Kategorien
Im Blickpunkt

Klima-Geschichte(n) und ein vergessener Vulkan

„So heiß wie seit mindestens 125.000 Jahren nicht“, titelt die Tagesschau. Gemeint ist damit eine Schätzung (!) des europäischen Klimawandeldiensts „Copernicus Climate Change Service“, wonach der vergangene Oktober weltweit im Schnitt 1,7 Grad wärmer war als vor Beginn der Industrialisierung. „Der Rekord wurde um 0,4 Grad Celsius gebrochen, was eine enorme Marge ist“, sagt Samantha Burgess, die stellvertretende Copernicus-Direktorin. An der Meeresoberfläche seien so hohe Temperaturen gemessen worden wie noch nie in einem Oktober.

Die Erde brennt: So in etwa stellen sich manche Menschen die „Klimahölle“ vor, in die sich der Planet nach Ansicht mancher Panikmacher durch die globale Erwärmung verwandelt. (Foto: Pixabay)

Schon im Juni hat die Erde erstmals im Sommer die Schwelle eines 1,5-Grad-Temperaturanstiegs gegenüber dem 19. Jahrhundert überschritten. Diese Schwelle, erläuterte damals der „Focus“, „ist deshalb bedeutsam, weil sich die Weltgemeinschaft bei der Pariser Klimakonferenz im Jahr 2015 darauf geeinigt habe, die Erderwärmung bis zum Jahr 2100 auf maximal 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter zu begrenzen“.

Umstrittene Interpretation

Bei Copernicus geht man noch weit über solche Aussagen hinaus. Und das, obwohl der EU-Einrichtung lediglich Wetterdaten seit den 1940er Jahren vorliegen. „Wenn wir unsere Daten mit denen des IPCC kombinieren, können wir sagen, dass dies das wärmste Jahr der vergangenen 125.000 Jahre ist“, meint Vize-Direktorin Burgess. Der sogenannte „Weltklimarat“ IPCC greift laut der Erläuterung im Tagesschau-Beitrag auf Messwerte zurück, die auf der Auswertung von Eisbohrkernen, Baumringen und Korallen-Ablagerungen basieren. Genau deren Interpretation ist aber umstritten.

Seit Beginn der Industrialisierung steigen die globalen Temperaturen. Dem gängigen politisch-medialen Narrativ zufolge ist dies im Wesentlichen menschengemacht und liegt am steigenden Anteil des Kohlendioxids in der Atmosphäre. (Foto: gemeinfrei)

Andere Forscher gehen davon aus, dass der Nullpunkt der Klima-Diskussion, also der Beginn der Industrialisierung, der kälteste Zeitpunkt der zurückliegenden 10.000 Jahre ist. Seit Ende der letzten großen Eiszeit. Soweit muss man freilich nicht gehen. In jedem Fall aber liegt jener Bezugspunkt am Ende der sogenannten „Kleinen Eiszeit“. Sie dauerte mit wechselnder Intensität vom ausgehenden Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein an. Die Temperaturen lagen damals merklich unter denen des 20. Jahrhunderts, aber auch unter denen früherer Epochen wie Hochmittelalter oder klassische Antike.

Der Mensch ist schuld

Schuld an den vermeintlichen oder tatsächlichen Temperatur-Rekorden des Jahres 2023 sind laut dem Tagesschau-Beitrag – wie könnte es anders sein – die Kohlendioxid-Emissionen des Menschen. Dazu passend liefert ein zweiter Beitrag sogleich eine weitere Anklage an die Adresse der Befürworter fossiler Brennstoffe. Das Ziel der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad sei „mit den geplanten Fördermengen an Kohle, Öl und Gas kaum zu erreichen“, heißt es mit Verweis auf einen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP). Die globale Öl- und Gasförderung verschärfe die Klimakrise.

Bilder des Wettersatelliten GOES-17 zeigen den Ausbruch des Hunga Tonga am Abend des 15. Januar 2022. Die Einzelbilder wurden in einem Abstand von rund 30 Sekunden aufgenommen. (Foto: U.S. National Oceanic and Atmospheric Administration)

Kein Wort liest man dagegen vom untermeerischen Vulkan Hunga Tonga-Hunga Ha’apai im Pazifik. Dessen Mega-Eruption im Januar 2022 löste nicht nur einen Tsunami aus, verwüstete den Insel-Staat Tonga und störte die Satelliten-Kommunikation. Sie schleuderte auch enorme Mengen an Wasserdampf in die Atmosphäre. Der Ausbruch war nach Analysen von Vulkanologen eine der stärksten jemals gemessenen Eruptionen. Die Explosionsstärke war weit stärker als alle jemals durchgeführten Kernwaffentests und in etwa vergleichbar mit dem Ausbruch des Krakatau 1883. Jene Groß-Eruption führte auf der Nordhalbkugel zu einer um etwa 0,5 bis 0,8 Grad kühleren Temperatur.

Untypisch für einen Vulkan

Anders der Hunga Tonga. Experten zufolge erhöht die enorme Menge des in die Atmosphäre geschleuderten Wasserdampfs die globalen Temperaturen auf Jahre hinaus. Zwei Wochen nach der Eruption überwog der das Klima erwärmende Effekt der mehr als 100 Megatonnen Wasserdampf in der Stratosphäre den kühlenden Effekt der Schwefelaerosole. Eine Studie kam 2023 zu dem Schluss, dass der Wasserdampf „vermutlich und für einen großen Vulkanausbruch untypisch“ zu einem vorübergehenden globalen Temperaturanstieg führen werde. Auf mehr als 1,5 Grad gegenüber dem Beginn der Industrialisierung. 

Die Aschewolke vom Ausbruch des Hunga Tonga verdunkelt am 16. Januar 2022 Teile der Erdatmosphäre. Ausgenommen wurde das Bild von der Raumstation ISS. (Foto: NASA/Kayla Barron)

Andere Wissenschaftler meinen zwar, das der abkühlende Effekt der Aerosole überwogen und im Sommer 2022 sogar eine leichte Abkühlung verursacht habe. Die Gesamtmenge an Schwefeldioxid aber, die durch die Eruption in die Atmosphäre gelangte, wird auf nur 0,4 Megatonnen geschätzt. Ein fühlbarer Einfluss auf das Klima wäre laut Atmosphären-Forschern aber erst ab fünf Megatonnen zu erwarten. „Was die wahrscheinlichen Auswirkungen auf das Klima betrifft“, sei der Ausbruch des Hunga Tonga „einem Dutzend anderer Eruptionen in den letzten 20 Jahren nicht unähnlich“, erklärt Brian Toon von der University of Colorado.

