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„Die Ukraine wollte einen Krieg mit Russland“ 

Am 24. Februar 2022 spitzte sich der Konflikt zwischen Russland auf der einen und der vom Westen unterstützten Ukraine gefährlich zu. Russische Truppen marschierten im Nachbarland ein. Den Schuldigen für die Eskalation hatte die westliche Politik schnell ausgemacht: Russland – nur Russland. Ganz anders sieht das Dieter Staudt, gläubiger Christ und Unternehmer. Von 2011 bis Mitte 2022 lebte er im Osten der Ukraine. Heute sagt er, die Ukraine habe den Krieg gewollt. „Das ukrainische Militär plante einen Angriff zur Eroberung der Donbass-Volksrepubliken am 6. März 2022.“ 

Als russische Truppen am 24. Februar 2022 in der Ukraine einmarschierten, kamen sie damit laut Dieter Staudt einem ukrainischen Angriff auf den Donbass nur um wenige Tage zuvor. (Foto: Mil.ru / CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Russland musste reagieren

Von den Angriffsplänen, sagt er, habe er direkt von ukrainischen Soldaten erfahren. Nach Staudt musste Russland auf diese Bedrohung reagieren. So sei es zum direkten russischen Kriegseintritt am 24. Februar 2022 gekommen. „Die Ukraine wollte einen Krieg mit Russland und war kein unschuldiges Opfer“, lautet Staudts Fazit. Im Interview mit Thomas Mayer führt der Unternehmer seine Sicht der Dinge aus. Sie stehen im Widerspruch zum gängigen westlichen Narrativ vom unschuldigen Opfer Ukraine, dem der Westen Militärhilfe zu Unterstützung schicken müsse.

Herr Staudt, wie ist Ihre Beziehung zur Ukraine? 

Dieter Staudt lebte bis 2022 in der Ukraine. (Foto: privat)

Ich habe ab Juni 2011 in der Ukraine gelebt, zuerst bis Herbst 2013 zeitweise, danach bis Mitte August 2022 dauerhaft. Ich bin mit einer Ukrainerin verheiratet und baute in der Region Sumy im Nordosten der Ukraine eine Gartenbau-Landwirtschaft auf. Wir hatten bis zu sechs Mitarbeiter. Ich spreche Russisch, so dass ich gut in Kontakt mit der ukrainischen Bevölkerung kam.

Armee schoss auf Ukrainer

Ich habe die gesamte Entwicklung mitbekommen, die zum ukrainischen Bürgerkrieg im Donbass ab 2014 und zum Krieg mit Russland ab 2022 geführt hat. Ende April 2014, unter dem Übergangspräsidenten Oleksandr Turtschinow, den ich persönlich kenne, begann der ukrainische Bürgerkrieg im Donbass. Die ukrainische Armee schoss auf Ukrainer russischer Ethnie, auf Bewohner der autonomen ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk. Diese beiden autonomen Republiken sind am 11. Mai 2014 durch Volksabstimmungen souverän und von der Ukraine unabhängig geworden.

Proteste auf dem Kiewer Maidan im Dezember 2023. (Foto: Sasha Maksymenko / CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Was haben Sie in Sumy von diesem Bürgerkrieg im angrenzenden Donbass mitbekommen?

Ich habe den Bürgerkrieg erfahren durch eine Art Mobilmachung. Es gab Panzersperren auf der Straße nach Romny im Westen des Sumy Gebietes, wenn ich nach Kiew oder auch weiter Richtung Westeuropa alleine oder in Begleitung meiner Ehefrau fuhr. Einmal, von Deutschland kommend, wurde ich von einem ukrainischen Panzer und seiner Besatzung gestoppt und nach Geld gefragt, um den Panzer betanken zu können. Da die Soldaten nach meiner Einschätzung betrunken waren, ging es ihnen wohl eher um den „menschlichen Sprit“. Ich hatte zwar keine Furcht, verließ aber schnell die Örtlichkeit, um eine Distanz zu den Militärs herzustellen.

Bei regelmäßigen Telefonaten mit Freunden in den Gebieten Luhansk und Donezk wurden wir über die Schwere der Bombardements informiert. Durch freundschaftliche Kontakte zu ukrainischen Bewohnern der Krim weiß ich, dass diese Leute es begrüßen, zur Russischen Föderation zu gehören!

Russische Sprache verbieten

Nach dem Maidan-Putsch plante Kiew, die russische Sprache zu verbieten, das war ein Affront gegen die russisch sprechenden Ukrainer. Nachdem sich die Krim am 14. März 2014 durch einen Volksentscheid von der Ukraine abgespalten hatte, wollte die ukrainische Regierung eine ähnliche Entwicklung im Donbass verhindern. Mitte April 2014 schickte der ukrainische Interimspräsident Oleksandr Turtschinow Militär in den Donbass, in der Absicht, seinem an die sogenannten Separatisten gestellten Ultimatum Nachdruck zu verschaffen. Ende April 2014 schoss die ukrainische Armee auf ukrainische Bürger russischer Ethnie und begann den Bürgerkrieg. Zur Abspaltung der Donbass-Republiken kam es trotzdem.

Mir sind die Gründe, die zu dieser Auseinandersetzung geführt haben, bekannt. Einer davon waren die in der Ostukraine liegenden Bodenschätze im Wert von 12 Billionen Dollar, nach denen die USA, Großbritannien und die EU Begehrlichkeiten entwickelten. Das ist einer der Gründe, warum die Ukraine im Bürgerkrieg gegen die Donbass-Republiken ab 2014 vom Westen unterstützt wurde. Von den Bodenschätzen in der Südostukraine habe ich 2013 erstmals gehört.

Der Bürgerkrieg im Donbass richtete schwere Zerstörungen an. (Foto: UNICEF Ukraine / CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Um was für Bodenschätze handelt es sich? Wo kommt die Zahl 12 Billionen her?

Es handelt sich um seltene Erden wie Lithium, Öl, Gas, Ölschiefer und Schiefergas, dessen Abbau in der Ukraine staatlich erlaubt ist. Die Zahl erscheint an vielen Stellen im Internet, dazu gibt es Berichte über Fracking-Pläne der britisch-niederländischen Shell sowie Probebohrungen auf den Jusovsk-Gasfeldern im Osten des Landes, in Charkow, Lugansk, Donezk, bis ins Asowsche Meer. Die Vertragsteilnehmer waren die Kiewer Regierung, die US-Firmen ExxonMobil und Chevron sowie der britisch-niederländische Shell-Konzern und das ukrainische Unternehmen Nadra Jusovsk. Anwesend war auch der damalige Präsident Viktor Janukowitsch, Abschlussort war Davos in der Schweiz, die Größe des Abbau-Gebiets bestand aus 7.886 Quadratkilometern, die Gewinn-Marge für Shell war mit 50 Prozent geplant. 

Wie haben Sie den Kriegseintritt von Russland im Februar 2022 erlebt?

Ich hatte ab Spätsommer 2021 Kontakte zu ukrainischen Militärangehörigen, die im Donbass stationiert waren oder deren Stationierung kurz bevorstand. Über diese habe ich erfahren, dass der ukrainische Staat die russischen Bewohner des Donbass vertreiben oder auch eliminieren wollte. Die Kontakte kamen zustande, weil ich im Sommer 2021 die Verzollung meines Autos plante, um es verkaufen zu können. Durch eine Änderung der ukrainischen Zoll-Gesetzgebung war ich im Herbst 2021 genötigt, Kontakte zu ukrainischen Soldaten mit Dienst im Donbass aufzunehmen. 

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Früherer DDR-Bürger: „Es war nicht alles gut“

Alexander Schlesinger ist Enkel eines Mannes, der im Widerstand gegen das Nazi-Regime stand und in der DDR eine Karriere als Politiker der Liberal-Demokratischen Partei machte. In dem sozialistischen deutschen Staat hatte die Familie deshalb einen guten Stand. Bis heute sieht Schlesinger die DDR weitgehend positiv. Im Interview aus Anlass des 35. Jahrestags des Mauerfalls blickt er nicht nur auf sein Leben im Arbeiter-und-Bauern-Staat zurück. Er zeigt auch auf, welche Gründe für den Mauerbau sprachen und wo er die DDR der heutigen Bundesrepublik überlegen sieht. Ein kritisches Gespräch mit einem kritischen Zeitgenossen.

Der Trabi, der die Mauer durchbricht: Ein bekanntes Symbol für den Mauerfall 1989. Unser Interviewpartner sieht den 9. November 1989 nicht nur positiv. (Foto: Pixabay / gemeinfrei)

Herr Schlesinger, Sie sind Cousin der früheren RBB-Intendantin und ARD-Vorsitzenden Patricia Schlesinger und haben als solcher die aktuellen Leitmedien quasi in der Familie. Sie sprechen von „Lügenmedien der BRD“. Wie kommen Sie zu dieser Bewertung und wo sehen Sie Unterschiede zu den Medien in der damaligen DDR?

Medien sind niemals frei, da die Menschen, die da tätig sind, Klasseninteressen dienen, sei es bewusst oder unbewusst. Das war zu jeder Zeit so. Und es gibt Medien, die sich gegen ein herrschendes System positionieren. Lügenmedien der BRD sind all jene, die unkritisch oder nur im engen Rahmen kritisch das BRD-Regime stützen und die beherrschte Klasse dumm halten. In der DDR war, trotz aller gegenteiliger Behauptungen, die Arbeiterklasse die herrschende Klasse, und die Medien haben dieser gedient. In der BRD ist es eben das Kapital, welches herrscht und dem sich die Medien unterordnen bzw. dessen Interessen sie vertreten.

