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Kommentar

Wo Kretschmer Recht hat, hat er Recht

Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) stand auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie an vorderster Linie derer, denen Mindestabstand, Maskenpflicht oder Impfkampagne nicht weit genug gehen konnten. Eine allgemeine Impfpflicht hatte er zuvor noch kategorisch ausgeschlossen – dann konnte sie gar nicht schnell genug kommen. Kurz: Kretschmer war fest eingereiht in die mediale und politische Einheitsfront, deren Lösung für die Krise in immer neuen Beschränkungen der persönlichen Freiheit lag.

Unabsehbare Folgen der Sanktionspolitik

Ganz anders im Ukraine-Konflikt. Hier ist der Sachse Kretschmer einer der wenigen hochrangigen Politiker, die aus der Phalanx der nahezu kritiklosen Unterstützung des westlichen Anti-Russland-Kurses ausscheren. Schon mehrfach warnte er vor den unabsehbaren Folgen der aktuellen Sanktions- und Energiepolitik der Bundesregierung. Der Krieg in der Ukraine müsse „eingefroren“ und auf dem Verhandlungsweg beendet werden, fordert der 47-Jährige. Auch gestern wieder im ZDF-Talk mit Markus Lanz.

Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer will den Ukraine-Krieg auf dem Verhandlungsweg beenden. Unter den hochrangigen Politikern seiner Partei steht der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende damit ziemlich allein da. (Foto: Sandro Halank/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

„Wir müssen endlich zugeben, dass wir in den nächsten fünf Jahren nicht auf russisches Gas verzichten können“, sagt Kretschmer. „Und wenn das so ist, dann müssen wir endlich die richtigen Konsequenzen ziehen.“ Die politische Debatte über Sinn und Unsinn der Sanktionen müsse breiter geführt werden. „Wenn man jeden Konflikt zum Eigenen macht“, fügt Kretschmer völlig zutreffend hinzu, „dann ist das der Untergang.“ Auch innerhalb der CDU steht der gebürtige Görlitzer damit einigermaßen isoliert da. Umso höher sind ihm seine klaren Worte anzurechnen.

Ob Kretschmer die westlichen Sanktionen nun in Frage stellt, weil er „sein Wahlvolk nicht verlieren möchte“, wie es Nadine Lindner vom Deutschlandradio ausdrückt, weil er im Wettstreit mit der in Sachsen besonders starken AfD punkten will oder einfach, weil ihm als gebürtigem Mitteldeutschen die Menschen in Mittel- und Ostdeutschland am Herzen liegen, die besonders unter den Folgen der verfehlten Energiepolitik leiden werden, sei dahingestellt. Man kann ihm jedenfalls kaum deutlich genug für seine Haltung danken.

Verhandlungen mit Russland sind alternativlos

So kritisch der Ausdruck der Alternativlosigkeit seit seiner gefühlt inflationären Benutzung in der Ära von Bundeskanzlerin Angela Merkel zu betrachten ist – hier ist er zutreffend. Verhandlungen mit Russland sind alternativlos! So kritisch man die russische Invasion auch sehen kann oder sogar muss (das tut auch Kretschmer!), so solidarisch man mit der angegriffenen Ukraine auch ist, so sehr man Wladimir Putins Politik ablehnt – es gibt keine Alternative zu Verhandlungen mit Russland.

Russische Soldaten im Osten der Ukraine. Ein Ende ihrer „Spezialoperation“ ist derzeit nicht absehbar. (Foto: Mil.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Die Ukraine hat zuletzt wieder deutlich gemacht, dass sie keinerlei Kompromisse einzugehen bereit ist. Das mag verständlich sein, wenn man bedenkt, dass aus völkerrechtlicher Sicht die Ukraine das angegriffene Land ist. Eine Lösung der Krise bringt solch eine harte Haltung aber nicht näher. Im Gegenteil: In Osteuropa droht ein jahrelanger, womöglich jahrzehntelanger Waffengang – am Leben erhalten durch westliche Panzer, westliche Gewehre und westliche Munition.

Regierung nutzt Konflikt für ihre Energiewende

Schon jetzt steigen Gas- und Strompreise in Deutschland immer weiter an. Die Bundesregierung, die den neuen Ost-West-Konflikt geschickt zur Beschleunigung ihrer Energiewende nutzt, nimmt in Kauf, dass für große Teile der deutschen Bevölkerung Mobilität, Energie und Elektrizität zu Luxusgütern werden. Alle Maßnahmen, die bislang beschlossen oder diskutiert wurden, um die Bürger zu entlasten, sind meist nicht mehr als wirkungslose Tropfen auf den heißen Stein.