Mehr Extrem-Wetter?

Davon liest man bei der Tagesschau nichts. Stattdessen dies: „Der Klimawandel führt zu Extremereignissen.“ Dazu gehörten laut dem Flaggschiff der öffentlich-rechtlichen Nachrichten-Vermittlung in diesem Jahr Überschwemmungen in Libyen, die Tausende Menschen töteten, heftige Hitzewellen in Südamerika und die schlimmste Waldbrandsaison, die Kanada je erlebt hat. Die tödlichen Fluten wurden indes nicht durch den Klimawandel oder steigende Temperaturen ausgelöst. Sondern durch den Bruch zweier veralteter Staudämme, deren mangelnde Widerstandskraft gegen Hochwasser Experten bekannt war und die zudem nur unzureichend gewartet wurden.

Die Fluten in Libyen hinterließen zahlreiche zerstörte Gebäude. (Foto: Mchs.gov.ru / CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

Auch verursacht eine mögliche Erderwärmung keine Waldbrände. Auch wenn dies gut ins medial transportierte Bild von der Klima-Hölle passen würde. Bestenfalls können Dürre und Trockenheit dazu beitragen, dass ein entstandener Brand mehr Nahrung erhält. Grund für die teils verheerenden Feuer aber ist nicht das steigende Thermometer. Sondern meist Brandstiftung oder Fahrlässigkeit. Belege dafür gibt es zuhauf. Insbesondere aus den europäischen Waldbrand-Gebieten. Das aber erfährt der durchschnittliche Tagesschau-Leser bestenfalls im Kleingedruckten.

Thomas Wolf

Kategorien
Im Blickpunkt

Ostdeutsche: Diffamiert und missverstanden

Rund die Hälfte der Menschen in Ost- und Mitteldeutschland stimmt rechtsextremen Positionen zu. Gut sieben Prozent haben sogar ein „geschlossen rechtsextremes Weltbild“. Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Universität Leipzig. In einzelnen Regionen ist der Wert noch deutlich höher. In Sachsen-Anhalt etwa beträgt er mehr als elf Prozent. Frühere Untersuchungen geben teils weit niedrigere Zahlen an. Die federführend von dem gleichen Forscher-Team durchgeführte Studie „Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten“ aus dem vergangenen Jahr 2022 etwa nennt für die neuen Bundesländer gerade einmal 2,1 Prozent Rechtsextreme.

Rechtsextreme im Westen

Laut jener Untersuchung im Auftrag der Heinrich-Böll-Stiftung und der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung liegt der Anteil der Menschen mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“ im Westen der Bundesrepublik bei 2,9 Prozent. Also sogar höher als in Ost- und Mitteldeutschland! Zugleich stellt die Studie einen anhaltend abnehmenden Trend fest. Rechtsextremistische Ansichten gehen also seit Jahren zurück. Grundsätzlich gilt das auch für den deutschen Osten. Auch wenn die Wissenschaftler hier über die Jahre teils „deutliche Schwankungen“ feststellten: von 8,0 Prozent 2002 über 15,8 im Jahr 2012 bis hin zu den 2,1 Prozent 2022.

Ein Aufmarsch von echten Rechtsextremisten in München. (Foto: Rufus46/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Bei Detailfragen unterscheiden sich Ost und West oft nur unwesentlich. Auffällig ist allerdings, dass die Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Verfassung festgelegt ist“ 2022 in Ost- und Mitteldeutschland mit über 90 Prozent sogar mehr als zehn Prozentpunkte höher lag als in der alten Bundesrepublik. Dort waren nur rund 79 Prozent mit dem demokratischen System zufrieden. Bei der Frage nach der Zustimmung zur „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“ lagen sowohl Ost als auch West zwischen 50 und 60 Prozent.

Sinnloses Engagement

Und nun also die aktuelle Studie des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts der Uni Leipzig. Mehr als sieben Prozent mit „geschlossen rechtsextremem Weltbild“. Dazu bewertet nicht einmal die Hälfte der befragten Ost- und Mitteldeutschen den Zustand der Demokratie hierzulande als positiv. Fast zwei Drittel halten es sogar für sinnlos, sich politisch zu engagieren. Gut drei Viertel gehen davon aus, ohnehin keinen Einfluss darauf zu haben, „was die Regierung tut“. Hinzu kommt die Schlussfolgerung, einzelnen rechtsextremen Positionen hänge rund die Hälfte der Menschen an. Etwa dem Wunsch nach einer „starken Partei“, die die „Volksgemeinschaft“ verkörpere.

Handelt es sich um echte neue Erkenntnisse der Leipziger Wissenschaftler? Hat die rechtsextremistische Einstellung zwischen Rügen und Erzgebirge wirklich so kurzfristig und so deutlich zugenommen? Innerhalb eines Jahres. Oder hat sich lediglich die Methodik der Forscher geändert? Zur Erinnerung: Die Werte für das rechtsextremistische Weltbild schwanken von Untersuchung zu Untersuchung und sind damit nur eingeschränkt deutbar. Allein die Frage, wann eine Aussage rechtsextrem ist, dürfte keineswegs allgemeingültig zu beantworten sein. Erst recht nicht in Zeiten, in denen laut Verfassungsschutz bereits das Bekenntnis zu einem ethno-kulturell verstandenen deutschen Volk als extremistisch gilt.

Mauer in den Köpfen

Und noch eine Möglichkeit besteht. Die Wissenschaftler, die an der aktuellen Studie beteiligt waren, stammen entweder aus den alten Bundesländern oder sind in einem Alter, dass sie mit Sicherheit nicht in der DDR, sondern gesamtdeutsch sozialisiert sind. Und das wiederum heißt im Wesentlichen: westdeutsch. Projizierten sie also lediglich ihre eigenen Vorurteile über ihre ost- und mitteldeutschen Landsleute in die Studie hinein? Böse Vorurteile wie jenes von „Dunkeldeutschland“? Die Mauer in den Köpfen – sie ist zwar kleiner geworden, aber auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch immer präsent.