Die Medien der DDR waren stets bemüht, dem Staatsziel, nämlich dem Aufbau des Sozialismus, mit aller Kraft zur Seite zu stehen. Ich denke, das ist nicht verwerflich, da in der DDR laut Eigendefinition eine „Diktatur des Proletariats“ – ergo: die Herrschaft einer Mehrheit über eine Minderheit – die Staatsform war. Dass die Werktätigen der DDR das nötige Klassenbewusstsein, auch und wegen der Wühlarbeit des westlichen Kapitals, niemals entwickeln konnten, ist eine Tatsache, der sich die SED auch durch ihren Rückzug aus der Regierungsverantwortung Ende 1989 gestellt hat.

Kapital manipuliert Mehrheit

Die Medien der BRD dienen einzig dem Ziel, den Weg zu bereiten, dass das Kapital bessere Verwertungsbedingungen zum Zwecke der Profitmaximierung vorfindet. Es manipuliert die Mehrheit dahingehend, jubelnd und unkritisch den Interessen der herrschenden Minderheit zu folgen und dadurch ihre ureigensten Interessen aus dem Blick zu verlieren oder gar zu leugnen. Über die Verlogenheit der BRD-Medien ein kleines Beispiel: die wahren Gründe für den Mauerbau. Es war nicht die SED, die die Gründe geschaffen hat. Sie war letztendlich als staatstragende Partei damit beauftragt, diesen Wall zu errichten.

Ein Volkspolizist und ein Angehöriger der Kampfgruppen der Arbeiterklasse sichern im August 1961 den Bau der Berliner Mauer. (Foto: Bundesarchiv / Bild 183-85701-0006 / Stöhr / CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Ich zitiere den Historiker Professor Siegfried Prokop: „Es gab damals das Vorhaben, einen Friedensvertrag mit der DDR abzuschließen, wenn möglich durch alle vier Alliierten. Dafür hatte die Sowjetunion 1958 eine Note überreicht. Sie war auch bereit, einseitig mit der DDR einen Friedensvertrag abzuschließen. Das wäre denkbar gewesen, weil ja Japan und die westlichen Alliierten auch einen separaten Friedensvertrag abgeschlossen hatten, unter Ausklammerung der Sowjetunion.

Das hätte bedeutet, dass die DDR die volle Lufthoheit über ihr Territorium bekommen hätte. Das heißt, alle Flugzeuge, die nach West-Berlin fliegen wollten, hätten die Genehmigung der DDR gebraucht bzw. hätten auf dem Flugplatz der DDR in Berlin-Schönefeld landen müssen und wären der Kontrolle der DDR-Behörden unterworfen worden, so wie das allgemein üblich ist. Das war die Politik, die zwischen Walter Ulbricht und Nikita Chruschtschow abgesprochen war. Das galt von Juni 1961 bis Ende Juli 1961.

Geheim-Ultimatum der USA

Dann gab es da eine einseitige Veränderung. Das ist heute nicht alles vollends schlüssig vom Historiker nachzuvollziehen, weil einige dieser Akten im NATO-Bereich noch immer gesperrt sind. Es gibt genügend belegbare Hinweise, dass John McCloy als Sonderbotschafter von US-Präsident John F. Kennedy Ende Juli 1961 Nikita Chruschtschow im Urlaub am Schwarzen Meer besucht hat und dass dort Entscheidungen in eine andere Richtung fielen. Diese andere Richtung ergab sich daraus, dass offenbar ein Geheim-Ultimatum übermittelt worden ist. Über das berichtet Franz Josef Strauß in seinen Memoiren.

US-Präsident John F. Kennedy (rechts) und der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow treffen sich im Juni 1961 in Wien. Gut zwei Monate später begann der Bau der Mauer. (Foto: U. S. Department of State / John F. Kennedy Presidential Library and Museum Boston / gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Danach sollte im Fall eines separaten Friedensvertrages und der Übertragung der Lufthoheit an die DDR eine US-amerikanische Atombombe auf ein sowjetisches Objekt in der DDR abgeworfen werden. Da hat dann Nikita Chruschtschow gesagt, das wäre zu gefährlich, es gebe jetzt nur noch die Land-Lösung. Das hieß zunächst einmal, dass in kürzester Zeit eine Abtrennung von West-Berlin vorbereitet werden musste und mit Stacheldrahtzaun erfolgte. Diese ganze Geschichte wurde Ulbricht bei der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder in Moskau vom 3. bis 5. August 1961 übermittelt.

Die BRD kannte die Wahrheit

Darüber gibt es einen ganz klaren Bericht des Nachrichten-Magazins ‚Der Spiegel‘ vom 29. November 1961. Das kann jeder nachlesen, obwohl es jetzt vom Westen ständig verleugnet wird. Da hat es einen Zusammenstoß zwischen Walter Ulbricht und Nikita Chruschtschow gegeben. Ulbricht war gegen eine solche Land-Lösung.“ Den BRD-Medien war die Wahrheit also von Anbeginn bekannt oder zumindest zugänglich. Trotzdem wird bis heute gejammert, und die böse SED war natürlich an allem schuld, weshalb der Sozialismus ja auch so verabscheuungswürdig ist.

Welche Rolle spielten in Ihrer Familie die Verbindung zum Widerstand gegen die Nazis einerseits und die Tatsache, dass Teile Ihrer Familie im Westen lebten, andererseits?

Mein Großvater war aufgrund seiner Aktivitäten im Widerstand gegen die politische Ordnung des „Dritten Reiches“ in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR frühzeitig in verantwortungsvolle Positionen gekommen. Dadurch hatte er sicher ein überdurchschnittliches Einkommen und ich als Enkel eine wunderschöne Kindheit, die ich auch heute noch ausschließlich mit der DDR, meinen Eltern und Großeltern in Verbindung bringe. Besser wäre nicht gegangen! Auf jeden Fall waren die Großeltern und vielleicht auch indirekt meine Eltern durchaus als privilegiert anzusehen.

Alexander Schlesinger als kleiner Junge. Mit im Bild: sein Großvater Artur, NS-Gegner und DDR-Politiker, und Cousine Patricia Schlesinger, die 2022 geschasste RBB-Intendantin. (Foto: Wotan1965 / CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Interessanterweise hat die Mitwirkung im antifaschistischen Widerstand nie eine große Rolle in unserer Familie gespielt. Weder meine Eltern noch die ,,Westverwandtschaft“ haben sich jemals dazu geäußert. Auch für die Großeltern waren Erzählungen aus dieser Zeit tabu. Für mich persönlich haben sich aus diesen Dingen keinerlei Vorteile ergeben. Trotz sicher vorhandener Probleme, die sich aus der Ausreise meines Onkels in die BRD ergeben haben mögen, haben die Großeltern dessen Entscheidung mitgetragen. Gegenseitige Besuche waren jederzeit möglich.

Den Wohlstand vorführen

Die Westverwandtschaft war während der seltenen Treffen eher darauf bedacht, uns „kleinen“ DDR-Bürgern ihren Wohlstand vorzuführen und uns als etwas dümmlich und minderwertig zu behandeln. Das hat sich auch nach der Annexion der DDR nicht geändert. Diese Tatsache hängt mir doch etwas an. Wir hätten uns gegenseitig so viel erzählen können, aber der Wunsch war von der „BRD-Seite“ nicht vorhanden. Das ist im Kleinen wie im Großen so. Wer meint, „gewonnen“ zu haben, blickt auf den Gegenüber herab.

Die Vergangenheit der Großeltern war für die Westverwandtschaft ganz offensichtlich nur von Interesse, als dass man damit Geld verdienen konnte. So hat der Ehemann von Patricia, Herr Gerhard Spörl, ein durchaus lesenswertes Buch über die Großeltern geschrieben, wobei er es fertiggebracht hat, die „Ostverwandtschaft“ nicht einmal zu erwähnen. Das hat mich wirklich sehr getroffen, denn auch und gerade wir, die wir immer dichter dran waren, hätten so einige gute Gedanken einfließen lassen können. Ich bin mal so vermessen zu behaupten, hätte sich Patricia aus erster Hand über die Befindlichkeiten der ,,Ossis“ erzählen lassen, wäre sie vielleicht noch heute Vorsitzende der ARD.

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Der Aufstand des „heiligen Deutschland“

Sein Widerstand war vergebens. Claus Schenk Graf von Stauffenberg wollte Adolf Hitler töten – und scheiterte. Sein Aufstand gegen die nationalsozialistische Herrschaft, die millionenfachen Tod über Europa gebracht und sich der kollektiven Freiheitsberaubung des deutschen Volkes schuldig gemacht hatte, schlug fehl. Nach wenigen Stunden waren die Männer und Frauen, die das Regime stürzen wollten, entwaffnet. Verhaftet. Oder tot. Mindestens 110 Menschen bezahlten ihren Versuch, die NS-Gräuel zu beenden und ein neues, besseres Deutschland zu schaffen, mit dem Leben.

„Hier starben für Deutschland“: Im Berliner Bendlerblock, heute Dienstsitz des Bundesministeriums der Verteidigung, damals Sitz des Befehlshaber des Ersatzheeres, erinnert eine Gedenktafel an Stauffenberg und vier weitere getötete Nazi-Gegner aus der Verschwörergruppe des 20. Juli. (Foto: Michael Klemm / CC BY-SA 3.0)

Wer waren die Helden des 20. Juli 1944? Meist wird der Widerstand um Stauffenberg auf seinen militärischen Kern reduziert. Tatsächlich wurde die Verschwörung vom 20. Juli insbesondere von konservativ denkenden Offizieren der Wehrmacht getragen. Der Kreis ihrer Unterstützer aber ging weit über die führend beteiligten Militärs hinaus. Der Potsdamer Historiker Kurt Finker sprach von den Widerstandskämpfern gegen die Nazis als den „wahren, den besseren Deutschen“. Was waren seine Wurzeln? Was waren die Quellen, die sein revolutionäres Tun speisten?

