeier durfte lange nicht nach Kiew reisen und musste sich vom früheren ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk mehrfach anhören, er sei in der Vergangenheit zu sehr auf russischer Seite gestanden. Der Vorwurf ist angesichts der teils harschen westlichen Kritik am Kreml zwar absurd, in Zeiten wie diesen aber wirkungsvoll. Steinmeier sah sich offenbar gezwungen, den Makel einer (nur vermeintlichen) Nähe zu Moskau abzuwischen. Das ist ihm mit seiner Rede gelungen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei einem Besuch bei Wladimir Putin 2017. Kritiker unterstellen Steinmeier eine Nähe zum Kreml, die zumindest fragwürdig ist. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Der Bundespräsident hat heute aber noch etwas deutlich gemacht: Wohl und Wehe des deutschen Volkes, das er eigentlich als überparteiliches Staatsoberhaupt vertreten sollte, kümmern ihn wenig. Stattdessen gelobt er der Ukraine weiterhin bedingungslos Unterstützung – und lehnt einen schnellen Frieden mit Russland ab. Was kümmert es, wenn deutsche Haushalte bald ihre Energiekosten nicht mehr stemmen können? Hauptsache, der milliardenschwere Wiederaufbau der Ukraine ist in trockenen Tüchern! Steinmeier setzt damit die Politik der Ampel-Koalition mit anderen Mitteln fort, statt ihr im Interesse der Bundesbürger wortgewaltig Einhalt zu gebieten. Er offenbart sich damit als verlängerter Arm des Kanzleramts: als Ampel-Mann von Bellevue.

Achtjähriger Bürgerkrieg

Aus Sicht der Regierung und ihrer Unterstützer in Gesellschaft und Medien mögen die Sanktionen gegen Russland verständlich sein. Die russischen Angriffe auf die Ukraine, die zivilen Opfer, die möglichen Kriegsverbrechen zu verurteilen, ist nachvollziehbar. Auch für denjenigen, der die „spezielle Militäroperation“ des Kreml nur als verzweifelten Versuch sieht, einen achtjährigen Bürgerkrieg im Osten der Ukraine zu beenden, dem rund 15.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Aber: Jedes Verständnis endet dort, wo das eigene Volk unter den Einschränkungen mehr leidet als der Adressat der Sanktionen.

Dabei müsste all dies nicht sein. Deutschland war historisch – von unrühmlichen Ausnahmen abgesehen – stets bemüht, für einen Ausgleich mit Russland zu sorgen. Michail Gorbatschow sah sein Land als Teil des „gemeinsamen Hauses Europa“. Und Wladimir Putin träumte zu Beginn seiner Amtszeit sogar von einer NATO-Mitgliedschaft der Russischen Föderation. Der Westen aber wollte nicht – allen voran die USA. Die Vereinigten Staaten forcierten stattdessen eine „geopolitische Isolierung Russlands“ bis hin zu einer „Dämonisierung“, betont der Münchner Politologe Günther Auth, Experte für internationale Beziehungen.

Schloss Bellevue, der Berliner Amtssitz des Bundespräsidenten. Als Staatsoberhaupt soll er politisch neutral und überparteilich wirken. (Foto: A. Savin/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

So geriet Deutschland zwischen die Fronten eines globalen Konflikts, der seit dem 24. Februar immer offener zu Tage tritt. Weil es der Bundesrepublik als Teil der EU und der NATO seit jeher an nationalem Selbstbewusstsein mangelt, sieht man im politischen Berlin zwar die Interessen der Ukraine und der Amerikaner und würdigt das Sicherheitsbedürfnis Polens und der baltischen Staaten, die sich von Russland bedroht fühlen. Die Interessen des eigenen Volkes aber sieht man nicht – weder im Kanzleramt noch im Schloss Bellevue. Auch das Interesse, das die USA etwa an einer Störung der russischen Energielieferungen nach Mitteleuropa haben, will man nicht sehen.

Versorgungssicherheit nicht gewollt?

Wochen nach den Sabotage-Angriffen auf die beiden Ostsee-Pipelines Nord Stream 1 und 2 zeichnet sich nicht nur immer deutlicher ab, dass die Zerstörungen kaum ohne das Wissen und die Zustimmung Washingtons hätten vonstatten gehen können. Nach Ansicht des russischen Staatskonzerns Gazprom steht ebenso fest, dass einer der beiden Stränge von Nord Stream 2 unbeschädigt ist. Eine Erdgas-Lieferung dürfte sich also technisch ziemlich einfach realisieren lassen. Obwohl das die Versorgungssicherheit wiederherstellen würde, blockt die Bundesregierung ab. Eine Verfügbarkeit sei „aktuell nicht gegeben“, heißt es aus Berlin. Bevor man den Russen Recht gibt, lässt man die Bürger lieber frieren.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Warum „Regime von Kiew“?