Springer-Chef Mathias Döpfner (Zweiter von links) im Juni 2019 neben Verlegerin Friede Springer und dem früheren BILD-Herausgeber Kai Diekmann auf dem Dach der US-Botschaft in Berlin. Rechts im Bild: der später geschasste BILD-Chefredakteur Julian Reichelt. (Foto: United States Department of State/gemeinfrei)

„Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ Dieses Pauschal-Urteil stammt von Mathias Döpfner. Es zeigt beispielhaft und anschaulich, welche Vorurteile gegen Ost- und Mitteldeutsche in westdeutschen Köpfen noch vorherrschen. Der milliardenschwere Chef des Springer-Verlags schrieb dergleichen in einer internen Nachricht, aus der die „Zeit“ zitierte. Nach massivem Protest in Politik und Medien musste Döpfner sich entschuldigen. Für die Masse der Medien und Politiker war die Sache damit erledigt. Wohlgemerkt: Medien und Politiker, die in ihrer großen Mehrheit westdeutsch geprägt sind.

Gleiches gilt für nahezu alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Nur 1,7 Prozent der Spitzenpositionen in Wissenschaft, Verwaltung, Jurisprudenz und Wirtschaft sind mit Menschen aus den neuen Bundesländern besetzt. Dies rechnet der Leipziger Germanist Dirk Oschmann in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ vor. Ost- und Mitteldeutschland sind demnach massiv unterrepräsentiert. Dass dadurch ein Ungleichgewicht in der Darstellung und Wahrnehmung der Menschen im „Osten“ entsteht, dürfte kaum überraschen. Womöglich spricht dergleichen auch aus der jüngsten Leipziger Rechtsextremismus-Studie.

„Natürlich ein Nazi …“

Ein Sturm zieht seit Jahren über Millionen Ost- und Mitteldeutsche. „Fremdenfeindlich, chauvinistisch und natürlich ein Nazi“ sei der „Ossi“, treibt Oschmann die Angriffe auf die Spitze. Er selbst ist Jahrgang 1967 und stammt aus Thüringen. Die DDR hat er als Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Bezirk Erfurt miterlebt. Ab 1986 studierte er an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Oschmann ist also selbst „Ossi“ und weiß daher, wovon er spricht und schreibt. Apropos „Ossi“: Er ist dem Buch zufolge nichts als eine Erfindung von Westdeutschen, um sich von ihren ungeliebten Landsleuten aus der früheren DDR abzugrenzen.

Ja, es gibt „Nazis“ in Ost- und Mitteldeutschland. Rechtsextreme, die Demokratie und Menschenrechte ablehnen. Es gibt sie auch in Bayern, Niedersachsen oder Nordrhein-Westfalen. Aber sie sind hier wie da weit davon entfernt, die Gesellschaft zu prägen. Denn nicht alles, was Politik, Medien oder „Antifa“-Aktivisten als rechts oder gar rechtsextrem bezeichnen, ist tatsächlich braun angehaucht. Die Wahl der nationalkonservativen AfD? – Demokratisches Recht. Die Ablehnung von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete? – Pazifismus. Kritik an der Energie- und Klimaschutz-Politik der rot-grün-gelben Ampel-Koalition? – Meinungsfreiheit. Und wer Gender-Ideologie und Minderheiten-Politik zurückweist? – Der orientiert sich schlicht an biologischen Fakten.

1989 sind Mauer und Grenzanlagen gefallen, die Ost und West jahrzehntelang teilten. Die Mauer in den Köpfen aber besteht weiter. (Foto: RIA Novosti archive/image #428452/Boris Babanov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Wer das Klischee von „Dunkeldeutschland“ dennoch weiterträgt, der tut seinen Landsleuten Unrecht. Der will die Menschen in Mittel- und Ostdeutschland womöglich missverstehen. Oder sogar verletzen. Und er hat offensichtlich kein Interesse, den Bruch zu heilen, der mehr als 30 Jahre nach dem Mauerfall noch immer durch das Land geht. Ein Graben, den die „Doppelmoral und Heuchelei“ des Westens speist, wie Oschmann es ausdrückt. Dabei könnte das wiedervereinigte Deutschland den Graben leicht zuschütten. Wenn West und Ost besser aufeinander hören und voneinander lernen. Und wenn die Diffamierung der „Ossis“ endlich aufhört.

Frank Brettemer

Kategorien
Kommentar

Ein Tag der Befreiung – aber nicht für alle

Der 8. Mai steht wie kaum ein anderer Tag für das Ende und zugleich für einen Neuanfang. Dem Endes des Zweiten Weltkriegs, dem Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische „Dritte Reich“, folgte eine neue Ära im besiegten Deutschland. Ein Neuanfang in Trümmern und Hoffnung. Heute zeigen sich auch deutsche Spitzenpolitiker dankbar für die Niederlage. Der 8. Mai – er ist ein Tag der Befreiung auch für Deutschland. Ein mörderisches Regime war besiegt, unzählige Nazi-Opfer konnten aufatmen, ihre Fesseln abstreifen. Für sie war der 8. Mai ein Tag der Freiheit. Ebenso für Millionen Deutsche, die nicht nur das Ende des Krieges herbeigesehnt hatten, sondern auch das der braunen Tyrannei. Des Rassenwahns. Der ständigen Angst davor, wegen eines „falschen“ Gedankens im Lager zu landen.

Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, unterzeichnet die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst. (Foto: gemeinfrei)

Das ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Zumindest für eine Hälfte des damaligen Reichsgebiets steht der 8. Mai nicht für Freiheit. In der sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, wurde lediglich die braune Diktatur durch eine neue Herrschaft der Unfreiheit ersetzt. In Speziallagern – nicht selten KZs der Nazis unter neuem Namen – starben Tausende. Hunderttausende, wenn nicht Millionen Frauen wurden Opfer von Übergriffen und Vergewaltigungen. Von rund 100.000 deutschen Soldaten, die nach der Niederlage von Stalingrad in sowjetische Hände fielen, sahen nur rund 6000 die Heimat wieder. Und aus den sogenannten Ostgebieten mussten Millionen fliehen, wurden deportiert oder in Todesmärschen verjagt. Bis zu zwei Millionen starben.

Der Böse ist immer der Russe?