Wie ein Vermächtnis schleuderte der gescheiterte Hitler-Attentäter in der Nacht auf den 21. Juli 1944 dem Exekutionskommando seine ganze Überzeugung entgegen. „Es lebe das heilige Deutschland“, rief der 36-jährige Oberst Stauffenberg, bevor die Kugeln ihn und drei weitere Verschwörer gegen das NS-Regime auf dem Hof des Berliner Bendlerblocks aus dem Leben rissen. Stauffenberg, Spross eines alten schwäbischen Adelsgeschlechts, war zeitlebens Patriot – und überzeugter Christ.

Braune Terror-Herrschaft

Anfangs hatte Stauffenberg die Machtergreifung Adolf Hitlers noch begrüßt. Doch erkannte er nach Beginn des Zweiten Weltkriegs immer deutlicher den verbrecherischen Charakter der Nazi-Diktatur. Das „heilige Deutschland“, das der Adelige nach dem Sturz Hitlers aufbauen wollte, sollte sich vollkommen von der braunen Terror-Herrschaft unterscheiden. Die Werte des Christentums sollten es maßgeblich prägen. Stauffenberg und seine engsten Mitstreiter waren der Überzeugung, dass „menschliche Existenz auch im Staat ohne Bindung an Göttliches nicht gedeihen“ könne.

Was Stauffenberg vorschwebte, war allerdings kein naives amtskirchliches Idyll mit sonntäglichem Gottesdienst und massivem Priester-Einfluss. „Wir sind nicht das, was man im eigentlichen Sinne Katholiken nennt“, sagte Stauffenbergs Bruder Berthold nach dem Attentat im Verhör der NS-Geheimpolizei Gestapo. „Wir gingen nur selten zur Kirche und nicht zur Beichte. Mein Bruder und ich sind der Meinung, dass aus dem Christentum heraus kaum noch etwas Schöpferisches kommen kann.“ Gemeint war offenbar das amtliche Christentum: die Kirche.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg war 36 Jahre alt, als er Hitlers Leben mit einer Bombe im Führerhauptquartier ein Ende setzen wollte. (Foto: Gedenkstätte Deutscher Widerstand)

Stauffenbergs religiöse Versatzstücke hatten eine andere Quelle: den christlich-mystizistischen Dichter Stefan George. Mit ihm waren Claus und seine Brüder Berthold und Alexander bereits in jungen Jahren in Kontakt gekommen. George, dem eine hierarchische Gesellschaft mit einer geistig-seelischen Aristokratie vorschwebte, sammelte nach Ende des Ersten Weltkriegs einen Kreis von „Jüngern“ um sich, um mit ihnen die Grundlagen eines neuen deutschen Staatswesen zu schaffen. Stauffenbergs letzte Worte gehen nach Ansicht vieler Historiker auf Georges Vision eines „heiligen und geistigen Deutschlands“ zurück. Georges Gedicht „Der Widerchrist“ mit seiner eindringlichen Warnung vor dem „Fürst des Geziefers“ bestärkte Stauffenberg im Widerstand.

Attentat abgeblasen

Stauffenberg national-religiöse Prägung war in Widerstandskreisen keine Ausnahme. „Christ sein spielte bei unserem Widerstand eine entscheidende Rolle“, sagte später auch Philipp Freiherr von Boeselager. Er war 1942 zum Widerstand gestoßen, nachdem er von der Ermordung von Juden und Zigeunern erfahren hatte. Im März 1943 stand er selbst dicht davor, Hitler zu töten. Mit entsicherter Pistole saß er dem Diktator gegenüber und wartete auf das verabredete Signal, Hitler und Reichsführer-SS Heinrich Himmler zu erschießen. Doch Himmler erschien nicht und das Attentat wurde abgeblasen.

Boeselager, der erst 2008 starb, erinnerte sich an lebhafte Diskussionen, ob die Ermordung Hitlers mit christlichen Grundsätzen in Einklang zu bringen sei. Henning von Tresckow etwa, einer der führenden Köpfe der geplanten Erhebung, hatte große Bedenken, „einen neuen Staat mit dem Unrecht eines Mordes zu beginnen“. Jeder hatte die Tat mit seinem eigenen Gewissen zu vereinbaren. Boeselager wusste um die Verbrechen des Regimes und verweigerte sich dem gewaltsamen Umsturz nicht. Er besorgte den Sprengstoff, den Stauffenberg am 20. Juli 1944 um 12.42 Uhr in Hitlers Hauptquartier Wolfsschanze in Ostpreußen zur Explosion brachte.

Das vermutlich letzte Bild, das Stauffenberg (ganz links im Profil) lebend zeigt: Der spätere Attentäter am 15. Juli 1944 bei Adolf Hitler in der Wolfsschanze.
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Worum es beim Ukraine-Krieg wirklich geht

Glaubt man dem politischen und medialen Mainstream, so hat im Februar 2022 ein aggressiv-nationalistisches Regime in Gestalt der Russischen Föderation die friedliebende, demokratische Ukraine überfallen und mit einem Vernichtungskrieg überzogen. Unprovoziert und aus rein imperialistischen Beweggründen. Aber ist das wirklich so?

Buchautor Thomas Mayer stellt das gängige westliche Narrativ in Frage. Mit „Wahrheitssuche im Ukraine-Krieg – Um was es wirklich geht“ hat der gebürtige Allgäuer, der 1988 Mitbegründer von Mehr Demokratie war, für die Einführung von Regionalgeld wirkte und mehrere Volksbegehren begleitete, ein Buch vorgelegt, das hinter die Kulissen der Vorgeschichte des Ukraine-Kriegs blicken will.

Ein zerstörter russischer Panzer aus den ersten Tagen nach Beginn des Krieges. (Foto: Mvs.gov.ua / CC BY 4.0)

„Mich persönlich hat im Februar 2022 die Kriegsbeteiligung Deutschlands im Kern getroffen. Ich bin in dem Selbstverständnis aufgewachsen, von Deutschland darf nie wieder ein Krieg ausgehen. In der Ukraine sterben nun durch die vielen Milliarden Euro, die Waffenlieferungen und die militärische Unterstützung der NATO-Staaten hunderttausende Menschen. Das ist schwer auszuhalten“, beschreibt Mayer seine Beweggründe für das Buch.

Wie ist der Konflikt entstanden?

Er fragte sich: „Wie ist der Konflikt historisch entstanden? Mit welchen Weichenstellungen wurde auf den Krieg hingesteuert? Wie haben die Ukraine, die USA, die NATO und Russland die Eskalations-Spirale angetrieben?“ Im Interview spricht Mayer über seine Erkenntnisse und Einschätzungen.

Herr Mayer, für Ihr Buch haben Sie umfassend zur Vorgeschichte des russischen Einmarschs in der Ukraine geforscht. Was glauben Sie: Worum geht es wirklich in diesem Krieg, der schon über zwei Jahre dauert?

Ich sehe in der Überschau drei Hauptthemen: Erstens geht es darum, die Weltbevölkerung in einem psychologischen Kriegszustand und in Angst zu halten. So sind Menschen lenkbar. Es fällt zum Beispiel auf: Als der Krieg gegen das Corona-Virus an Kraft verlor, begann der Ukraine-Krieg.

USA seit 100 Jahren gegen Russland

Zweitens geht es um die Weltherrschaft der USA. Das geopolitische Interesse der USA ist es seit 100 Jahren zu verhindern, dass Russland sich mit Europa verbindet, damit kein gleichwertiger geopolitischer Konkurrent entsteht. Ich lege in meinem Buch gründlich die Tatsache dar, dass im Ukraine-Krieg nicht Russland der Angreifer war. Stattdessen hat der US-geführte Westen die Ukraine für einen lange vorbereiteten Stellvertreterkrieg gegen Russland missbraucht.

Drittens geht es in der Ukraine den dort regierenden Nationalisten darum, eine ethnisch reine Ukraine zu schaffen auf Kosten der 30 Prozent russisch-verbundener Bevölkerung.

Buchautor Thomas Mayer hinterfragt Russlands Kriegsschuld. (Foto: privat)

Welche Belege haben Sie gefunden, dass der Westen die Ukraine in einen Stellvertreterkrieg getrieben hat, um Russland zu schwächen?

Ich fand sehr viele Belege dafür. Das ist auch ein Grund, warum mein Buch so umfangreich wurde. Historisch betrachtet ist es eine übliche außenpolitische Strategie der USA, regionale Konflikte zu schüren und Stellvertreterkriege anzuzetteln. Die „Rand Corporation“, eine Denkfabrik des Pentagon und des CIA, beschrieb 2019 auf etwa 300 Seiten, was die USA tun sollte, um Russland zu schwächen und zu destabilisieren. Ein Vorschlag war, die
Waffenlieferungen und Militärhilfe für die Ukraine zu verstärken. Der seit 2014 laufende Krieg im Donbass sollte eskalieren, um Russland zu einem kostenreichen Engagement zu zwingen. Dieser Bürgerkrieg begann aufgrund des von den USA unterstützen verfassungswidrigen Maidan-Putsches.