Russland steckt die westlichen Sanktionen derweil zwar nicht einfach weg, kommt aber offenbar doch erstaunlich gut damit klar. Zum militärischen Rückzug aus der Ukraine jedenfalls können sie Russland auch nach sechs Monaten ganz offensichtlich nicht zwingen. Man muss sich daher nicht sonderlich weit aus dem Fenster lehnen, um ein Scheitern der Sanktionen festzustellen. Die Politiker, die dafür verantwortlich sind, sollten die Größe haben, dieses Scheitern einzugestehen und auf den alternativlosen Pfad der Vernunft zurückzukehren. Noch ist es nicht zu spät.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Ruhm, Ehre oder Heil? – Ein umstrittener Gruß

„Slawa Ukraini!“ – mit diesem mittlerweile weltbekannten ukrainischen Schlachtruf beendete Bundeskanzler Olaf Scholz seine Videobotschaft, mit der er dem osteuropäischen Land gestern auf seinem Twitter-Auftritt zum Unabhängigkeitstag gratulierte und zugleich weitere deutsche Waffenlieferungen versprach. „Slawa Ukraini!“ – seit dem Beginn der russischen Invasion ist die pathetische Grußformel in aller Munde. Zumindest im Mund derer, die das angegriffene Land bedingungslos unterstützen und dabei womöglich die Vorgeschichte der Eskalation außer Acht lassen.

In die Nähe eines faschistischen Regimes gerückt

Was aber bedeutet „Slawa Ukraini“? Im Internet kursieren dazu verschiedene Übersetzungen, die unterschiedlicher kaum sein könnten und sich oberflächlich betrachtet ausschließen. In pro-russischen Kreisen übersetzt man die Grußformel, die in der Ukraine gemeinhin mit „Herojam Slawa“ erwidert wird, mit „Heil der Ukraine“. „Herojam Slawa“ steht demnach für „Heil den Helden“. Die Übersetzung soll an die Worte erinnern, die in Nazi-Deutschland beim Hitlergruß gesprochen wurden. Die Ukraine wird damit in die Nähe eines faschistischen Regimes gerückt.

Bundeskanzler Olaf Scholz gratulierte der Ukraine per Videobotschaft zu ihrem Unabhängigkeitstag und schloss mit der pathetischen Grußformel „Slawa Ukraini“. Deren Übersetzung ist strittig. (Foto: Kremlin.ru/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Westliche Medien übersetzen den Schlachtruf dagegen meist unverdächtig mit „Ruhm der Ukraine – Ruhm den Helden“. Dem Internetlexikon Wikipedia zufolge sind auch „Ehre der Ukraine“ oder „Hoch lebe die Ukraine“ geläufige Übertragungen. Tatsächlich dürfte die Übersetzung „Ruhm“ der ukrainischen Bedeutung am nächsten kommen. Abgesehen davon, dass bevorzugt ukrainische Nationalisten mit „Slawa Ukraini“ grüßen, bleibt also bei der gängigen westlichen Deutung kaum etwas übrig, was an das „Sieg Heil“ der deutschen Nationalsozialisten erinnert.

Kampf gegen das bolschewistische Russland

Bei genauerer Betrachtung zeigt sich allerdings: So einfach ist die Sache nicht. „Slawa Ukraini“ hat seinen Ursprung in der noch jungen ukrainischen Nationalbewegung. Taras Schewtschenko (1814-1861), der als ukrainischer Nationaldichter gilt und mit seinen Werken zur Herausbildung eines nationalen ukrainischen Bewusstseins beitrug, soll den Ruf als einer der Ersten in einem Gedicht benutzt haben. Im Kampf der Ukraine gegen das bolschewistisch gewordene Russland ab 1917 nutzten Partisanen die Phrase als Gruß.

Bereits damals hatte „Slawa Ukraini“ einen stark antirussischen Beiklang. Zum deutschen Nationalsozialismus aber, der zu diesem Zeitpunkt nicht mal in den Kinderschuhen steckte, bestand keine Verbindung. Dies sollte sich spätestens Anfang der 1940er Jahre ändern. Damals nahm die Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) „Slawa Ukraini“ als ihren offiziellen Gruß an. Die OUN war eine nationalistische Untergrundbewegung, deren Mitglieder bis in die 1950er Jahre Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft über die Ukraine leisteten. Kritikern gilt sie als faschistisch.

Zeitweise Kollaboration mit Nazi-Deutschland

Als am 22. Juni 1941 die deutsche Wehrmacht in der Sowjetunion einmarschierte, begrüßten viele Ukrainer die Invasion, weil sie sich dadurch die Befreiung vom Bolschewismus und Unterstützung auf dem Weg zu einem eigenständigen ukrainischen Staat versprachen. Die OUN kollaborierte eine Zeitlang mit den Deutschen, wandte sich aber von ihnen ab, als sich abzeichnete, dass die Wünsche nach Unabhängigkeit bei den Nazis auf taube Ohren stießen. Ab 1942 bekämpften die ukrainischen Nationalisten sowohl die deutsche Besatzungsmacht als auch die Sowjetunion.

Betrachtet man die Zeit genauer, als OUN und NS-Deutschland vorübergehend Seite an Seite standen, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Übersetzung „Heil der Ukraine“ für „Slawa Ukraini“ eben doch nicht so abwegig ist, wie westliche Medien und Politiker dies gern hätten. Ein Foto, das – wohl im Sommer 1941 – im westukrainischen Schowkwa bei Lemberg (Lwiw) aufgenommen wurde, zeigt einen Torbogen des örtlichen Schlosses, der mit mehreren Spruchbändern behängt ist.