Der Böse ist immer der Russe. So jedenfalls könnte man die westliche Sicht auf das Kriegsende und die Nachkriegszeit zusammenfassen. Exzesse von Soldaten der Roten Armee, Übergriffe auf Zivilisten und Gewalt gegen Frauen waren tatsächlich keine Seltenheit. „Wenn du nicht pro Tag wenigstens einen Deutschen getötet hast, war es ein verlorener Tag“, heißt es 1942 in dem Aufruf „Töte!“ des sowjetischen Journalisten Ilja Ehrenburg. Zur Wahrheit gehört aber auch: Ehrenburg stand damit weitgehend allein. Nicht selten wird er auch propagandistisch fehlinterpretiert. Und: Vor allem nach der Kapitulation der Wehrmacht, als das Kriegs(un)recht vom Besatzungsrecht ersetzt wurde, gingen sowjetische Offiziere meist rigoros gegen ihre Soldaten vor, wenn diesen ein Fehlverhalten vorzuwerfen war.

Ein US-amerikanischer GI und ein sowjetischer Soldat liegen sich im April 1945 nahe Torgau an der Elbe in den Armen. Die Besatzungspolitik von West-Alliierten und Sowjets unterschied sich mitunter kaum. (Foto: Cassowary Colorizations/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Was gerade in der alten Bundesrepublik gerne vergessen wird: Auch im Westen stand das Jahr 1945 zunächst nicht unbedingt für Befreiung. „Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung, sondern als ein besiegter Feindstaat.“ – So legte es die US-Direktive JCS 1067 im April 1945 fest. Demgemäß verhielten sich die US-amerikanischen GIs. Auch sie, sagen Historiker, nahmen sich „deutsche Frolleins“ und vergewaltigten sie. Deutsche Soldaten wurden oft wahllos erschossen. Gerade Männer, denen man vorwarf, der Waffen-SS anzugehören, hatten kaum Gnade zu erwarten. Unabhängig davon, ob sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten. Von den anglo-amerikanischen Bombenangriffen mit Hunderttausenden zivilen Toten, die sich bis in die letzten Kriegsmonate hinzogen, ganz zu schweigen.

Auf offener Straße erschossen

Während die Zahl der Vergewaltigungs-Opfer im sowjetischen Machtbereich offenbar propagandistisch überhöht wurde, wird die im Westen bis heute meist weit unterschätzt. Die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt sagt: „Was mir selbst auch unbekannt gewesen war, waren die Vergewaltigungen der GIs, die eigentlich nach dem gleichen Schema auch abgelaufen sind; also die meistens Hausdurchsuchungen gestartet haben, dann haben sie geplündert, Essensvorräte mitgenommen, Wertsachen, Souvenirs und dann eben sehr häufig auch gemeinschaftlich sich über die Frauen hergemacht. Und das konnte dann auch alle Frauen treffen.“

Marokkanische und dunkelhäutige Soldaten der französischen Armee im Elsass im Februar 1945. (Foto: National Archives at College Park/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Insbesondere marokkanische Soldaten, die mit der französischen Armee den deutschen Südwesten besetzten, müssen furchtbar in den Dörfern gehaust haben. Zeitzeugen erzählen von Fäkalien in Wohnungen, von mutwilliger Zerstörung, Gewalt und Unrecht. Auf offener Straße seien Menschen erschossen worden. Die Leichen blieben liegen. Franzosen und Marokkaner missbrauchten laut dem US-Historiker Norman M. Naimark proportional gesehen so oft wie sowjetische Soldaten. Zur Verantwortung gezogen wurden sie wie auch andere Angehörige westlicher Streitkräfte nur selten. Anders als offenbar in der Roten Armee, wo für Vergewaltigung mitunter sogar die Todesstrafe drohte.

Gräueltaten an Deutschen

Vor Jahren las ich in den Lebenserinnerungen eines deutschen Soldaten, der am Kriegsende in polnische Gefangenschaft geriet. Er überlebte einen Todesmarsch – anders als viele seiner Kameraden, die die Bewacher am Wegesrand einfach erschossen. In seinen Erinnerungen beklagt er, die Presse hierzulande berichte stets nur über deutsche Verbrechen. Gräueltaten an wehrlosen Deutschen dagegen blieben meist unerwähnt. Ich finde: Der 8. Mai ist der passende Tag, um auch an diese Verbrechen zu erinnern. Die Dankbarkeit angesichts der Befreiung vom Nazi-Joch schmälert das nicht.

Frank Brettemer

Kategorien
Im Blickpunkt

„Deutschland gegenüber positiv eingestellt“

Nina Popova ist 40 Jahre und lebt in der russischen Region Krasnodar nahe der Küste des Schwarzen Meeres. Auf Telegram betreibt sie die deutschsprachigen Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“. Deutschland kennt und liebt sie, seit sie als Kind mit ihrer Familie in die Bundesrepublik kam. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Zurück in Russland ist sie seit 2019. Im Interview erzählt Nina von ihrer neuen und alten Heimat, ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine, der russischen Liebe zu Deutschland und der Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen.

Nina Popova lebt in der südrussischen Region Krasnodar. (Foto: privat)

Nina, in westlicher Wahrnehmung gibt es in Russland praktisch keine privaten Medien mehr, sondern nur noch staatliche. Wie sieht die Situation tatsächlich aus? 

Es gibt einige freie Journalisten, die ich sehr gerne lese. Als Journalist ist man in Russland frei zu schreiben, was man will, solange keine Gesetze verletzt werden. Die Gesetze sind im übrigen den westlichen ähnlich. Solange keine radikalen Aufrufe enthalten sind, darf man schreiben. Die Situation der freien Medien wird eher vom Westen her erschwert. So hat man mit einer russischen IP-Adresse keinen Zugriff auf deutsche Medien. Russland sperrt keine Nachrichten aus. Es werden sogar Tipps gegeben, wie man westliche Medien weiterhin lesen kann. 

Das heißt konkret: Wie informierst Du Dich?

Ich nutze wie empfohlen VPN, um weiterhin alle Nachrichten aus aller Welt zu lesen. Selbstverständlich lese ich alle großen deutschen Nachrichtenagenturen, ebenso englischsprachige Medien und natürlich die in russischer Sprache. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass ich so am besten fahre. Wobei die westlichen Medien mittlerweile sehr viel behaupten und nicht wirklich prüfen. 

Wie berichten russische Medien über den Krieg in der Ukraine?