„Es ging nie um die Ukraine“

Wie oft haben wir in den letzten Jahren von NATO-Politikern gehört, dass Russland nicht gewinnen dürfe. Es ging nie um Frieden oder die Ukraine. Unverblümt sprechen US-Militärs, wie zum Beispiel der einflussreiche General Jack Kean, der in einem Interview bei Fox News betonte: „Die Investition der Vereinigten Staaten in die Ukraine ist es wert. Die 66 Milliarden US-Dollar in 2022 sind nur 1,1 Prozent unseres Staatshaushaltes.“ Für 66 Milliarden Dollar erhalte man eine Ukraine, die die „russische Armee auf dem Schlachtfeld buchstäblich vernichtet“. Es ist also für die USA ein preiswerter Krieg. Dass dabei auch hunderttausende Soldaten sterben, spielt keine Rolle.

John M. „Jack“ Keane – hier eine Aufnahme von 1999 – ist ein ehemaliger General der US-Armee, der mittlerweile als TV-Kommentator tätig ist. (Foto: U.S. Army/gemeinfrei)

Sie sprechen ferner von einem psychologischen Kriegszustand, in welchem die Menschen gehalten werden. Was meinen Sie: Von wem – und wieso?

Das ist eine große Frage. Krieg beginnt immer mit Feindbild-Aufbau, Angst-Erzeugung und Massen-Hypnose. Das war auch für diesen nicht erklärten Krieg notwendig, den heute die NATO mit Russland führt. Es gibt verschiedene Akteure und Interessen: die Geopolitik der Weltmacht USA, die Finanzinteressen der Rüstungsindustrie, das Profilierungsinteresse von Politikern und übergreifend im Hintergrund der materialistische Transhumanismus, der Seele und Geist des Menschen leugnet und den Menschen als Maschine sieht, der moralisch von außen gesteuert werden kann.

Lügen und Unwahrheiten

Ein vielzitiertes Sprichwort lautet: „Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit.“ Soll heißen: Propaganda-Lügen bestimmen jeden Krieg. Welche wesentlichen Lügen und Unwahrheiten prägen den Ukraine-Krieg? 

Die wichtigste Unwahrheit ist, dass es ein unmotivierter Angriffskrieg Russlands war. Mit dieser Propagandalüge wurden die immensen Geld- und Waffenlieferungen und der Wirtschaftskrieg und die Sanktionen der Bevölkerung verkauft. Es war aber kein unmotivierter Angriffskrieg Russlands. Ich habe auf 600 Seiten beschrieben, wie Russland vom Westen zum Kriegseintritt gedrängt wurde. Wenn man die Vorgänge genau ansieht, zeigt sich, dass die Ukraine 2014 einen Angriffskrieg gegen die beiden Donbass-Republiken begann. Dem ging der verfassungswidrige Maidan-Putsch voraus, der von NATO-Staaten unterstützt wurde und mit dem Nationalisten in Kiew an die Macht kamen.

Die Proteste des „Euromaidan“ führten zum Sturz der Regierung des ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch. Thomas Mayer spricht von einem Putsch. (Foto: spoilt.exile from Kiev/Ukraine / CC BY-SA 2.0)
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Wie der Westen die Sowjetunion niederrang

Im Internet macht dieser Tage ein martialisches Zitat die Runde. Es stammt vom ehemaligen Vizekanzler Sigmar Gabriel. „Ich glaube, dass der Konflikt viel größer ist als nur in der Ukraine“, warnte der frühere SPD-Vorsitzende in der ZDF-Talkshow von Maybrit Illner. „Wir sehen, dass Russland schon heute in vielen anderen Regionen der Welt versucht, gegen den Westen anzutreten.“ Deswegen werde man ganz anders als bisher antworten müssen, nicht nur militärisch. „Im Grunde müssen wir die Russen so niederkämpfen, wie das mal mit der Sowjetunion gelungen ist!“

Sigmar Gabriel (vorne, Zweiter von links) im Gespräch mit Russlands Präsident Wladimir Putin. Dieses Bild entstand 2015. Heute fordert Gabriel, die Russen niederzukämpfen wie einst die Sowjetunion. (Foto: Kremlin.ru / CC BY 4.0)

Manch ein Beobachter mag im ersten Moment gemeint haben, Gabriel spiele auf das „Unternehmen Barbarossa“ an. Also auf die Invasion der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion im Sommer 1941, als deutsche Panzer gen Osten rollten. Dieser Angriff aber ging bekanntermaßen gewaltig schief. Und endete letztlich mit dem Untergang des Nazi-Regimes und der Spaltung Deutschlands. Das kann Gabriel unmöglich gemeint haben. Hat er auch nicht. Nein, Gabriel sprach vom Untergang der Sowjetunion Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre.

Aber welche Rolle spielte der Westen dabei? War wirklich er es, der das rote Riesenreich „niederkämpfte“? In der gängigen Vorstellung kollabierte der Ostblock aufgrund der Unzulänglichkeiten seines sozialistischen Wirtschaftssystems. Und nicht zuletzt aufgrund der herrschenden Unfreiheit, die immer mehr Menschen dazu bewegte, sich gegen das starre politische System aufzulehnen. Mancher schreibt sogar dem polnischen Papst Johannes Paul II. eine gewisse Rolle zu. Weil der sich auf die Seite der antikommunistischen polnischen Gewerkschaft Solidarność gestellt habe.

Niedergang des Sowjet-Imperiums

Ein Blick in die Details der Geschichte verrät: Der US-geführte Westen hatte trotz aller Entspannungspolitik tatsächlich einen gar nicht geringen Anteil am Niedergang des sowjetischen Imperiums. Er stellte sich ihm vor allem politisch entgegen, aber in nicht zu unterschätzendem Ausmaß auch wirtschaftlich. Der Westen trieb zwar Handel mit den Ostblock-Staaten, erhielt etwa russisches Erdgas geliefert. Zugleich sorgten aber westlicher Boykott und Embargos dafür, dass die Möglichkeiten der sozialistischen Staaten auf dem Weltmarkt deutlich eingeschränkt waren.

Beispiel: Mikroelektronik. Allen voran die DDR erkannte früh das Potenzial der Computer-Technik. Im sozialistischen Teil Deutschlands stellten mehrere volkseigene Betriebe nahezu alles im eigenen Land her, was für eine moderne Büro-Ausstattung und für die Automatisierung der Wirtschaft nötig war. Bis hin zum Industrie-Roboter „Made in GDR“. Da auf Mikroelektronik ein westliches Embargo herrschte, konnte der Arbeiter- und Bauern-Staat aber nicht einfach westliche Technik verbauen. Er musste auch die Komponenten selbst herstellen.

Der in Dresden entwickelte 1-Megabit-Speicherchip U 61000 war ein Meilenstein für die Computer-Technik der sozialistischen Staaten. Der Westen war ihm allerdings rund vier Jahre voraus. (Foto: Bundesarchiv / Bild 183-1989-0313-123 / CC-BY-SA 3.0 DE)

So entstand in der DDR eine für Ostblock-Verhältnisse äußerst fortschrittliche IT-Produktion. Während sich die sowjetischen Genossen ihre Chips meist illegal aus dem Westen besorgten und dann nachbauten, hatten die Techniker im VEB Forschungszentrum Mikroelektronik Dresden (ZMD) dies nicht mehr nötig. Trotzdem herrschte in der DDR verglichen mit dem Westen ein technologischer Rückstand von mehreren Jahren. Als das ZMD 1988 den 1-Megabit-Chip U61000 vorstellte, feierte die DDR dies als großen Wurf. In den USA dagegen war jener Stand der Technik schon 1984 erreicht.

Militärisch gegen die Sowjetunion

Damit nicht genug. Auch militärisch ging der Westen gegen die Sowjetunion vor. Wenn auch nur indirekt. 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. Dort hatten sich im Vorjahr „nationaldemokratische“ Kräfte an die Macht geputscht. Unter Nur Muhammad Taraki, dem Vorsitzenden des Revolutionsrates, näherte sich das Land der Sowjetunion an. Gewaltakte gegen die alte Oberschicht und vor allem die strenge Säkularisierung, die die neuen Machthaber durchzusetzen versuchten, trafen auf wachsenden Widerstand seitens traditionalistisch-konservativer Strukturen in der Bevölkerung.

Taraki bat die Sowjetunion um Militärhilfe. Der Kreml lehnte zunächst ab. 1979 verschärften sich die Spannungen auch innerhalb der neuen Führungsriege des nun Demokratische Republik Afghanistan genannten Staates. Hafizullah Amin, seit März 1979 Ministerpräsident und als Chef der Geheimpolizei Haupt-Verantwortlicher des Terrors, zwang Taraki zum Rücktritt und ließ ihn ermorden. Im Kreml befürchtete man, Amin könnte NATO-Truppen ins Land holen. Also beschloss Moskau einzugreifen. Bei der Erstürmung des Tajbeg-Palasts südlich von Kabul durch sowjetische Spezialkräfte fand Amin den Tod.

Der Tajbeg-Palast südlich von Kabul. Hier töteten sowjetische Spezialkräfte den afghanischen Machthaber Hafizullah Amin. (Foto: Tracy Hunter from Kabul / CC BY 2.0)
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Klima-Geschichte(n) und ein vergessener Vulkan

„So heiß wie seit mindestens 125.000 Jahren nicht“, titelt die Tagesschau. Gemeint ist damit eine Schätzung (!) des europäischen Klimawandeldiensts „Copernicus Climate Change Service“, wonach der vergangene Oktober weltweit im Schnitt 1,7 Grad wärmer war als vor Beginn der Industrialisierung. „Der Rekord wurde um 0,4 Grad Celsius gebrochen, was eine enorme Marge ist“, sagt Samantha Burgess, die stellvertretende Copernicus-Direktorin. An der Meeresoberfläche seien so hohe Temperaturen gemessen worden wie noch nie in einem Oktober.