Der Nazi-Gruß „Heil Hitler“ und seine ukrainische Entsprechung auf einem Spruchband an einem Torbogen des Schlosses Schowkwa im Westen der Ukraine. Weiter liest man: „Lang lebe der Ukrainische Unabhängige Staat!“ (Foto: gemeinfrei)

„Heil Hitler!“, liest man da – und darunter das, was offensichtlich eine ukrainische Version des Nazi-Grußes sein soll: „Slawa Gitlerowi!“. Daneben, ebenfalls in zweiter Reihe, aber fast so groß wie die Anrufung des braunen „Führers“, prangt „Slawa Banderi!“ – eine Ehrbezeugung, die Stepan Bandera (1909-1959) gilt. Der aus Galizien stammende Führer des militärischen Flügels der OUN, der Ukrainischen Aufständischen Armee (UPA), gilt vielen seiner Landsleute bis heute als Held des Widerstands gegen Bolschewismus und russische Vorherrschaft.

Judenfeindliche Ausschreitungen und Massaker

Historiker verweisen dagegen auf judenfeindliche Ausschreitungen, an denen seine UPA beteiligt gewesen sei, und werfen ihr Massaker an der polnischen Volksgruppe im Westen der Ukraine vor. Bereits im Juli 1941 war Bandera von den Deutschen verhaftet und im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert worden, wo er ähnlich wie der ehemalige österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg den Sonderstatus eines Ehrenhäftlings genoss. Nach Kriegsende tauchte Bandera im Westen unter. 1959 tötete ihn ein KGB-Agent in München, wo er unter falschem Namen lebte.

Natürlich muss, wer die Aufnahme aus Schowkwa betrachtet, dies mit der nötigen Rücksichtnahme auf die Umstände der Zeit tun. Zumindest damals, im Sommer 1941, – das belegt das Foto klar und deutlich – sah man offensichtlich überhaupt kein Problem darin, das ukrainische „Slawa“ mit „Heil“ zu übersetzen. „Slawa Ukraini“ – also doch „Heil der Ukraine“?

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Unterstützung bis zum Kriegseintritt?

Steuert der Westen im Ukraine-Konflikt auf eine direkte Kriegsbeteiligung zu? Aussagen von Politikern und Militärs lassen sich durchaus in diese Richtung interpretieren – auch wenn sie selbst diese Deutung sicherlich zurückweisen würden. Vor allem aus Großbritannien kommen immer wieder Botschaften der unverbrüchlichen Solidarität mit Kiew. Heute, zum ukrainischen Unabhängigkeitstag, ist es der scheidende Premierminister Boris Johnson, der der Ukraine militärischen Beistand verspricht.

Der scheidende britische Premierminister Boris Johnson verspricht der Ukraine „jede erdenkliche militärische Unterstützung“. (Foto: Number 10/Flickr/CC BY-NC-ND 2.0)

„Ich habe nie daran gezweifelt, dass die Ukraine diesen Kampf gewinnen wird, denn keine Macht der Erde kann den Patriotismus von 44 Millionen Ukrainern bezwingen“, sagt Johnson in einem Video. „Und wie lange es auch dauern mag: Das Vereinigte Königreich wird der Ukraine zur Seite stehen und jede erdenkliche militärische, wirtschaftliche und humanitäre Unterstützung leisten.“ Johnsons Nachfolgerin dürfte die bisherige Außenministerin Liz Truss werden, die ebenso als große Unterstützerin der Ukraine gilt.

Körperlich fit für den Kriegseinsatz?

Zuletzt kursierten nach dem Bombenattentat auf die russische Journalistin Darja Dugina Aussagen des ranghöchsten Unteroffiziers der britischen Armee, Paul Carney. Er rief seine Kameraden auf, sich auf einen Krieg gegen Russland vorzubereiten. In einer Soldatenzeitschrift schrieb er, es sei an der Zeit, mit seinen Angehörigen über eine mögliche Entsendung nach Osteuropa zu sprechen. „Ich möchte, dass wir alle überprüfen, ob wir körperlich fit für den Einsatz sind“, machte Carney deutlich.

Das bedeute freilich nicht, dass die britische Armee tatsächlich in den Krieg ziehen wird, betonte General Richard Dannatt, ehemaliger Generalstabschef der Armee. „Angesichts eines Krieges in Europa, eines aggressiven Russlands und besorgter Länder an Russlands Grenzen“ sei es aber „vernünftig, dass britische Soldaten realistisch einschätzen, was passieren könnte“.

Auch in Deutschland wird der Ton rauer. Kanzler Olaf Scholz kündigt zum ukrainischen Unabhängigkeitstag die Lieferung weiterer Waffen an. Und FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann ruft die Deutschen im Konflikt mit Russland zu Opferbereitschaft auf. „Wir müssen Putin und den Diktatoren dieser Welt, die unser demokratisches Leben hassen und zerstören wollen, entschlossen entgegenstehen“, meint sie. „Das wird von uns allen auch persönlich Opfer erfordern, schwach sollten wir trotz alledem nicht werden.“

Pazifisten: die „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins?