Vielseitig. Das trifft es wohl am besten. Es gibt Berichte direkt von der Front, Augenzeugenberichte usw. Was mich hier sehr erstaunt, ist, dass gegen andere Länder oder Menschen in keiner Weise gehetzt wird. 

Du betreibst zwei Telegram-Kanäle mit Nachrichten aus Russland. Welche Rolle spielen Fake News in Deiner täglichen Arbeit?

Fake News erschweren meine Arbeit. Ich gebe mir Mühe, alles zu prüfen, was ich veröffentliche. Mir ist es wichtig, dass man nicht schockiert oder nur kritisiert. Ich möchte, dass man sich informieren kann. Natürlich ist es gerade bei dringenden Nachrichten schwierig, immer gleich zu prüfen, ob sich keine Fake News dahinter verbergen. Bisher hatte ich Glück oder einfach ein Gefühl dafür, was nicht stimmt. Sollte es mir dennoch mal passieren, so würde ich das selbstverständlich auch berichten.

Der Krieg ist ihr nah: Als die Brücke über die Straße von Kertsch attackiert wurde, war Nina Popova Ohrenzeugin der Explosion. Im Bild: die Grenze zur Volksrepublik Donezk. (Foto: privat)

Du lebst in der Nähe von Krasnodar, nicht weit von der Brücke über die Straße von Kertsch auf die Krim-Halbinsel. Wie nah ist Dir der Krieg?

Dieser Krieg ist mir nah. Im Oktober bin ich von der Explosion der Brücke aufgewacht. Aber auch menschlich ist er uns nah. Ich habe Verwandte in der Ukraine. Ich sehe täglich Flüchtlinge aus der Ukraine. Wie viele Menschen hier tun auch mir diese Menschen, die alles verloren haben, leid.

Du bist schon mehrfach in Frontnähe gewesen und hast Soldaten besucht. Wie sehen diese Besuche konkret aus – was macht Ihr dort?

Ich habe Freunde, die eingezogen worden sind. Wir sind sozusagen die Feldpost. Wie bringen Briefe oder Päckchen von den Familien der Jungs. Ich bin vor allem mitgefahren, weil ich mir ein eigenes Bild machen wollte und einfach musste. 

Dieses zerstörte Haus in Mariupol hat Nina Popova lange beschäftigt. Auf der Tür steht „Kinder“. Die Warnung bedeutet nach Ninas Aussage, dass sich während der Kämpfe Kinder in dem Haus versteckt haben. (Foto: privat)

Wie organisiert Ihr die Besuche? Welche Rolle spielen dabei der Staat oder das Militär?

Wir fahren mit anderen Freiwilligen. Selbstverständlich bedarf es der Erlaubnis von der Armee. Der Staat spielt bei unseren Unternehmungen nur soweit eine Rolle, dass wir eine Erlaubnis brauchen. Ansonsten ist es wie gesagt freiwillig. Wir tragen die Kosten selbst.

Du warst im Zuge Deiner Besuche vor einiger Zeit auch in Mariupol. Die Stadt ist eines der Symbole für den Krieg und die Zerstörungen, die er verursacht. Zumindest im Westen. Wie ist die Situation dort?

Die Stadt hat mich unheimlich berührt. Es ist für mich kaum vorstellbar, was diese Menschen ertragen haben müssen. Diese Stadt ist eine Stadt der Gegensätze geworden. Man erahnt ihre einstige Schönheit. Und sie erwach wieder zum Leben. Ich habe die Neubaugebiete selbst gesehen. Aber es ist noch viel zu tun. 
Mich hat die Freundlichkeit der Menschen dort berührt. 

Das Industriegelände von Asowstal wurde während des Kampfs um Mariupol zum Rückzugsorts ukrainischer Soldaten und ultranationalistischer Einheiten. Heute ist das Gebiet gesperrt. Fotoaufnahmen aus der Nähe sind verboten. (Foto: privat)

Du hast große Teile Deiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht, bist deutsche Staatsbürgerin und wohnst erst seit wenigen Jahren wieder in Russland. Worin unterscheidet sich das Leben in beiden Ländern?

Ich habe 30 Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht. Ich mag beide Länder sehr gerne, aber in Russland ist das Leben entschleunigt. Man hat irgendwie mehr Zeit – also wenn man nicht gerade in Moskau lebt. In Deutschland hatte ich oft wenig Zeit für meine Familie. Hier ist die Ausrichtung der Werte viel mehr auf Kinder und Familie ausgerichtet. Ich arbeite und habe dennoch mehr Zeit. 

Wie denkst Du heute über Deutschland?

Ich habe viele Freunde und auch Teile der Familie immer noch in Deutschland. Mir ging es auch in Deutschland gut. Ich habe mich aus persönlichen Gründen für den Umzug entschieden. Wobei ich sagen muss, dass ich die heutige Regierung in Deutschland nicht ganz verstehe und mir aus meiner Sicht mehr Neutralität wünschen würde. 

Was stört Dich an Russland?

Es sind eher meine angewöhnten Eigenheiten oder Sachen, die ich aus Deutschland gewohnt war – wie Pünktlichkeit. Die ist hier manchmal ein dehnbarer Begriff. Außer der russischen Bahn: Die ist auf die Sekunde pünktlich! Und mich stört die Grundentspanntheit mancher Handwerker. 

Wie könnte für Deutschland und Russland ein Ausweg aus der aktuellen Spirale von Sanktionen, Hetze und Hass aussehen? Wie könnten sie zurückfinden zu alter Freundschaft?

Ich wünsche mir, dass Deutschland wieder mehr Neutralität walten lässt. Der radikale Kurs der deutschen Regierung wird auch eine zukünftige diplomatische Zusammenarbeit unmöglich machen. In Russland wird nicht gegen das deutsche Volk gehetzt. Niemand wünscht sich, Deutschland zu zerstören. Ich lese ja diese Sachen in den deutschen Medien und bin bestürzt. In Russland sind die Menschen Deutschland gegenüber immer positiv eingestellt gewesen. Man schätzt hier deutsche Autos, deutsches Bier und die Industrie in Deutschland. „Made in Germany“ ist ein Qualitätsmerkmal. Als ich meine Kanäle schuf, wollte ich, dass unsere Völker das Verständnis füreinander nicht verlieren.