Die Erde brennt: So in etwa stellen sich manche Menschen die „Klimahölle“ vor, in die sich der Planet nach Ansicht mancher Panikmacher durch die globale Erwärmung verwandelt. (Foto: Pixabay)

Schon im Juni hat die Erde erstmals im Sommer die Schwelle eines 1,5-Grad-Temperaturanstiegs gegenüber dem 19. Jahrhundert überschritten. Diese Schwelle, erläuterte damals der „Focus“, „ist deshalb bedeutsam, weil sich die Weltgemeinschaft bei der Pariser Klimakonferenz im Jahr 2015 darauf geeinigt habe, die Erderwärmung bis zum Jahr 2100 auf maximal 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen“.

Umstrittene Interpretation

Bei Copernicus geht man noch weit über solche Aussagen hinaus. Und das, obwohl der EU-Einrichtung lediglich Wetterdaten seit den 1940er Jahren vorliegen. „Wenn wir unsere Daten mit denen des IPCC kombinieren, können wir sagen, dass dies das wärmste Jahr der vergangenen 125.000 Jahre ist“, meint Vize-Direktorin Burgess. Der sogenannte „Weltklimarat“ IPCC greift laut der Erläuterung im Tagesschau-Beitrag auf Messwerte zurück, die auf der Auswertung von Eisbohrkernen, Baumringen und Korallen-Ablagerungen basieren. Genau deren Interpretation ist aber umstritten.

Seit Beginn der Industrialisierung steigen die globalen Temperaturen. Dem gängigen politisch-medialen Narrativ zufolge ist dies im Wesentlichen menschengemacht und liegt am steigenden Anteil des Kohlendioxids in der Atmosphäre. (Foto: gemeinfrei)

Andere Forscher gehen davon aus, dass der Nullpunkt der Klima-Diskussion, also der Beginn der Industrialisierung, der kälteste Zeitpunkt der zurückliegenden 10.000 Jahre ist. Seit Ende der letzten großen Eiszeit. Soweit muss man freilich nicht gehen. In jedem Fall aber liegt jener Bezugspunkt am Ende der sogenannten „Kleinen Eiszeit“. Sie dauerte mit wechselnder Intensität vom ausgehenden Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein an. Die Temperaturen lagen damals merklich unter denen des 20. Jahrhunderts, aber auch unter denen früherer Epochen wie Hochmittelalter oder klassische Antike.

Der Mensch ist schuld

Schuld an den vermeintlichen oder tatsächlichen Temperatur-Rekorden des Jahres 2023 sind laut dem Tagesschau-Beitrag – wie könnte es anders sein – die Kohlendioxid-Emissionen des Menschen. Dazu passend liefert ein zweiter Beitrag sogleich eine weitere Anklage an die Adresse der Befürworter fossiler Brennstoffe. Das Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad sei „mit den geplanten Fördermengen an Kohle, Öl und Gas kaum zu erreichen“, heißt es mit Verweis auf einen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). Die globale Öl- und Gasförderung verschärfe die Klimakrise.

Bilder des Wettersatelliten GOES-17 zeigen den Ausbruch des Hunga Tonga am Abend des 15. Januar 2022. Die Einzelbilder wurden in einem Abstand von rund 30 Sekunden aufgenommen. (Foto: U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration)

Kein Wort liest man dagegen vom untermeerischen Vulkan Hunga Tonga-Hunga Ha’apai im Pazifik. Dessen Mega-Eruption im Januar 2022 löste nicht nur einen Tsunami aus, verwüstete den Insel-Staat Tonga und störte die Satelliten-Kommunikation. Sie schleuderte auch enorme Mengen an Wasserdampf in die Atmosphäre. Der Ausbruch war nach Analysen von Vulkanologen eine der stärksten jemals gemessenen Eruptionen. Die Explosionsstärke war weit stärker als alle jemals durchgeführten Kernwaffentests und in etwa vergleichbar mit dem Ausbruch des Krakatau 1883. Jene Groß-Eruption führte auf der Nordhalbkugel zu einer um etwa 0,5 bis 0,8 Grad kühleren Temperatur.

Untypisch für einen Vulkan

Anders der Hunga Tonga. Experten zufolge erhöht die enorme Menge des in die Atmosphäre geschleuderten Wasserdampfs die globalen Temperaturen auf Jahre hinaus. Zwei Wochen nach der Eruption überwog der das Klima erwärmende Effekt der mehr als 100 Megatonnen Wasserdampf in der Stratosphäre den kühlenden Effekt der Schwefelaerosole. Eine Studie kam 2023 zu dem Schluss, dass der Wasserdampf „vermutlich und für einen großen Vulkanausbruch untypisch“ zu einem vorübergehenden globalen Temperaturanstieg führen werde. Auf mehr als 1,5 Grad gegenüber dem Beginn der Industrialisierung. 

Die Aschewolke vom Ausbruch des Hunga Tonga verdunkelt am 16. Januar 2022 Teile der Erdatmosphäre. Ausgenommen wurde das Bild von der Raumstation ISS. (Foto: NASA/Kayla Barron)

Andere Wissenschaftler meinen zwar, das der abkühlende Effekt der Aerosole überwogen und im Sommer 2022 sogar eine leichte Abkühlung verursacht habe. Die Gesamtmenge an Schwefeldioxid aber, die durch die Eruption in die Atmosphäre gelangte, wird auf nur 0,4 Megatonnen geschätzt. Ein fühlbarer Einfluss auf das Klima wäre laut Atmosphären-Forschern aber erst ab fünf Megatonnen zu erwarten. „Was die wahrscheinlichen Auswirkungen auf das Klima betrifft“, sei der Ausbruch des Hunga Tonga „einem Dutzend anderer Eruptionen in den letzten 20 Jahren nicht unähnlich“, erklärt Brian Toon von der University of Colorado.

Mehr Extrem-Wetter?

Davon liest man bei der Tagesschau nichts. Stattdessen dies: „Der Klimawandel führt zu Extremereignissen.“ Dazu gehörten laut dem Flaggschiff der öffentlich-rechtlichen Nachrichten-Vermittlung in diesem Jahr Überschwemmungen in Libyen, die Tausende Menschen töteten, heftige Hitzewellen in Südamerika und die schlimmste Waldbrandsaison, die Kanada je erlebt hat. Die tödlichen Fluten wurden indes nicht durch den Klimawandel oder steigende Temperaturen ausgelöst. Sondern durch den Bruch zweier veralteter Staudämme, deren mangelnde Widerstandskraft gegen Hochwasser Experten bekannt war und die zudem nur unzureichend gewartet wurden.

Die Fluten in Libyen hinterließen zahlreiche zerstörte Gebäude. (Foto: Mchs.gov.ru / CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Auch verursacht eine mögliche Erderwärmung keine Waldbrände. Auch wenn dies gut ins medial transportierte Bild von der Klima-Hölle passen würde. Bestenfalls können Dürre und Trockenheit dazu beitragen, dass ein entstandener Brand mehr Nahrung erhält. Grund für die teils verheerenden Feuer aber ist nicht das steigende Thermometer. Sondern meist Brandstiftung oder Fahrlässigkeit. Belege dafür gibt es zuhauf. Insbesondere aus den europäischen Waldbrand-Gebieten. Das aber erfährt der durchschnittliche Tagesschau-Leser bestenfalls im Kleingedruckten.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Brandmauer gegen Rechts ist gescheitert

Die Alternative für Deutschland ist kein ostdeutsches Phänomen mehr. Die Partei, der Kritiker „Rechtspopulismus“ bis hin zu „Rechtsextremismus“ vorwerfen, hat bei den jüngsten Wahlen in Hessen und Bayern bewiesen: Mit ihr ist auch im Westen zu rechnen. 14,6 Prozent erreichte die AfD am Sonntag bei der Landtagswahl im Freistaat. In Hessen sind es sogar 18,4 Prozent. Und damit merklich mehr als die 15 oder 16 Prozent, bei denen die Partei laut Umfragen kurz vor dem Urnengang lag.

Im Osten stärkste Kraft

Natürlich ist das noch weit entfernt von den Umfragewerten in den ost- und mitteldeutschen Ländern. Dort liegt die AfD teils bei weit über 30 Prozent. In Thüringen und Sachsen ist die Alternative mit Abstand stärkste Kraft in den Umfragen. Bayern und Hessen deuten nun an, dass das Potenzial der AfD auch im Westen längst nicht ausgeschöpft ist. Wenn die politische und die wirtschaftliche Krise, in der die Bundesrepublik steckt, anhält oder sich sogar noch verschärft, könnten immer mehr Menschen ihr Kreuz bei den „Rechtspopulisten“ um Alice Weidel und Tino Chrupalla machen.

Alice Weidel steht gemeinsam mit Tino Chrupalla an der Spitze der Alternative für Deutschland. (Foto: AfD)

Das macht die Partei für die etablierte Politik zu einer gefährlichen Konkurrenz. Zum ersten Mal seit ihrer Gründung vor gut zehn Jahren stellt die einstige „Professoren-Partei“ für viele Bürger eine echte Alternative zu CDU, SPD, Grünen und Co. dar. Wie geht die etablierte Politik mit diesem Erfolg um? Die Ausgrenzung der AfD und ihrer Wähler hat offensichtlich keinen Erfolg mehr. Die Alternative für Deutschland wird mittlerweile selbst von Menschen gewählt, die die Partei für rechtsextrem halten. Zugespitzt gesagt also: Die „Brandmauer“ gegen Rechts ist gescheitert.