Ihr Parteikollege, der frühere EU-Abgeordnete Alexander Graf Lambsdorff, der seit Beginn des Krieges häufiger durch markige Sprüche aufgefallen ist und für den Friedensaktivisten und Pazifisten wie die Ostermarschierer eine „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins sind, warnt derweil vor Kriegsmüdigkeit im Westen. Lambsdorff ist Mitglied der USA-nahen Atlantischen Initiative, der Atlantik-Brücke und des Transatlantic Policy Network.

Der ukrainische Unabhängigkeitstag wird stets am 24. August begangen. Der Nationalfeiertag erinnert an die Unabhängigkeit der Ukraine von der zerfallenden Sowjetunion 1991. In diesem Jahr fällt er mit einem anderen Ereignis zusammen: Vor genau einem halben Jahr begann der russische Einmarsch in der Ukraine. Entsprechend steht der Nationalfeiertag diesmal ganz im Zeichen des Krieges.

„Keinerlei Zugeständnisse oder Kompromisse“

In einer Ansprache erteilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi nun allen ohnehin nur noch vagen Friedenshoffnungen eine Absage. Es werde einen Kampf „bis zum Ende“ gegen die russischen Angreifer geben. Die Ukraine werde „keinerlei Zugeständnisse oder Kompromisse“ machen.

Thomas Wolf

Wolodymyr Selenskyi, Präsident der Ukraine, schwört seine Landsleute auf einen Kampf „bis zum Ende“ gegen die russischen Angreifer ein. (Foto: The Presidential Office of Ukraine/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)
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Medienkritik

Das Töten begann nicht am 24. Februar

Vor genau einem halben Jahr begann das, was englischsprachige Medien bedrohlich eine „full-scale invasion“ nannten: Russische Truppen marschierten in der Ukraine ein und beschossen Militärstellungen bis weit in den Westen des Landes. Zeitweilig schien die Hauptstadt Kiew kurz vor dem Fall zu stehen. Seither haben sich die Kämpfe in den Donbass und den Süden der Ukraine verlagert. Der Frontverlauf ändert sich nur noch langsam.

Ein verlassener russischer Panzer mit dem Z-Symbol in den ersten Wochen des Krieges. Die Aufnahme, die in der Region Donezk entstanden sein soll, stammt vom ukrainischen Verteidigungsministerium. (Foto: armyinform.com.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Wenn Journalisten hierzulande über den russischen Einmarsch in der Ukraine schreiben, den sie als einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ oder „Überfall“ bezeichnen, blenden sie die Vorgeschichte des Konflikts meist aus. Zum Verständnis dessen, was vor sechs Monaten zur Eskalation führte, ist deren Kenntnis aber unerlässlich. Das Töten hat nämlich nicht erst mit Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar begonnen. Seit acht Jahren bekämpfen sich im Donbass, in den Regionen Lugansk und Donezk, ukrainische Truppen und prorussische Separatisten. Kein Krieg, den Europa in den vergangenen Generationen erlebt hat, dauerte länger. Tausende starben, darunter auch zahlreiche Zivilisten: Frauen, Kinder, Alte.

Journalist Ulrich Heyden kennt den Konflikt

Anders als viele westliche Journalisten kennt Ulrich Heyden den Konflikt aus eigener Anschauung. Seit 2014 war der Osteuropa- und Kriegs-Korrespondent, der vorwiegend für linksgerichtete deutsche Medien und den staatsnahen russischen Sender RT schreibt, aber auch für den Deutschlandfunk und die Bundestags-Zeitschrift „Das Parlament“ tätig war, immer wieder in der Ukraine. Er hat erlebt, wie sich im Osten des Landes aus den Protesten der russischsprachigen Minderheit gegen Bevormundung und kulturelle Ausgrenzung ein rücksichtslos geführter Bür­gerkrieg entwickelte.

Buchautor Ulrich Heyden bei einer Veranstaltung der Links-Fraktion im Deutschen Bundestag 2018. (Foto: Fraktion Die Linke im Bundestag/Flickr/CC BY 2.0)

Dadurch, dass Heyden näher als andere Journalisten an dem Konflikt dran ist, erhält sein Buch, das er etwas sperrig, aber zutreffend „Der längste Krieg in Europa seit 1945“ überschrieben hat, eine beson­dere Note. Seine Perspektive liegt nicht nur auf der Politik, die durch ihr Handeln zum Scheitern des Minsker Friedensabkommens beitrug, oder auf den Militärs und Freiwilligen-Verbänden, die sich in Schützengräben und an Frontlinien erbittert bekämpfen. Sie liegt auch auf den Menschen im Donbass, die mehr als alle anderen unter der jahrelangen Ge­walt leiden: weil ihre Wohnhäuser zerbombt werden, ihre Versorgung mit Wasser oder Elektrizität versagt oder Kiew ihnen ihre Sozialleistungen kappt.