Interview: Thomas Wolf

Kategorien
Im Blickpunkt

Nur eine „extrem kleine Minderheit“

Seit 2018 können Menschen in Deutschland den Geschlechtseintrag „divers“ wählen. Diese Möglichkeit steht seither neben „männlich“ und „weiblich“. Die Politik schuf sie vornehmlich für Intersexuelle. Personen also, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig sind. Auch Menschen, die sich unsicher sind, welchem Geschlecht sie angehören, können sich als „divers“ definieren. Gleiches gilt für Transsexuelle, die sich ihrem biologisch eindeutig bestimmbaren Geschlecht nicht zugehörig fühlen. Und für Personen, die sich als „nicht-binär“ begreifen oder glauben, ihr Geschlecht ändere sich hin und wieder. Alternativ zu „divers“ ist es bereits seit 2013 möglich, den Geschlechtseintrag offenzulassen.

80.000 Transsexuelle?

Allein bis zu 160.000 Intersexuelle gebe es in Deutschland, schätzte 2017 das Bundesverfassungsgericht. Sein Urteil zur sogenannten dritten Option beim Geschlechtseintrag hatte die Reform ins Rollen gebracht. Der Deutsche Ethikrat ging dagegen von rund 80.000 intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland aus. Die Zahl der Transsexuellen bezifferte 2014 Patricia Metzer von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität, einer Lobby-Organisation, auf 20.000 bis 80.000. Rund fünf Jahre nach der Einführung des Eintrags „divers“ zeigt sich immer deutlicher, dass selbst vergleichsweise zurückhaltende Schätzungen offenbar weit über den realen Zahlen liegen.

Wenn Aktivisten und Politiker von der „LGBTQI-Community“ reden, fassen sie sexuelle Präferenzen und Geschlechtsidentitäten zusammen. In Wirklichkeit sind Transsexualität und Intersexualität klar von Homosexualität abzugrenzen. (Foto: Pixabay)

Beispiel Sachsen. Die AfD-Landtagsfraktion wollte wissen, wie viele Menschen in dem mitteldeutschen Bundesland den Eintrag „divers“ gewählt haben. Die Antwort der Landesregierung dürfte überraschen: 2022 waren es demnach gerade einmal 17. Darunter befinden sich sogar drei Babys, die sich sicherlich nicht selbst dafür entschieden haben, „divers“ zu sein. 17 Menschen unter mehr als vier Millionen: Das sind nur 0,0004 Prozent der Sachsen, rechnet die gesellschaftspolitische Sprecherin der AfD-Fraktion, Martina Jost, vor. Sie vergisst dabei allerdings, dass sich die Zahlen der Regierung nicht auf alle „diversen“ Eintragungen beziehen, sondern nur auf ein Kalenderjahr.

„Ganze 19 Fälle seit 2018“

Wesentlich mehr werden es allerdings auch nicht, wenn man die zurückliegenden Jahre seit der Reform des Personenstandsrechts berücksichtigt. Auch wenn die Zahlen je nach Quelle zum Teil widersprechen. „Ganze 19 Fälle sind seit 2018 in Sachsen aktenkundig“, schreibt die BILD-Zeitung im Mai 2022. Im Vorjahr seien es nach Angaben des Innenministeriums gerade mal drei gewesen. „Auch der vom Gesetz seither mögliche Wechsel der Geschlechtsidentität bei Erwachsenen kommt in Sachsen sehr selten vor.“ Nur drei Männer und fünf Frauen seien betroffen. In Sachsens größter Stadt Leipzig waren vor rund einem Jahr nur zwölf Menschen mit dem Eintrag „divers“ gemeldet. Bei 21 wurde der Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde geändert.

Ein Blick über die Leipziger Innenstadt. In Sachsens einwohnerreichster Stadt waren 2022 nur zwölf Menschen mit dem Geschlechtseintrag „divers“ gemeldet. Unter den mehr als 600.000 Einwohnern der Messestadt ist das eine verschwindend geringe Minderheit von 0,002 Prozent. (Foto: LeipzigTravel/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Zweites Beispiel: Berlin. Aktuellen Zahlen zufolge sind in der Bundeshauptstadt 142 Personen mit dem Geschlechtseintrag „divers“ registriert. Das meldete kürzlich das Portal Pleiteticker.de des früheren BILD-Chefredakteurs Julian Reichelt. Im Dezember lag die Zahl noch bei 137. Zumindest nach Angaben des öffentlich-rechtlichen Senders RBB, der sich auf einen Sprecher der Innenverwaltung bezog. „Weitere 128 Personen machen von der Möglichkeit Gebrauch kein Geschlecht anzugeben“, liest man beim Pleiteticker.

„Überwiegend Klientelpolitik“

„In Berlin kommen damit auf rund 3,85 Millionen Einwohner 270 Personen, die weder männlich noch weiblich sind, beziehungsweise kein Geschlecht angeben. Dies entspricht rund 0,007 Prozent der Stadtbevölkerung. 0,0037 Prozent der Berliner empfinden sich als divers. Damit drängt sich der Eindruck auf, dass die Ampel-Regierung mit ihrem Fokus auf Diversität und Gender-Politik überwiegend Klientelpolitik betreibt, die an den Problemen des ganz überwiegenden Teils der Bevölkerung vorbeigeht“, kommentiert das Reichelt-Portal.

Auf Reisepässen ist der Geschlechtseintrag „divers“ mit einem „X“ kenntlich gemacht. (Foto: Fennnn1/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Bundesweit hatten bis Ende September 2020 nach Angaben des Bundesinnenministeriums 394 Personen den Eintrag „divers“ oder „ohne Angabe“ erhalten. Gut zwei Drittel davon gelten seitdem als „divers“. Auch 19 Neugeborene waren darunter. Elf Babys blieben „ohne Angabe“ des Geschlechts. Zwischen „männlich“ und „weiblich“ wechselten den Angaben zufolge 1191 Personen. Als nicht eindeutig männlich oder weiblich oder als transsexuell konnten damit im Herbst 2020 knapp 1600 Menschen gelten. Zumindest auf Grundlage des amtlichen Personenstands. Transsexuelle etwa, die ihren Geschlechtseintrag nicht ändern lassen, oder Intersexuelle, die als Mann oder Frau leben, fehlen freilich in dieser Statistik.