Trotzdem fällt der etablierten Politik offenbar nichts wirklich Neues ein. Kanzler Olaf Scholz, dessen SPD in Hessen und Bayern historisch schlechte Ergebnisse eingefahren hat, ruft nach dem Erfolg der AfD dazu auf, die Demokratie zu verteidigen. „Die Stimmen, die auf eine rechtspopulistische Partei in Deutschland entfallen sind, müssen uns besorgen“, sagte Scholz zum Abschluss der deutsch-französischen Kabinettsklausur in Hamburg. Auch die Grünen in Bayern, mit 14,4 Prozent hinter der AfD und damit nur auf dem vierten Platz gelandet, fordern einen „Notfallplan für die Demokratie“.

Erinnerung an die DDR

Die AfD-nahe Desiderius-Erasmus-Stiftung soll keine öffentlichen Gelder mehr bekommen, hört man. Und Alt-Bundespräsident Joachim Gauck plädiert für ein breites Bündnis gegen die AfD, das Kritiker an die einstige Nationale Front der DDR erinnert. Man müsse der Alternative für Deutschland das klare Signal aussenden, dass sie niemals an die Macht kommen werde, sagte Gauck dem „Stern“. Sollte die AfD nach den Landtagswahlen im kommenden Jahr im Osten Deutschlands vorne liegen, müssten sich „alle demokratischen Parteien“ zusammentun: „von der CDU bis zur Linken“.

Ex-Bundespräsident Joachim Gauck. Er fordert ein breites Bündnis gegen die AfD: von der CDU bis zur Linkspartei. (Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten Hendrik Wüst (CDU) hat offensichtlich nichts gelernt. Er nennt die AfD eine „Nazipartei“. Er könne jeden Wähler, der mit der Politik der Ampel-Koalition oder der CDU unzufrieden ist, „nur warnen, diese Menschen zu wählen, diese Partei zu wählen“, sagte Wüst gestern. Björn Höcke, die der als Merkel-nah geltende CDU-Politiker als prägende Figur der Partei begreift, dürfe als „Faschist“ und als „Nazi“ bezeichnet werden. „Wenn die prägende Figur einer Partei ein Nazi ist, ist es eine Nazipartei“, sagte Wüst. „Mit denen geht gar nichts.“

AfD verächtlich machen

In einem Offenen Brief zum Ausgang der Wahlen in Bayern und Hessen, den Karin Zimmermann an die „Damen und Herren Politiker*innen“ der „Altparteien“ geschrieben hat, liest man: Die Wahlergebnisse „und die anschließend durch Ihre Honoratioren erfolgten Äußerungen“ zeigten, „dass Sie noch immer nicht verstanden haben, dass die von Ihnen seit zehn Jahren von Merkel begonnene Politik der Ausgrenzung, Verächtlichmachung, Kriminalisierung der AfD nicht zu dem beabsichtigten Ziel führt, sondern das Gegenteil bewirkt.“ Jenes Ziel sieht die Autorin in der möglichst vollständigen Eliminierung der unliebsamen Partei.

„Nehmen Sie zur Kenntnis, dass es im politischen Spektrum nicht nur linke und mittlere, sondern auch rechtsorientierte Auffassungen geben muss und geben wird“, schreibt Zimmermann. Und weist auf den elementaren Unterschied zwischen rechtsradikal und rechtsextrem hin, der im politisch-medialen Diskurs meist unbeachtet bleibt. „Über den Begriff des Extremismus besteht oft Unklarheit. Zu Unrecht wird er häufig mit Radikalismus gleichgesetzt“, heißt es vom Bundesamt für Verfassungsschutz.

Ein Aufmarsch von Rechtsextremisten in München. Der Unterschied zu Rechten oder Rechtsradikalen ist elementar. (Foto: Rufus46/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

„Rechtsextremisten lehnen die freiheitliche demokratische Grundordnung ab und wollen – auch unter Anwendung von Gewalt – ein autoritäres oder gar totalitäres staatliches System errichten“, definiert die Bundeszentrale für politische Bildung. Dagegen haben radikale politische Auffassungen „in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz“. Wer radikale Vorstellungen umsetzen will, „muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird; jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt“.

Fairness für die AfD

Der Bürger, meint Zimmermann, beginne zu merken, dass Äußerungen gegen die AfD reines Politiker-Geschwätz ohne Inhalt sind. Eine inhaltliche Auseinandersetzung finde nicht statt. Statt immer nur laut dazwischen zu schreien, wenn ein AfD-Vertreter im Bundestag spricht, sollte der politische Gegner besser einmal das Grundsatzprogramm der AfD lesen, fordert Zimmermann. „Jede Wette: Die meisten von Ihnen haben das bisher nicht getan.“ Weiter fordert sie: „Begegnen Sie der AfD mit Fairness. Die AfD ist eine von vielen Bürgern demokratisch gewählte Partei.“ Wahlergebnisse als freie Willensbekundungen des Souveräns, heißt es in dem Offenen Brief weiter, müssten respektiert werden.

„Wenn Sie nicht bemerken, dass ihre bisherige Politik gegenüber der AfD falsch ist und nachhaltig geändert werden muss, wird sich die jetzt sichtbare Entwicklung fortsetzen“, vermutet die Autorin. Dies dauere so lange an, bis die Politiker der etablierten Parteien verstanden haben, dass sie es sind, die sich ändern müssen, „um nicht im Abseits zu landen“.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Die Deutschen flüchten vor der Realität

Die Deutschen ziehen sich angesichts der zahlreichen Krisen der Gegenwart ins Private zurück. Das ist das Ergebnis einer tiefenpsychologischen Studie und einer repräsentativen Umfrage des Kölner Rheingold-Instituts im Auftrag der Düsseldorfer Identity Foundation, einer gemeinnützigen Stiftung für Philosophie. Die Erkenntnisse der Studie könne man als dramatisch bezeichnen, sagt Paul J. Kohtes, Gründer und Vorsitzender der Identity Foundation. Eine tiefe Resignation bedrohe unser nationales Zusammenleben. „Wir sehen zu, wie ein ganzes Land vor der Wirklichkeit in Deckung geht, während sich die Verantwortlichen in der Berliner Politik in klein-klein verheddern.“

Zwischen Klimawandel und Krieg

„Festgefahren zwischen Klimawandel und Krieg ist ein Großteil der Bevölkerung mit Blick auf Politik und Gesellschaft desillusioniert und reagiert auf die gespürte Aussichtslosigkeit mit einer Flucht ins private Glück“, heißt es von der Stiftung. Die große Mehrheit der Menschen in Deutschland, ergab die Befragung von 1000 repräsentativ ausgewählten Teilnehmern im Juni, hat kein Interesse mehr an Nachrichten und kein Vertrauen in die Politik. Um die allgegenwärtigen Krisen zu verdrängen, ziehen sich die Deutschen demnach in ein „wehrhaftes Schneckenhaus“ zurück. Zuversicht finden die Menschen im privaten Umfeld. Mit Blick auf Politik und Weltgeschehen herrsche dagegen eine „diffuse Endzeit- und Einbruchsstimmung“.

Die eigenen vier Wände werden für Millionen Deutsche zunehmend zum wichtigsten Bezugspunkt. Mit Politik und Weltgeschehen möchten viele nichts mehr zu tun haben. (Foto: Pixabay)

„Die Wucht der Krisen ist für die Menschen schwer auszuhalten“, liest man in den Ergebnissen der Studie, die mit „Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ überschrieben ist. „Durch die starke Verdrängung werden sich die Themen nicht konsequent vor Augen geführt und verlieren ihre Wucht.“ Ob vermeintlich drohende Klima-Katastrophe, der anhaltende Krieg in der Ukraine, die daraus resultierende Energie-Krise, die Talfahrt der deutschen Wirtschaft oder politische Radikalisierung – viele Deutsche erleben die Situation um sich herum als angespannt und feindselig. „Für viele wird mehr Aggressivität im Miteinander spürbar.“ Von dem Gefühl von Gemeinschaft und gegenseitiger Unterstützung „wie in den Anfängen der Corona-Zeit“ sei kaum etwas geblieben.