Anschaulich und ohne Scheuklappen

Das bei der Hamburger Selfpublishing-Plattform Tredition erschienene Werk ist im Kern eine Sammlung von Beiträ­gen, die Heyden im Verlauf der vergangenen acht Jah­re für verschiedene Medien verfasste. Auch wenn man es dem Buch anmerkt, dass es offenbar nach Russlands Einmarsch eilig zusammengestellt wurde, ist es doch unbedingt lesenswert: Erschreckend anschaulich und schonungslos führt Heyden die Eskalation im Osten der Ukraine vor Augen – ohne ideologische Scheuklappen und ohne Rücksicht auf verbreitete westliche Narrative.

Frank Brettemer

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Im Blickpunkt

Wer steckt hinter dem Dugina-Anschlag?

Moskau steht unter Schock. Zwei Tage, nachdem die regierungsnahe russische Journalistin Darja Dugina bei einem Autobombenanschlag ums Leben kam, rätseln Ermittler und Beobachter, wer die Drahtzieher hinter dem Attentat sein könnten und was mit der Bluttat bezweckt wurde. Kreml-nahe Kreise machen Kiew für den abendlichen Anschlag verantwortlich, während andere Stimmen sogar westliche Geheimdienste hinter dem Terrorakt nicht ausschließen. Als ausführende Täterin präsentierten russische Behörden heute eine ukrainische Staatsbürgerin.

Ein Vorwand, um Staat und Gesellschaft zu säubern?

Westliche Medien berichten indes recht hilflos über den Bombenmord an der 29-jährigen Journalistin – dem gängigen Narrativ zufolge gehen Gewalt und Terror gegen Andersdenkende vom Kreml aus und treffen gerade nicht die Sympathisanten des „Systems Putin“. Um die junge Frau, die im Ukraine-Krieg klar zu den Unterstützern des Kreml-Kurses gehört, doch zu einem möglichen Putin-Opfer zu stilisieren, bemühen Kreml-Kritiker die Behauptung, der Bombenanschlag sei das Werk russischer Sicherheitskräfte, die damit einen Vorwand schaffen wollten, um Staat und Gesellschaft von vermeintlichen Verrätern zu säubern.

Darja Dugina, die Tochter des umstrittenen Philosophen und Politologen Alexander Dugin, wurde nur 29 Jahre alt. (Foto: 1RNK/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)

Dugina ist die Tochter des Vordenkers der geopolitischen Ideologie des Neo-Eurasismus, Alexander Dugin. Im Westen gilt der 60-jährige Politologe, Philosoph und Publizist, der manchen mit seinem wallenden Bart an den Wanderprediger und Zaren-Berater Rasputin erinnert, wahlweise als Faschist oder Ultranationalist und fast immer als Putin-Einflüsterer. Sein Einfluss auf den politischen Kurs des russischen Präsidenten soll nach neueren Medienberichten geringer sein, als bislang meist dargestellt. Der Anschlag auf Tochter Darja, mutmaßen Anhänger, könnte auch Dugin selbst gegolten haben.

Ist der Ex-Abgeordnete verantwortlich für den Anschlag?

Einer, der sich quasi selbst als Verantwortlicher für den Anschlag ins Spiel gebracht hat, ist Ilja Ponomarjow. Der 47-Jährige, den das Internetlexikon Wikipedia als IT-Unternehmer und Blogger vorstellt, war bis 2016 Abgeordneter des russischen Parlaments, der Staatsduma. Zunächst Kommunist, gehörte er später der sozialdemokratischen Partei „Gerechtes Russland“ an, die ihn ausschloss, als er 2014 als einziger Parlamentsabgeordneter gegen den Beitritt der Krim zur Russischen Föderation stimmte.

Nachdem die Staatsanwaltschaft Ermittlungen wegen Unterschlagung gegen Ponomarjow aufgenommen hatte, entzog die Duma ihm seine Abgeordnetenimmunität. Ponomarjow sprach stets von politisch motivierten Vorwürfen. Nach den Anschuldigungen kehrte er von einer Auslandsreise nicht zurück und ließ sich in Kiew nieder. Er nahm die ukrainische Staatsbürgerschaft an und trat nach der russischen Invasion als Freiwilliger der Territorialverteidigung der Ukraine bei.

„Neue Seite des Widerstands gegen den Putinismus“

Jetzt hat er sich mit einer Videobotschaft zum Bombenattentat auf Darja Dugina zu Wort gemeldet. „Dieser Anschlag schlägt eine neue Seite des russischen Widerstands gegen den Putinismus auf“, sagt Ponomarjow und ruft die Russen zum Kampf gegen den Präsidenten und seiner Regierung auf. Eine „Nationale Republikanische Armee“, deren Manifest der einstige Abgeordnete der Duma verbreitet, hat Ponomarjows Video zufolge den Sprengstoffanschlag verübt.

Eine Gruppierung dieses Namens ist zwar bislang nicht in Erscheinung getreten – ein Beweis dafür, dass Ponomarjow lügt, ist das aber nicht. Vielleicht war die Sprengung der ferngezündeten Bombe am Abend des 20. August 2022 der erste Anschlag der Partisanenbewegung – und Darja Dugina ihr erstes Opfer. Sie könnte nicht das letzte bleiben. Das jedenfalls kündigt Ponomarjow an.

