Vor genau einem halben Jahr begann das, was englischsprachige Medien bedrohlich eine „full-scale invasion“ nannten: Russische Truppen marschierten in der Ukraine ein und beschossen Militärstellungen bis weit in den Westen des Landes. Zeitweilig schien die Hauptstadt Kiew kurz vor dem Fall zu stehen. Seither haben sich die Kämpfe in den Donbass und den Süden der Ukraine verlagert. Der Frontverlauf ändert sich nur noch langsam.
Wenn Journalisten hierzulande über den russischen Einmarsch in der Ukraine schreiben, den sie als einen „völkerrechtswidrigen Angriffskrieg“ oder „Überfall“ bezeichnen, blenden sie die Vorgeschichte des Konflikts meist aus. Zum Verständnis dessen, was vor sechs Monaten zur Eskalation führte, ist deren Kenntnis aber unerlässlich. Das Töten hat nämlich nicht erst mit Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar begonnen. Seit acht Jahren bekämpfen sich im Donbass, in den Regionen Lugansk und Donezk, ukrainische Truppen und prorussische Separatisten. Kein Krieg, den Europa in den vergangenen Generationen erlebt hat, dauerte länger. Tausende starben, darunter auch zahlreiche Zivilisten: Frauen, Kinder, Alte.
Journalist Ulrich Heyden kennt den Konflikt
Anders als viele westliche Journalisten kennt Ulrich Heyden den Konflikt aus eigener Anschauung. Seit 2014 war der Osteuropa- und Kriegs-Korrespondent, der vorwiegend für linksgerichtete deutsche Medien und den staatsnahen russischen Sender RT schreibt, aber auch für den Deutschlandfunk und die Bundestags-Zeitschrift „Das Parlament“ tätig war, immer wieder in der Ukraine. Er hat erlebt, wie sich im Osten des Landes aus den Protesten der russischsprachigen Minderheit gegen Bevormundung und kulturelle Ausgrenzung ein rücksichtslos geführter Bürgerkrieg entwickelte.
Dadurch, dass Heyden näher als andere Journalisten an dem Konflikt dran ist, erhält sein Buch, das er etwas sperrig, aber zutreffend „Der längste Krieg in Europa seit 1945“ überschrieben hat, eine besondere Note. Seine Perspektive liegt nicht nur auf der Politik, die durch ihr Handeln zum Scheitern des Minsker Friedensabkommens beitrug, oder auf den Militärs und Freiwilligen-Verbänden, die sich in Schützengräben und an Frontlinien erbittert bekämpfen. Sie liegt auch auf den Menschen im Donbass, die mehr als alle anderen unter der jahrelangen Gewalt leiden: weil ihre Wohnhäuser zerbombt werden, ihre Versorgung mit Wasser oder Elektrizität versagt oder Kiew ihnen ihre Sozialleistungen kappt.
Anschaulich und ohne Scheuklappen
Das bei der Hamburger Selfpublishing-Plattform Tredition erschienene Werk ist im Kern eine Sammlung von Beiträgen, die Heyden im Verlauf der vergangenen acht Jahre für verschiedene Medien verfasste. Auch wenn man es dem Buch anmerkt, dass es offenbar nach Russlands Einmarsch eilig zusammengestellt wurde, ist es doch unbedingt lesenswert: Erschreckend anschaulich und schonungslos führt Heyden die Eskalation im Osten der Ukraine vor Augen – ohne ideologische Scheuklappen und ohne Rücksicht auf verbreitete westliche Narrative.
Frank Brettemer