Gefahr für die Demokratie

Vielen der Befragten drängen sich Ohnmachtsgefühle auf. Darunter leidet auch das Vertrauen in die Demokratie. „Die aktuellen Herausforderungen werden als so groß und schwierig empfunden, dass in Frage gestellt wird, ob unsere Demokratie diesen standhalten kann“, fassen die Macher der Studie zusammen. Es bestehe die Angst, dass diktatorische Strukturen sich etablieren und das demokratische Wertesystem verloren geht. „Politische Radikalisierungen von rechts und links werden mit Sorge beobachtet. Der Wille zu Kompromissen fehlt, wodurch das Gefühl der Spaltung weiter wächst.“

Um ihr Heim in eine Wohlfühloase zu verwandeln, in der man Ruhe vor politischen Nachrichten hat, packen die Deutschen tatkräftig an. Mehr als 90 Prozent denken ans Renovieren oder zumindest ans Aufräumen. (Foto: Pixabay)

Der Rückzug ins Private geht den Erkenntnissen des Forscher-Teams um Anna Brand mit der Schaffung von Wohlfühloasen einher. 93 Prozent der Menschen verschönern demnach das eigene Zuhause, räumen auf, dekorieren, renovieren. 76 Prozent gehen auf Reisen, um so gewissermaßen dem tristen Alltag entfliehen zu können. Immerhin noch 56 Prozent der Befragten denken darüber nach, Deutschland zu verlassen und sich in einem anderen Land anzusiedeln. „Auch die Natur dient als Rückzugsort, in der Ruhe und Trost vom Alltag erfahren wird.“

Freunde geben Zuversicht

Gleichzeitig finden die Deutschen in „engen sozialen Kreise aus Gleichgesinnten“ Halt. „Meine Freunde geben mir viel Zuversicht. Wenn wir uns am Wochenende treffen und etwas trinken gehen, dann haben wir einfach nur Spaß. Da gibt es dann keine schlechten Nachrichten und man denkt, irgendwie wird das schon alles werden“, zitiert die Studie den 29-jährigen Thomas. Der 49-jährigen Anja bietet die Familie Stabilität in herausfordernden Zeiten. „In meiner kleinen Familie tanke ich auf. Da habe ich Gefühle von Rückhalt und Verlässlichkeit. Es ist ein schönes Gefühl, zusammen Dinge durchzustehen, auch wenn die Zeiten schwieriger sind.“

1848 wurde der Drang zur Freiheit für die Deutschen unerträglich. Sie wehrten sich gewaltsam gegen die Willkür der Fürsten. (Foto: gemeinfrei)

Dass die Deutschen sich ins Private zurückziehen, ist keine neue Entwicklung. In Krisenzeiten war dies immer wieder der Fall. Klassisches Beispiel ist die Epoche des Biedermeier. Der Begriff bezeichnet die Zeit nach dem Ende des Wiener Kongresses 1815, der Europa nach dem Sieg über Napoleon neu ordnete. Der nationale Befreiungskampf des deutschen Volkes gegen die französische Fremdherrschaft war von Erfolg gekrönt. Viele erhofften sich nun einen politischen Neuanfang in einem freien und geeinten Deutschland. Ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Auf dem Kongress setzte sich die konservative Reaktion der Fürsten durch.

Rigides Polizei-System

Statt Einheit, Freiheit und Demokratie bekam das Land den Deutschen Bund als lockere Vereinigung der Fürstentümer und freien Städte. Und statt Meinungs- und Pressefreiheit etablierte die Obrigkeit ein rigides Spitzel- und Polizei-System. Wer sich gegen die Herrschaft der Fürsten auflehnte, wer Grundrechte und nationale Einheit forderte, dem drohten lange Haftstrafen. Statt sich dieser Gefahr auszusetzen, zogen sich die meisten Deutschen in den Schutz ihres Häuschens oder der Natur zurück. Erst 1848 erhoben sich die nach Freiheit verlangenden Massen unter den deutschen Farben Schwarz-Rot-Gold und erkämpften die erste gesamtdeutsche demokratische Verfassung.

Nicht nur die Biedermeier-Epoche, den sogenannten Vormärz, zeichnet ein Rückzug ins Private aus. Auch in der DDR waren Repression und SED-Parteilinie besser zu ertragen, wenn man sich nicht politisch äußerte. In besonderem Maße gilt das für die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Diktatur. Der Rückzug ins Private, in die eigenen vier Wände, in die Familie, war die einzige Möglichkeit des Widerstands gegen die zunehmend radikale Ideologie und brutale Gewaltherrschaft. Sich der verordneten „Volksgemeinschaft“ verweigern, ohne offen dagegen zu sein. Mehr Widerspruch gegen die braunen Herren wäre ohne Lebensgefahr kaum möglich gewesen.

Der Münchner Bürgerbräukeller am Tag nach dem Anschlag vom 8. November 1939. Weil Adolf Hitler die Veranstaltung früher als geplant verließ, entging der NS-„Führer“ dem Attentat. (Foto: Bundesarchiv / Bild 183-E12329 / Wagner / CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Den Weg in den aktiven gewaltsamen Widerstand gingen nur wenige. Ein Georg Elser zum Beispiel. Der linksgerichtete Württemberger verübte am 8. November 1939 im Münchner Bürgerbräukeller ein Sprengstoff-Attentat auf Adolf Hitler. Es scheiterte knapp, da der „Führer“ den Ort bereits vor der Explosion verlassen hatte. Oder ein patriotischer Offizier wie Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Sein Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 brachte nationalgesinnte Konservative, Liberale und linke Nazi-Gegner zusammen. Sie einte die patriotische Sorge um Deutschland, das sie von einem verbrecherischen Regime befreien wollten, dessen Politik geradewegs in den Untergang führte.

Mit dem Leben bezahlt

Stauffenberg und zahlreiche seiner Mitverschwörer hatten die NS-Herrschaft zunächst noch begrüßt, sich aber von der immer offener zutage tretenden Politik gegen den Frieden und die Interessen des deutschen Volkes abgewandt. Stauffenbergs Sprengstoff-Attentat auf Hitler scheiterte wie jener Georg Elsers. Und wie jener bezahlte der schwäbische Offizier die Tat mit dem Leben. Der Umsturz-Plan „Unternehmen Walküre“ lief zwar trotz des erfolglosen Anschlags an, blieb aber in den Anfängen stecken. Noch in der Nacht nach dem Attentat in Hitlers Hauptquartier „Wolfsschanze“ in Ostpreußen wurden die Haupt-Verschwörer um Stauffenberg und Generaloberst Ludwig Beck in Berlin hingerichtet.

Claus Schenk Graf von Stauffenberg (ganz links) am 15. Juli 1944 in Adolf Hitlers Hauptquartier Wolfsschanze, wenige Tage vor dem Attentat auf den „Führer“. (Foto: Bundesarchiv / Bild 146-1984-079-02 / CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Elser oder Stauffenberg genügte der stille Widerspruch nicht. Es reichte ihnen nicht, einfach bloß nicht mitzumachen. Sich zurückzuhalten. Oder ihr privates Glück zu suchen, während rings um sie herum alles in Scherben fällt. Die übergroße Mehrheit der Deutschen hatte diesen Mut eines Elser oder eines Stauffenberg nicht. Zumindest nicht in der Nazi-Zeit. Dafür rund 100 Jahre früher, als sich die Deutschen in ihrer Revolution gegen Fürsten-Tyrannei und Unterdrückung auflehnten. Und 1989, als Millionen Ost- und Mitteldeutsche die Krise ihres Landes, die Lügen der Medien und die Herrschaft ihrer Polit-Kaste satt hatten. Und ihr System der Einheits-Meinung und der Gängelung hinwegfegten.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Attacken auf Christen auch im Westen

Christen gehören weltweit zu den am häufigsten in ihren Grund- und Menschenrechten eingeschränkten Menschen. Sie werden attackiert, diffamiert und diskriminiert. In zahlreichen Staaten ist die Religionsfreiheit nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Wenn überhaupt. Das geht aus dem Bericht „Religionsfreiheit weltweit“ des katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ hervor. Eine Untersuchung der katholischen Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche bestätigt die Ergebnisse. Selbst in westlichen Ländern, wo die Glaubens- und Gewissensfreiheit Verfassungsrang haben, fällt es Christen zunehmend schwer, ihre religiösen Überzeugungen öffentlich und ungehemmt zu vertreten.

Verachtet und angegriffen

Beispiel: Flüchtlingsheime. Hier zeigte sich insbesondere auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise ab 2015, dass Christen oft Asylsuchende zweiter Klasse waren. Von ihren muslimischen Heim-Genossen wurden sie teils verachtet und ausgegrenzt und mitunter sogar angegriffen. Für die nahöstliche Religions-Gemeinschaft der Jesiden gilt dasselbe. Der Terror, den diese Menschen in ihrer Heimat erlebten – er verfolgte sie bis nach Deutschland. Hinzu kommt, dass deutsche Behörden vor allem bei erst kürzlich zum Christentum konvertierten Flüchtlingen oft pauschal davon ausgehen, dass der Übertritt nur erfolgte, um die Chancen zu verbessern, bleiben zu dürfen.

Felix Nmecha (rechts) im Duell mit Jérôme Onguéné beim Champions-League-Spiel des VfL Wolfsburg gegen den FC Salzburg. (Foto: Werner100359/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Zweites Beispiel: Fußball-Nationalspieler Felix Nmecha. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters kann ohne Übertreibung zu Deutschlands besten Fußballern gezählt werden. Auch wenn das angesichts der anhaltenden Erfolgs-Flaute beim DFB-Team nicht übertrieben viel aussagen mag. Im März spielte der 22-Jährige erstmals im Trikot der A-Nationalmannschaft. Seither berücksichtigte ihn Bundestrainer Hansi Flick nicht mehr. Warum? Offenbar passt er nicht so recht ins bunte Bild der DFB-Auswahl. Nmecha ist überzeugter Christ. Im Internet macht er daraus keinen Hehl. Mitunter teilt er auch Beiträge, die die Gender-Ideologie kritisieren. Damit gilt man heutzutage schnell als trans-feindlich.

Das kostete Nmecha beinahe den Wechsel vom VfL Wolfsburg zu Fast-Meister Borussia Dortmund. Als die ersten Transfer-Gerüchte aufkamen, protestierte eine Fan-Initiative heftig. Nmecha passe nicht zu einem toleranten und offenen Club wie dem BVB, hieß es. Am Ende war den Verantwortlichen im Verein die Spielstärke des Mittelfeld-Mannes offenbar wichtiger als politische Bedenken. Am Montag unterschrieb der Jungstar bei den Dortmundern einen bis 2028 gültigen Vertrag. Nmecha, beeilten sich Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke und BVB-Präsident Reinhold Lunow zu versichern, habe sie überzeugt, dass er „kein transphobes oder homophobes Gedankengut“ in sich trage. Er respektiere und liebe alle Menschen „unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder sexuellen Orientierung“.