Thomas Wolf

Ilja Ponomarjow bei einer Protestaktion 2013. Steckt der Putin-Gegner, der heute in der Ukraine lebt, hinter dem Bombenanschlag auf Darja Dugina? (Foto: putnik/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)
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Im Blickpunkt

Russland-Freunde an den Pranger

Die Bundesregierung will härter gegen vermeintliche russische „Fake News“ vorgehen. Das meldet der Internetauftritt der Tagesschau. Die Bevölkerung müsse für russische „Angriffe auf Fakten und Realitäten“ sensibilisiert werden, heißt es da. Unter der Überschrift „Gemeinsam gegen Desinformation“ geht der Verfassungsschutz demnach gegen die angebliche und tatsächliche Manipulation der öffentlichen Meinung in Deutschland vor. Um die „Lügengebilde zu dekonstruieren“, soll es künftig sogar quasi amtliche Warnhinweise geben, insbesondere bei „identifizierten Propagandisten“ – sicherlich gleichermaßen amtlich bestätigt.

 „In den Sicherheitsbehörden geht man davon aus, dass die Kreml-Propaganda in den kommenden Monaten noch weiter zunehmen wird und sich der Fokus dabei verlagert: vom Krieg in der Ukraine zur drohenden Energiekrise und deren Folgen für die Bevölkerung“, schreibt WDR-Mitarbeiter Florian Flade in dem als „exklusiv“ überschriebenen Beitrag. „Kreml-Propaganda“ – darunter versteht der Autor offenbar alles, was in dem aktuellen Medienkrieg zwischen Ost und West dem westlichen Narrativ widerspricht. 

Der Kreml in Moskau bei Nacht. (Foto: RuED/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Wer begründete Zweifel an der russischen Alleinschuld an der Eskalation des Ukraine-Konflikts hegt, wer die Geschichte des Bürgerkriegs im Donbass seit 2014 vorurteilsfrei betrachtet und dabei sehr wohl auch Fehler und Verantwortung bei der ukrainischen Regierung sieht, wer den westlichen Sanktionen gegen Russland kritisch gegenübersteht, weil sie sehr wohl auch die Deutschen empfindlich treffen, der betreibt nach Tagesschau-Lesart offenbar bereits „Kreml-Propaganda“. Der verbreitet „Fake News“. Der manipuliert die deutsche Öffentlichkeit.

Wo enden Gerüchte? Wo beginnen „Fake News“?

Ist es wirklich so einfach? Wo beginnen eigentlich „Fake News“, also das, was man früher schlicht Lügen genannt hätte? Ist eine womöglich haltlose Spekulation bereits eine Lüge? Oder ein Gerücht, das sich im Internet in rasender Geschwindigkeit verbreitet? Und vor allem: Wer bestimmt darüber, ob etwas nun gelogen ist oder nicht? Nicht immer lässt sich eine Frage mit mathematischer Präzision beantworten. 

Wer also zieht die Grenze zwischen Gerüchten, Spekulationen und zugespitzten Kommentaren einerseits – und „Fake News“ andererseits? Der Verfassungsschutz oder die Regierung? Dann sollte es keinen verwundern, wenn Menschen, die ein grundsätzlich positives Russland-Bild haben oder die sich dem neuen Ost-West-Konflikt widersetzen, künftig amtlich mit Warnhinweisen versehen werden. Ein behördlicher Pranger für Russland-Freunde und Menschen, die sich für Frieden und Versöhnung einsetzen? Bald ist er womöglich Realität.

Thomas Wolf

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Kommentar

Wie Journalisten manipulieren

Auf Tagesschau.de ist dieser Tage ein Interview mit der US-amerikanischen Historikerin und Journalistin Anne Elizabeth Applebaum zu lesen. Thema: das vermeintlich faschistische Russland unter Wladimir Putin. Das Interview, das die RBB-Mitarbeiter Daniel Donath und Silvio Duwe für das Politikmagazin „Kontraste“ führten, zeigt beispielhaft, wie Journalismus manipulieren kann, auch wenn er scheinbar neutral und objektiv arbeitet.

Z – das neue Hakenkreuz?

Vordergründig machen Donath und Duwe nur ihre Arbeit als Journalisten: Sie führen ein Interview mit einer Person, bei der sie eine Expertise zu einem bestimmten Themenbereich (hier: Russland) vermuten und machen sich die Haltung der Interviewpartnerin aus den USA nicht zu eigen. Ihren Aussagen, Russland unter Präsident Putin sei ein faschistisches System, das Z-Symbol für die “Spezialoperation“ in der Ukraine entspreche dem Hakenkreuz in Nazi-Deutschland, das russische Vorgehen im Nachbarland sei “genozidal“ geprägt und Friedensverhandlungen seien erst nach einer Kriegsniederlage möglich, muss man als Interviewer nicht zustimmen – auch wenn man sie als Deutscher mit dem Wissen um die deutsche Geschichte vielleicht besser mit einem großen Fragezeichen versehen sollte.