Riesiger Wirbel

In jedem Fall aber sind die offiziellen Zahlen um mindestens eine Größenordnung geringer als alle Schätzungen. „Ich halte es nicht für klug, so einen riesigen Wirbel um diese extrem kleine Minderheit zu veranstalten“, meint daher Martina Jost von der AfD-Fraktion im Dresdner Landtag. „Auch für viele Betroffene ist dieser Rummel wahrscheinlich eher abschreckend, als dass er ihnen hilft.“ Trotz der geringen Größe der Gruppe, kritisiert Jost, müssten die Bürger erhebliche Belastungen hinnehmen. Unisex-Toiletten etwa, die nach dem Willen mancher Aktivisten und Politiker die nach Geschlecht getrennten WCs ersetzen sollen. Oder die Gendersprache, die auch vermeintlich existierende „diverse“ Geschlechter sichtbar machen soll. Für Jost ist sie eine „Verunstaltung der deutschen Sprache“.

Kategorien
Im Blickpunkt

Unabhängige Journalistin oder Kreml-Troll?

Alina Lipp ist umstritten. Ihren Kanal „Neues aus Russland“ verfolgen auf der Nachrichtenplattform Telegram mehr als 180.000 Menschen. Damit hat Lipp eine Reichweite, die über der manch einer Tageszeitung liegt. Alina Lipp versteht sich selbst als Journalistin. Deutschen Leitmedien gilt sie dagegen als „Putins Infokriegerin“, „Russland-Troll“ oder „Propagandistin des Kreml“. Weil sie aus Russland und dem umkämpften Donbass berichtet und ihren Telegram-Abonnenten dabei die russische Perspektive auf den Konflikt schildert, ja sich durchaus auch mit ihr gemein macht, zweifeln deutsche Medien an ihrer Unabhängigkeit.

Alina Lipp mit Helm: kein Beleg für ihre Nähe zu den russischen Streitkräften, sondern nur eine Sicherheitsvorkehrung. (Foto: Lipp)

Seit Beginn der russischen Invasion hat sich die heute 29-Jährige zu einem der bekanntesten Gesichter der „prorussischen“ Berichterstattung entwickelt. Die russische Perspektive liegt Alina Lipp sozusagen in den Genen. 1993 wurde sie in Hamburg als Tochter eines Russen und einer Deutschen geboren. 2018 wanderte Vater Wladimir auf die russisch gewordene Halbinsel Krim aus. In ihrem Kanal verlinkt Alina immer wieder Videos, in denen er vom ländlichen Leben auf der Halbinsel berichtet. Lipp studierte Umweltsicherung und Nachhaltigkeitswissenschaften und war eine Zeitlang bei den Grünen politisch aktiv.

Heute sieht sie ihre einstige Partei äußerst kritisch: „Die Grünen haben sich leider zum Negativen verändert. Sie zeigen momentan, dass sie eine Partei sind, die ausschließlich die Interessen der USA umsetzt und nicht jene der deutschen Bevölkerung.“ Die ablehnende Haltung der Partei hinsichtlich der mittlerweile gesprengten Erdgas-Leitung „Nord Stream 2“ zeuge von der „fachlichen Inkompetenz der Parteivorsitzenden“, meint Alina Lipp. Statt auf günstiges Erdgas aus Russland müsse Deutschland nun auf teures und umweltschädliches Frackinggas aus den USA zurückgreifen. „Die deutsche Wirtschaft und die Bevölkerung sollen leiden, damit es Putin weh tut.“

„Die Wahrheit vermitteln“

Als 2014 die Proteste gegen den ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch eskalierten und in der Folge im Donbass ein Bürgerkrieg ausbrach, begann Lipp, das westliche Narrativ zusehends zu hinterfragen. Sie befasste sich mit Heimat, Sprache und Kultur ihres Vaters und bereiste Russland. Im August 2021 kam sie zum ersten Mal ins umkämpfte Donezk. Zusammen mit einem Bekannten, der ursprünglich aus der Stadt stammt. „Ich war ziemlich geschockt über das, was ich da gesehen habe. Dass da Zivilisten umgebracht werden und in Deutschland nicht darüber berichtet wird“, sagt Lipp. Im Oktober fuhr sie wieder nach Donezk. Diesmal, um zu bleiben. Der Wunsch, „die Wahrheit nach Deutschland zu vermitteln“, war stärker als die Angst, in einem Kriegsgebiet zu leben, das regelmäßig von ukrainischen Truppen beschossen wird. 

Durch Beschuss im Bürgerkrieg wurde das Haus dieser Menschen im Donbass zerstört. (Foto: Lipp)

„Ich hatte zwei Monate überlegt, weil ich genau wusste: Das könnte Konsequenzen für mein Leben haben.“ Sie sollte Recht behalten. Ob sie jemals in die Bundesrepublik zurückkehren kann, ist fraglich. Für ihre Berichterstattung droht ihr hierzulande eine Freiheitsstrafe. Bis zu drei Jahre Haft. Denn nach Paragraf 140 des deutschen Strafgesetzbuchs ist es verboten, bestimmte Straftaten „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten eines Inhalts“ zu billigen. Zu jenen Straftaten gehören Kriegsverbrechen und völkerrechtswidrige Angriffskriege. Nach westlicher Sichtweise liegt beides im Fall der russischen Invasion in der Ukraine vor.

„Jemand, der filmt, was er sieht“

Just wenige Monate vor dem Beginn von Russlands „spezieller Militäroperation“ in der Ukraine zog Lipp nach Donezk. Dass sie sich dort zum Kreml-Troll entwickelte, steht für viele deutsche Medien außer Frage. Sie selbst weist das entschieden zurück: „Ich finde das eine Frechheit, mich als Putin-Troll oder Infokrieger zu bezeichnen. Ich bin einfach jemand, der vor Ort ist, filmt, was er dort sieht, und Gespräche vor Ort ins Deutsche übersetzt. Ohne irgendwelche Aufträge zu haben.“ Nie, betont Lipp, habe sie sich als Propagandistin präsentiert. Nie habe sie sich vor die Kamera gestellt und gesagt, sie unterstütze die Spezialoperation. „Wenn man mein Material anguckt, sieht man, dass ich meistens einfach die Kamera rumschwenke und die Leute reden lasse.“ 