Mit dem Tod bedroht

Wenn nun schon im christlich geprägten Westen Christen nicht sicher sind. Ihre Meinung nicht frei äußern können, ohne sich rechtfertigen oder erklären zu müssen. Wenn sie mitunter sogar um Leib und Leben fürchten müssen – um wie viel schwieriger muss dann erst das Leben als Christ in Ländern sein, für die Glaubens- und Gewissensfreiheit nicht einmal ein Lippenbekenntnis ist? Totalitäre Staaten wie Nordkorea, das bei der weltweiten Rangfolge fehlender Religionsfreiheit von „Kirche in Not“ stets Spitzenplätze belegt. Oder muslimische Länder wie Pakistan. Dort kommt es immer wieder zu Übergriffen auf Christen. Ein Blasphemiegesetz bedroht Nicht-Muslime, denen vorgeworfen wird, den Islam, seinen Stifter Mohammed oder den Koran herabzuwürdigen, mit Haft und sogar mit Tod.

Bei den Ausschreitungen im indischen Bundesstaat Manipur zerstörte Fahrzeuge einer kirchlichen Einrichtung. (Foto: © Kirche in Not)

Zu den Sorgenkindern in Sachen Religionsfreiheit zählt zunehmend auch Indien. Seit Anfang Mai halten nach Angaben von „Kirche in Not“ im ostindischen Bundesstaat Manipur Ausschreitungen gegen religiöse Minderheiten an. Das Hilfswerk vermutet dahinter einen Plan, den hinduistischen Teil der Bevölkerung im Vorfeld der kommenden Parlamentswahlen auf Kurs der Regierungspartei BJP zu bringen und die Bevölkerung zu spalten. Dies vermutet ein katholischer Bischof, der aus Sicherheitsgründen namentlich nicht genannt werden möchte. „Im April 2024 wird in Indien gewählt, und so wollen die Hindu-Nationalisten die Menschen vorher terrorisieren. Sie werden Christen und Muslime unter Druck setzen und wollen dadurch die Hindus für sich gewinnen“, sagt er.

Weit über 100 Tote

Der Bundesstaat Manipur grenzt an Myanmar. Immer wieder kommt es dort zu Spannungen zwischen der mehrheitlich hinduistischen Volksgruppe der Meitei und den christlichen Kuki und Naga. Letztere werden laut „Kirche in Not“ von der Regierung als „geschützter Stamm“ anerkannt. Das bringe bestimmte Privilegien mit sich. Landbesitz zum Beispiel. Die Meitei fordern diese Privilegien nun ebenfalls für sich ein. Nach Demonstrationen Anfang Mai brachen schwere Unruhen aus. Die Zahl der Toten soll unbestätigten Angaben zufolge mittlerweile bei weit über 100 liegen. Nach Angaben der indischen Erzdiözese Imphal sind bereits mehr als eine halbe Million Menschen geflohen. 

Niedergebrannt und verwüstet wurde dieses katholische Gemeindezentrum im ostindischen Erzbistum Imphal. (Foto: © Kirche in Not)

Behörden und Medien sprechen von einem rein ethnischen Konflikt. Der Gesprächspartner von „Kirche in Not“ betont jedoch, die Ausschreitungen seien mittlerweile zu einem interreligiösen Problem geworden. „Der eigentliche Grund für den Konflikt ist die Größe der christlichen Bevölkerung. Die Hindus sind der Meinung, dass es ihnen erlaubt sein sollte, Land zu besitzen, das den Christen gehört.“ Rund 250 Kirchen wurden nach Angaben des Bistums Imphal zerstört. Auch Gotteshäuser der christlichen Minderheit unter den Meitei. „Das ist ein starkes Indiz dafür, dass es hier nicht nur um Land geht“, sagt der Bischof.

Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Das ungesühnte Massaker von Sivas

Am 2. Juli 1993, vor genau 30 Jahren, starben bei einem mutmaßlich islamistisch motivierten Brandanschlag im türkischen Sivas 37 Menschen. Die weitaus meisten Opfer waren Aleviten. In der Türkei gehören dieser muslimischen Glaubensgemeinschaft Schätzungen zufolge gut 15 Prozent der Bevölkerung an. Bis heute ist das Verbrechen in der zentralanatolischen Stadt ungesühnt. Weder juristisch noch politisch wurde es jemals aufgearbeitet. Das kritisiert die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen scharf. Und mahnt zugleich ein Ende der Unterdrückung der alevitischen Gemeinschaft an. Auch im jüngsten Wahlkampf habe es wieder massive Hetze gegen Aleviten gegeben. 

Täter auf freiem Fuß

Der Brandanschlag von 1993 traf das Hotel Madımak. 35 der Opfer waren nach Angaben der GfbV alevitischer Herkunft, bei zwei weiteren handelte es sich um Angestellte des Hotels. „Viele der Täter sind bis heute auf freiem Fuß“, kritisieren die Göttinger Menschenrechtler. „Neun von ihnen sollen inzwischen in Deutschland leben, einige die deutsche Staatsbürgerschaft haben.“ In der Bundesrepublik leben den Angaben zufolge etwa eine Million Aleviten. In der Türkei seien sie seit Jahrzehnten Verfolgung und Diskriminierung ausgesetzt. „Es gab immer wieder Pogrome“, heißt es von der GfbV. Allein in der Region Dersim starben 1938 etwa 70.000 Aleviten bei Übergriffen. Die Göttinger Gesellschaft rückt diese Taten in die Nähe eines Genozids. Der Grund für den Hass? Viele sunnitische Muslime betrachten ihre alevitischen Glaubensgeschwister als Häretiker.

Bei einer Demonstration in Hannover zeigen Aleviten ein Plakat mit den Porträts von 33 Künstlern, die 1993 bei dem Brandanschlag in Sivas starben. (Foto: Bernd Schwabe in Hannover/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Dem Anschlag war ein alevitisches Kulturfestival zu Ehren des alevitischen Dichters Pir Sultan Abdal vorausgegangen, der im Jahr 1550 gestorben sein soll. Zuverlässige historische Überlieferungen zu seinem Leben existieren allerdings nicht. Bei dem Festival erklärte dem Internet-Lexikon Wikipedia zufolge der Schriftsteller Aziz Nesin, er halte einen Teil der türkischen Bevölkerung für „feige und dumm“, da sie nicht den Mut hätten, für die Demokratie einzutreten. Dies soll konservative Sunniten derart provoziert haben, dass sich am 2. Juli eine aufgewühlte Menschenmenge vor jenem Hotel Madımak versammelte. Dort wohnten Aziz Nesin und andere Teilnehmer des Festivals. Die nach Schätzungen bis zu 20.000 Sunniten kamen teils direkt von ihrem Freitagsgebet.

Kein Hotel mehr

Aus der Masse der wütend protestierenden Menschen flogen Brandsätze gegen das Hotel. Das Gebäude soll im Wesentlichen aus Holz gebaut gewesen sein. So breitete sich das Feuer rasend schnell aus. Weil die wütende Menschenmenge vor dem Hotel die Fluchtwege blockierte, gelangten die Eingeschlossenen nicht ins Freie. Und verbrannten. Aziz Nesin, dem der Anschlag womöglich in erster Linie galt, überlebte mit nur leichten Verletzungen. Der Tatort ist heute kein Hotel mehr. Das Gebäude wird als Kulturzentrum genutzt. Auch eine Gedenkstätte für die Opfer des Anschlags befindet sich dort. Aleviten fordern immer wieder, aus dem Kulturzentrum ein „Friedens-Museum“ zu machen. Bislang vergebens.

Das wiederhergerichtete Hotel Madımak in Sivas. (Foto: gemeinfrei)

Ebenfalls nicht erfolgreich sind alevitische Verbände mit ihrer Forderung nach einer unabhängigen Aufklärung des Anschlags. „Abgesehen von Schauprozessen gegen Einzelne ist nichts passiert“, sagt GfbV-Nahostexperte Kamal Sido. Die meisten Täter seien auf freiem Fuß. Zu den Hintermänner, „auf deren Hetze die Verbrechen zurückgehen“, zählt Sido auch den heutigen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Sie hätten sich weder entschuldigt noch daraus gelernt. „Im Gegenteil: Während des letzten Wahlkampfs haben Erdoğan und seine Anhänger in vielfältiger Form massiv gegen die alevitische Minderheit gehetzt.“ Wirklich überraschend ist das nicht: Erdoğans Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu ist selbst Alevit. 

Nicht aufgearbeitet

Wäre das Verbrechen von Sivas politisch aufgearbeitet worden, meint Kamal Sido, hätte es im Wahlkampf weniger Hetze gegen Aleviten gegeben. „Es ist unerträglich, dass Menschen in der Türkei immer noch Angst haben, sich zu ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit zu bekennen und offen darüber zu sprechen“, kritisiet Sido. „Eine alevitische, kurdische, armenische, jesidische, christliche oder jüdische Herkunft ist kein Verbrechen. Ein Verbrechen ist es, jemanden wegen seiner Abstammung, seiner Sprache, seines Glaubens oder seiner politischen Überzeugung zu benachteiligen oder zu verfolgen.“ Diesen Grundsatz müsse auch die Türkei respektieren.

Thomas Wolf