Das Z-Symbol, das in Russland seit Kriegsbeginn weite Verbreitung findet, sieht US-Journalistin Anne Applebaum als eine Art neues Hakenkreuz – eine Ansicht, die auch die Ukraine vertritt. (Foto: Alexander Davronov/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Im Großen und Ganzen bewegt sich das Interview von Donath und Duwe im Bereich dessen, was journalistischer Alltag ist – die teils kruden Behauptungen der Interviewten inklusive. Problematisch wird es, wenn Tagesschau.de den Lesern verschweigt, wer Anne Applebaum ist. „Sie lehrte an Hochschulen in den USA und Europa und schreibt Kolumnen für Publikationen vor allem in den USA und Großbritannien“, stellt Tagesschau.de die 58-Jährige vor. Als Historikerin hat sie demnach den stalinistischen Terror und das sowjetische Gulag-Lagersystem erforscht. „Das 2017 publizierte Buch ’Roter Hunger‘ mit der These eines geplanten Genozids an den Ukrainern zu Sowjetzeiten führte zu einer Kontroverse auch unter Wissenschaftlern.“

Engagement für transatlantische Denkfabriken

Das ist bestenfalls die halbe Wahrheit: Applebaum war nämlich mehrere Jahre Abteilungsleiterin beim Legatum Institute, einer konservativen britischen Denkfabrik mit Verbindungen zu einer milliardenschweren Investmentgesellschaft. Sie sitzt im Vorstand des “National Endowment for Democracy“ und ist Mitglied im „Council on Foreign Relations“ – beides Denkfabriken, die für ihre transatlantische Agenda bekannt sind. Das „Center for European Policy Analysis“, in dessen Beirat Applebaum sitzt, ist finanziell eng verbandelt mit der US-Politik, mit amerikanischen Rüstungskonzernen und dem Pentagon. Bereits in der Vergangenheit ist Applebaum durch russlandkritische Aussagen aufgefallen.

Natürlich ist ihr Engagement für NED und CFR, die zu einer Reihe von US-Denkfabriken mit klar antirussischer Ausrichtung gehören, nicht per se verwerflich. Dass Tagesschau.de dies verschweigt und Applebaum als objektive Osteuropa-Expertin verkauft, macht das Interview aber eben doch zu einer manipulativen Propagandawaffe im Konflikt mit Russland. Journalistisch neutral ist es jedenfalls nicht.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Wer beschießt Saporischschja?

Seit Tagen gehen Meldungen vom Beschuss des ukrainischen AKW Saporischschja durch die Medien. Saporischschja ist mit sechs Reaktoren und einer Gesamtleistung von rund 5700 Megawatt das leistungsstärkste Atomkraftwerk Europas. Eine durch den Beschuss ausgelöste Atomkatastrophe hätte womöglich verheerende Folgen. Wer aber beschießt Saporischschja?

Die sechs Reaktorblöcke des Atomkraftwerks Saporischschja. Das Gelände ist von russischen Truppen besetzt. (Foto: Ralf1969/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Deutsche Medien wie etwa tagesschau.de äußern sich zu dieser Frage seltsam unentschieden: Die Ukraine, heißt es da beispielsweise, mache Russland verantwortlich. Oder man liest, beide Kriegsparteien erklärten, der Beschuss gehe von der jeweils anderen Seite aus. Klar ist: Kein deutscher Journalist ist vor Ort in Saporischschja und könnte Auskünfte aus erster Hand liefern. Insofern ist die Zurückhaltung nachvollziehbar.

AKW-Gelände von russischen Truppen besetzt

Allerdings liefert etwa die Tagesschau die Antwort in ihren eigenen Beiträgen mit – wenn auch gewissermaßen im Kleingedruckten. Das AKW-Gelände, liest man dort nämlich, ist von russischen Truppen besetzt. Keine Armee der Welt würde sich aber dergestalt selbst beschießen. Ein versehentlicher Angriff auf die eigenen Kameraden mag noch vorstellbar sein – aber sicher nicht über Tage oder sogar über Wochen hinweg.

Nun muss man nicht gleich den russischen Anschuldigungen folgen, wonach die ukrainischen Truppen absichtlich auf ein Atommüll-Lager schießen, welches sich auf dem Gelände des Kraftwerks befinde. Ihr Ziel sei es, mutmaßt die pro-russische Besatzungsverwaltung, durch den Beschuss die Explosion einer „schmutzigen Bombe“ zu erreichen, also einer Art Atombombe im Kleinen.

Droht ein Tschernobyl 2.0?

Das dürften nicht viel mehr sein als die üblichen propagandistischen Sticheleien, die seit dem 24. Februar zwischen den Kriegsgegnern hin- und hergehen. Daran, dass für den Beschuss des AKW Saporischschja die Ukraine verantwortlich ist, ist aber nicht zu zweifeln. Bleibt die Frage: Warum tut sie das, warum attackiert sie das größte Atomkraftwerk Europas fortwährend und beschwört damit die Gefahr einer neuerlichen Atomkatastrophe auf ukrainischem Territorium herauf, eines Tschernobyl 2.0? 