Immer wieder spricht Wladimir Putin, sprechen die russischen Behörden vom „Kiewer Regime“ oder „Regime von Kiew“. So auch jüngst wieder, als Putin nach dem Sprengstoffanschlag auf die Krim-Brücke über die Straße von Kertsch eine härtere Gangart gegenüber der Ukraine ankündigte. „Regime“: Das klingt herabwürdigend – und soll wohl auch so klingen. In Kiew sitzt demnach eine Regierung mit fragwürdiger Legitimation. Zumindest für Russland. Verbirgt sich dahinter mehr als die propagandistische Rhetorik eines verfeindeten Landes?

Die Brücke über die Straße von Kertsch hat strategische Bedeutung für die Versorgung der Krim-Halbinsel. Ein Anschlag, der mutmaßlich vom ukrainischen Geheimdienst verübt wurde, beschädigte das Bauwerk vor einigen Tagen. (Foto: Rosavtodor.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Zunächst eine Begriffsbestimmung: Regime kommt aus dem Französischen und bedeutet schlicht so viel wie „Regierungsform“. Das Wort ist in seinem Ursprung also nicht negativ konnotiert. In diesem Sinne gebraucht bis heute auch die Politikwissenschaft den Begriff. Wer dagegen landläufig von einem Regime spricht, meint damit in aller Regel eine irreguläre Herrschaft. So auch Putin. Für ihn sitzt in Kiew eine illegitime Regierung – eben ein „Regime“. Wie für die USA einst im Irak das „Saddam-Regime“ oder für die NATO-Staaten das „Milošević-Regime“ in Jugoslawien.

Für den Westen dagegen ist Wolodymyr Selenskyj der legitime, demokratisch gewählte Präsident der Ukraine. Was also veranlasst Wladimir Putin, Selenskyj die Legitimität abzusprechen? Will er seinen Kriegsgegner einfach nur diskreditieren? Ihn verbal auf eine Ebene mit dem früheren irakischen Diktator Saddam Hussein stellen? Oder ist das russische Gerede vom „Kiewer Regime“ die Fortsetzung des vom Kreml ausgegebenen Ziels der „Entnazifizierung“ der Ukraine mit anderen Mitteln?

Keine reine Propaganda

Bei genauerer Betrachtung ist das „Regime von Kiew“ keine reine Kreml-Propaganda. Oder anders gesagt: Der propagandistische Gebrauch des Ausdrucks „Regime“ für die ukrainische Regierung durch Moskau bedeutet nicht, dass derlei Titulatur jegliche Berechtigung fehlen würde. Die Spurensuche führt fast ein Jahrzehnt zurück: in die Jahre 2013 und 2014. Präsident der Ukraine war damals Wiktor Janukowytsch, der westlichen Medien als prorussisch galt, in mehrerlei Hinsicht aber für einen Ausgleich zwischen Ost und West stand.

Bei der Wahl des Staatsoberhaupts 2010 hatte sich Janukowytsch, der aus dem großteils russischsprachigen Osten der Ukraine stammt, gegen die vom Westen unterstützte Julija Tymoschenko durchgesetzt. Anders als unter seinem russlandkritischen Amtsvorgänger Wiktor Juschtschenko näherte sich die Ukraine unter Janukowytschs Ägide wieder dem Kreml an. Freilich ohne die guten Kontakte zum Westen aufzugeben. Die Ukraine, betonte Janukowytsch, wolle eine „Brücke zwischen Russland und der EU“ sein.

Unterzeichnung ausgesetzt

Im November 2013 setzte die ukrainische Regierung die Unterzeichnung eines geplanten Assoziierungsabkommens mit der Europäischen Union aus, das Janukowytsch stets unterstützt hatte. Die Verhandlungsführung der EU hatte den Ukrainern offenbar Grund zu der Annahme geliefert, sie müssten sich zwischen den beiden Wirtschaftspartnern EU und Russland entscheiden. Das aber wollte Janukowytsch nicht. Ihm schwebte eine neutrale Ukraine auf halbem Weg zwischen Brüssel und Moskau vor.

Die Proteste auf dem Maidan zogen Zigtausende an. Ziel war der Sturz der Regierung Janukowytsch. (Foto: Nessa Gnatoush/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Die prowestliche Opposition wiederum wertete die vorläufige Absage an das Assoziierungsabkommen als Absage an Europa und Rückkehr in die Arme des Kreml. In kurzer Zeit organisierten Tymoschenkos „Allukrainische Vereinigung Vaterland“, die Ukrainische demokratische Allianz für Reformen (UDAR) des Ex-Profiboxers Vitali Klitschko und die weit rechts stehende nationalistische Swoboda Massendemonstrationen auf dem zentralen Kiewer Maidan-Platz. Auch der Rechte Sektor, eine militante rechtsextreme Schlägertruppe, war prominent an den Protesten beteiligt.

