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Im Blickpunkt

Perversion oder Selbstbestimmung?

In mehreren ukrainischen Regionen laufen Abstimmungen, die über den Anschluss an Russland entscheiden sollen – Was sagt das Völkerrecht zu den Referenden?

Als jüngstes Beispiel für eine vollendete Abspaltung kann der Südsudan gelten. Anders als im Fall der Ostukraine stimmte die Regierung des Sudan der Selbstständigkeit des Südens aber zu. Vergleichbar mit dem Donbass ist dagegen das Beispiel Kosovo. 1999 besetzten NATO-Truppen das mehrheitlich von Albanern besiedelte Gebiet und lösten es damit faktisch aus Serbien heraus. Gegen den Willen der serbischen Regierung in Belgrad erklärte sich das Kosovo 2008 für unabhängig. Sofort wurde dies im Westen anerkannt. Serbien akzeptiert die Abtrennung des Kosovo bis heute nicht. Und mit ihm die einstige Schutzmacht Russland. Zugleich nutzt Moskau das Kosovo aber als Präzedenzfall für das eigenen Vorgehen.

Salva Kiir Mayardit (mit Hut) führte den Südsudan in die Unabhängigkeit. Seit 2011 ist er Präsident des jüngsten international anerkannten Staates der Welt. (Foto: Al Jazeera English/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Dass die Abstimmungen in der Ukraine eine Mehrheit für den Beitritt zur Russischen Föderation ergeben werden, ist kaum zu bezweifeln. Im Donbass hat die mehrheitlich russischsprachige Bevölkerung schon 2014 für die Loslösung von Kiew gestimmt. Ob man die damaligen Referenden nun als gefälscht ansieht oder nicht: In den vergangenen acht Jahren des Bürgerkriegs dürfte die Zahl jener, die zur Ukraine halten, in den „Volksrepubliken“ noch weiter geschrumpft sein. Zu sehr wurde die Zivilbevölkerung seit 2014 durch ukrainischen Beschuss in Mitleidenschaft gezogen. Den russischen Einmarsch vom 24. Februar begreifen viele als Befreiung.

Ein anderes Ergebnis

Anders als in den Donbass-Bezirken Donezk und Lugansk stellen Russischsprachige weder in Saporischschja noch in Cherson die Bevölkerungsmehrheit. Bliebe den Menschen eine freie Wahl – das Ergebnis würde hier anders ausfallen als im Donbass. Echte Überraschungen aber sollte man bei einem Urnengang unter den herrschenden Kriegsbedingungen nicht erwarten. Zumal die Gegner einer Abspaltung die Abstimmung ohnehin boykottieren. Kiew, so wurde mehrfach betont, will jeden als Verräter verfolgen, der auch nur an dem Referendum teilnimmt. Bis zu 15 Jahre Haft drohen.

Soldaten mit Uniformen ohne Hoheitszeichen, die sogenannten „grünen Männchen“, während der Krim-Krise 2014. Die Ukraine will die seit acht Jahren russische Halbinsel zurückerobern. (Foto: Anton Holoborodko/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Ohnehin bleibt die Wirkung der Volksabstimmungen begrenzt. Russland wird erwartbar eine Mehrheit für seine Politik erhalten. Die Haltung des Westens wird sich dadurch genauso wenig ändern wie hinsichtlich der Krim 2014. Als die Halbinsel damals für die Abspaltung und den Anschluss an Russland votierte, wollte man das in Berlin, Brüssel und Washington nicht akzeptieren. Man sprach – wie jetzt – von einem Scheinreferendum. Und das, obwohl Experten zu dem Schluss kamen, dass das Votum im Kern den Willen der Menschen widerspiegelte.

Weitere Eskalation möglich

Eine Lösung des Konflikts machen die Abstimmungen so oder so nicht wahrscheinlicher. Eher sind sie geeignet, zu einer weiteren Eskalation zu führen. Schließlich könnte dann in Kürze „russisches Territorium“ von ukrainischen Truppen attackiert werden. Der Kreml hat angekündigt, dass er dies als Angriff auf die Russische Föderation bewerten wird. Die Regierung in Kiew machte ihrerseits mehrfach deutlich, die Abspaltungen keinesfalls hinzunehmen. Selbst die Krim, seit acht Jahren fest in russischer Hand, will man zurückerobern.

Thomas Wolf

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