Die Antwort ist womöglich dieselbe, die auch für die Frage gilt, weshalb Russland seit der Invasion des Nachbarlands immer wieder medizinische Einrichtungen und Wohngebiete unter Beschuss nimmt: weil dort nicht selten feindliche Truppen ihre Stellungen eingerichtet haben. Das jedenfalls legte eine Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International jüngst nahe.

Russland will seine Truppen abziehen

Russische Armeeeinheiten, die auf dem Gelände des Atomkraftwerks stationiert sind, könnten die Ukraine demnach zu ihren fortwährenden riskanten Angriffen provoziert haben. Da wirkt es wie ein Lichtblick, wenn Russland nun ankündigt, seine Truppen aus der Umgebung des Kraftwerks abziehen zu wollen. Ihre Gegenwart kann dann nämlich sicherlich nicht mehr als Begründung für den Beschuss dienen.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Amnesty: Ukraine gefährdet Zivilisten

Amnesty International wirft der Ukraine vor, im Krieg gegen Russland gegen das Völkerrecht zu verstoßen. Die Armee verschanze sich in Schulen und Krankenhäusern und operiere aus Wohngebieten heraus. Vorwürfe wie diese, wonach die Ukraine ihre eigene Zivilbevölkerung gefährde und als „menschliche Schutzschilde“ missbrauche, galten bislang im Westen als russische Propaganda. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi kritisierte den Amnesty-Bericht scharf.

Ein ukrainischer Panzer in den Straßen von Kiew. Amnesty International wirft den Streitkräften der Ukraine vor, aus Wohngebieten heraus zu operieren und dadurch die Zivilbevölkerung zu gefährden. (Foto: VoidWanderer/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Die Menschenrechtsorganisation hat eigenen Angaben zufolge zwischen April und Juni im Kriegsgebiet Untersuchungen angestellt und mit Bewohnern sowie Überlebenden russischen Beschusses gesprochen. Den Erkenntnissen zufolge haben ukrainische Streitkräfte „Zivilisten in Gefahr gebracht, indem sie in Wohngebieten, einschließlich Schulen und Krankenhäusern, Stützpunkte errichteten und Waffensysteme einsetzten“.

Vergeltungsfeuer russischer Streitkräfte

Im umkämpften Donbass sowie in den Regionen Charkiw und Mykolajiw berichteten Augenzeugen „dass das ukrainische Militär zur Zeit der Angriffe in der Nähe ihrer Häuser operierte und das Gebiet dem Vergeltungsfeuer russischer Streitkräfte aussetzte“. Ein derartiges Verhalten hat Amnesty International an zahlreichen Orten beobachtet.

Der Bericht zitiert eine Frau, deren 50-jähriger Sohn bei einem Raketenangriff südlich von Mykolajiw ums Leben kam: „Das Militär wohnte in einem Haus neben unserem Haus und mein Sohn brachte den Soldaten oft Essen. Ich bat ihn mehrmals, sich von dort fernzuhalten, weil ich um seine Sicherheit fürchtete.“ Zum Zeitpunkt des russischen Beschusses habe sich ihr Sohn vor dem Haus aufgehalten. „Er wurde auf der Stelle getötet. Sein Körper wurde in Fetzen gerissen.“

„Ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“

An fünf Orten konnte Amnesty aufgrund von Zeugenaussagen nachweisen, dass ukrainische Soldaten Krankenhäuser als Militärstützpunkte nutzten. In einer Stadt feuerten die Streitkräfte sogar von Stellungen in der Nähe eines Krankenhauses. In mindestens einem Fall kamen beim russischem Beschuss einer medizinischen Labors Zivilisten zu Schaden. Ukrainische Soldaten hatten dort zuvor ihre Basis eingerichtet. „Die Nutzung von Krankenhäusern für militärische Zwecke ist ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“, betont Amnesty.

Russischen Beschuss macht die Ukraine für die Zerstörung einer Geburtsklinik in Mariupol am 9. März verantwortlich. In anderen Fällen konnte Amnesty nachweisen, dass ukrainische Truppen das Krankenhausareal als Stützpunkt genutzt haben. (Foto: armyinform.com.ua/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Die Wohngebiete, in denen sich ukrainische Truppen aufhielten, waren nach Erkenntnissen von Amnesty meist „kilometerweit von den Frontlinien entfernt“. Zivilisten hätten also nicht gefährdet werden müssen, stellte die Menschenrechtsorganisation fest. Auch habe das ukrainische Militär es versäumt, die entsprechende Gegend zu evakuieren.

Auch die Ukraine muss das Völkerrecht respektieren

Zwar fand Amnesty nicht an jedem Ort, an dem russische Angriffe zum Tod von Zivilisten führten, Belege dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte das Gebiet missbraucht haben könnten. Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International, sieht dennoch geradezu ein „Muster“ darin, dass die ukrainischen Streitkräfte die Zivilbevölkerung gefährden und gegen das Kriegsrecht verstoßen. Die Tatsache, dass sich die Ukraine gegen einen Angreifer verteidigt, befreie das ukrainische Militär nicht von der Verpflichtung, „das humanitäre Völkerrecht zu respektieren“, betont Callamard.

Thomas Wolf