Dollars für die Revolution

Zum zweiten Mal innerhalb von zehn Jahren richteten sich Massendemonstrationen gegen die gewählte Regierung der Ukraine. Bereits 2004 war der Maidan Schauplatz gewaltiger Proteste. Janukowytsch, bis dato Ministerpräsident der Ukraine, war offiziellen Angaben zufolge zum Präsidenten gewählt. Sein unterlegener Kontrahent Wiktor Juschtschenko akzeptierte seine Niederlage nicht und sprach von Wahlbetrug. Nach wochenlangen Protesten erklärte das Oberste Gericht die Wahl für ungültig und ordnete ihre Wiederholung an. Dabei erhielt Juschtschenko die meisten Stimmen. Aus den USA sollen mehr als 60 Millionen Dollar zur Unterstützung jener „Orangenen Revolution“ geflossen sein.

2004, bei der „Orangenen Revolution“, blieben die Proteste gegen die gewählte Regierung friedlich. Zehn Jahre eskalierte die Gewalt. (Foto: jf1234/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Anders als zehn Jahre zuvor eskalierten die Proteste 2014. Gewalt durch Sicherheitskräfte und Demonstranten wechselte sich ab. Während etwa die Bundesregierung nach Einschätzung des Münchner Politologen Günther Auth anfangs noch um eine Vermittlung zwischen Janukowytsch und der Opposition bemüht war, ergriffen andere westliche Staaten klar Partei. „Neokonservative Regierungsnetzwerke der USA hatten im Verbund mit den Spitzen der NATO und den Regierungen Polens und Litauens schon lange vor Beginn der Proteste ukrainische Nationalisten zu einer militanten Opposition gegen die prorussische Regierung Janukowytsch aufgebaut“, ist Auth überzeugt.

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Im Blickpunkt

Die Grünen bitten zur Kasse

Darf der Staat eine Sonderabgabe erheben, um die finanziellen Belastungen zu schultern, die durch Klimaschutzmaßnahmen und den Ukraine-Krieg entstehen? Im Prinzip ja, meint der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags. Er sollte sich auf Antrag der grünen Bundestags­vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt mit der Frage nach einer einmaligen Vermögensabgabe befassen. Das Gutachten liegt dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) vor.

Katrin Göring-Eckardt, grüne Vizepräsidentin des Bundestags, ließ prüfen, ob eine einmalige Vermögensabgabe verfassungsrechtlich möglich ist. (Foto: © Raimond Spekking/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

„Wir haben eine Notsituation“, sagt Göring-Eckardt, „nicht wegen einer, sondern gleich mehrerer Krisen. Mit einer Pandemie, die zum steten Begleiter wird, mit dem brutalen russischen Krieg gegen die Ukraine und zunehmenden Angriffen auf unsere kritische Infrastruktur. Mit explodierenden Gaspreisen, steigender Inflation und einer Klimakrise, die mit Waldbränden, Artenaussterben und Überflutungen immer drastischer unseren Alltag bestimmt. Alle Krisen verschärfen die soziale Unwucht.“

„Etwas abgeben“

Von den Krisen, die Göring-Eckardt ausgemacht hat, seien rund 40 Prozent der Menschen existenziell betroffen. Reiche dagegen „können Belastungen ausgleichen und haben zudem ausreichend Möglichkeiten zu helfen, die Krisenfolgen gerechter zu verteilen“. Deshalb sollten „Menschen mit sehr hohen Vermögen etwas abgeben“. Diese Auffassung hat der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags nun also im Prinzip bestätigt.

Das Bundes­verfassungs­gericht habe die Frage zwar nicht geklärt, zitiert RND aus dem Bundestags-Gutachten, und „große Teile des Schrifttums“ würden „eine deutlich strengere Auffassung vertreten“. Doch: „Auf der Grundlage dieser Auslegung können auch die Folgelasten der Klimakrise oder des Krieges gegen die Ukraine nach der Einschätzung des Gesetzgebers ein tauglicher Anlass für die einmalige Erhebung einer Vermögens­abgabe sein.“

Emilia Fester will die Vermögensabgabe. (Foto: Grüne im Bundestag/S. Kaminski)

Emilia Fester, mit 24 Jahren jüngste Bundestagsabgeordnete der Grünen und mehrfach mit kuriosen Aussagen und Aktionen ins Gerede gekommen, freut sich: Jetzt sei die Zeit für eine einmalige Abgabe gekommen. Gemeinsam mit ihren Fraktionskollegen Göring-Eckardt, Andreas Audretsch und Till Steffen will Fester auf dem am Freitag beginnenden Grünen-Parteitag einen entsprechenden Antrag einbringen. Wo genau für die Grünen die Grenze von Wohlstand und Reichtum liegen sollen, ab welchem Einkommen oder Vermögen Fester und Co. also zur Kasse bitten wollen, ist noch unklar.

Medienunternehmen der SPD

Das Redaktionsnetzwerk Deutschland ist die überregionale Redaktion der Verlagsgesellschaft Madsack GmbH & Co. KG in Hannover. Zu ihr gehören 19 Tageszeitungen in ganz Deutschland. Die Auflage aller Titel, an denen Madsack Mehrheitsbeteiligungen hält, lag 2021 bei rund 725.000 Exemplaren. Größte Kommanditistin von Madsack ist mit einem Anteil von 23,1 Prozent die Deutsche Druck- und Verlagsgesellschaft, das Medienunternehmen der SPD.

Thomas Wolf