Die „Volksrepublik Donezk“, aus der Lipp seit Herbst 2021 berichtet, spaltete sich 2014 nach einem international kritisierten Referendum von der Ukraine ab. Seit einem nicht minder umstrittenen erneuten Volksentscheid im vergangenen Jahr gehört Donezk zur Russischen Föderation. Zumindest nach russischer Lesart. Für den Westen bildet die „Volksrepublik“ nach wie vor einen Oblast (Bezirk) der Ukraine. Meist teilt Alina Lipp in ihrem Kanal Meldungen anderer – und verbreitet so auch Inhalte, die sich dann als „Fake News“ erweisen. Das macht sie angreifbar für ihre Kritiker im Westen, die in der Deutsch-Russin nur ein junges, attraktives Gesicht der Kreml-Propaganda sehen. Sie selbst betont: „Ich habe noch nie absichtlich Fakes verbreitet. Wenn ich auf einen Fake reingefallen bin, stelle ich das immer richtig.“

Wiederaufbau geht voran

Ihre Videos, die sie selbst bei Fahrten in die Nähe der Front, ins russisch besetzte Mariupol oder in andere „befreite“ Orte der „Volksrepublik Donezk“ aufnimmt, sind wichtige Primärquellen. Das, was die Menschen ihr – so wirkt es – bereitwillig in die Kamera erzählen, weicht teils beträchtlich von dem ab, was westliche Medien und Politiker spätestens seit dem 24. Februar 2022 verbreiten. Dass für den Donbass der Krieg bereits 2014 begann. Dass das ukrainische Militär Zivilisten beschießt und als menschliche Schutzschilde missbraucht. Auch wenn der Wahrheitsgehalt der Aussagen von Deutschland aus oft nicht überprüft werden kann, so bleibt doch der Eindruck, dass die Menschen im Donbass den russischen Einmarsch großteils begrüßen. Auch der Wiederaufbau der zerstörten Orte geht zügig voran. Lipps Botschaft stimmt häufig mit dem überein, was andere westliche Journalisten aus dem Donbass berichten.

Bereits im September 2021, also Monate vor der Invasion, als Lipp noch primär von der Krim schrieb, traf die junge Deutsche in Moskau Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums. Westlichen Medien ist das ein weiteres Mosaiksteinchen in der Argumentation, Alina Lipp sei nichts weiter als eine Marionette des Kremls. Dagegen betont die 29-Jährige, Sacharowa habe lediglich „das Buch eines norwegischen Kollegen der Krim-Freunde signiert, bei denen ich Mitglied bin. Er hatte mich dazu mitgenommen.“ Bei einer Konferenz jener Krim-Freunde im März 2022 sah Lipp Sacharowa dann noch einmal. „Maria Sacharowa ist mit einer kleinen Rede aufgetreten und dann abgehauen.“

Teil eines Medienkriegs

Finanzieren lässt sich Alina Lipp von privaten Unterstützern, sagt sie. Das ist nicht ganz unproblematisch. Der Bezahldienstleister Paypal kündigte ihr das Konto. Ebenso ihre Direktbank. Lipp sieht die Kündigung als Teil eines Medienkriegs gegen sie. Wie viel Spenden sie erhält, behält die 29-Jährige für sich. „Aussagen über das Geld, das ich bekomme, mache ich nicht.“ Deutlich wird sie allerdings auf die Frage, ob sie jemals Geld von russischen Staatsmedien oder gar vom Kreml angenommen habe.

Mit Helm und Seit’ an Seit’ mit Wladimir Putin: So zeigte das Nachrichtenportal T-Online Alina Lipp. (Foto: Screenshot T-Online.de)

„Das war dieser blöde Artikel von T-Online, der das Gerücht gestreut hat, ich würde für Staatsmedien arbeiten. Das stimmt überhaupt nicht. Als unabhängiger Journalist verkauft man sein Material. Man bekommt keine Aufträge. Wenn jemandem etwas gefällt, kauft er das. Das ist völlig normale Praxis für freie Journalisten.“ Ein einziges Mal habe sie Sputnik Deutschland beliefert. „Das war vor der Spezialoperation. Da habe ich Sputnik drei kurze Videos geschickt, die alle nur etwa eine Minute oder so dauerten. Erst nach Monaten bekam ich dafür einen Mini-Betrag.“ Absehen davon habe sie nie Geld von russischen Medien erhalten.

Wer also ist Alina Lipp? Verbreitet sie für den Kreml russische Propaganda? Ist sie die „Friedensjournalistin“, als die sie sich selbst sieht? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen? „Ich bin einfach eine Journalistin, die Ungerechtigkeit gesehen hat und versucht, diese Ungerechtigkeit bekannt zu machen und aufzudecken“, sagt Lipp. Ihre Gegner an der medialen Front wird sie damit nicht überzeugen. Alle anderen vielleicht schon.

Thomas Wolf

Kategorien
Im Blickpunkt

„Gibt kaum jemanden, der objektiver sein könnte“

Vor genau einem Jahr marschierten die russischen Streitkräfte in der Ukraine ein. Dem zu diesem Zeitpunkt seit acht Jahren andauernden Bürgerkrieg im Donbass brachte dies eine neue Eskalation. Die junge Deutsche Alina Lipp erlebte den Beginn der Invasion vor Ort mit. Sie war im Herbst 2021 nach Donezk in der gleichnamigen separatistischen „Volksrepublik“ gezogen, um von dort zu berichten. Ihre Videos und Nachrichten, die sie großteils über Telegram verbreitet, widersprechen spätestens seit Beginn der „speziellen Militäroperation“ dem gängigen westlichen Narrativ.

Das folgende Interview gab Alina Lipp kurz nach Kriegsbeginn. Es sollte in einer überregionalen deutschen Wochenzeitung erscheinen. Da der Chefredakteur den Vorwurf vermeintlicher „Russlandnähe“ fürchtete, flog der Beitrag kurzfristig aus dem Blatt. Erstmals veröffentlicht wurde er erst in der Januar-Ausgabe des monatlich erscheinenden Stichpunkt-Magazins.

Alina Lipp bereist den Donbass und dokumentiert Zerstörungen. (Foto: Lipp)

Frau Lipp, die deutsche Öffentlichkeit nimmt den russischen Einmarsch in der Ukraine als verbrecherischen Angriffskrieg wahr. Sie betonen dagegen, man dürfe die Vorgeschichte der Invasion nicht außer Acht lassen. Wie stellt sich diese für Sie dar?

2014 fand in Kiew ein Umsturz statt, infolgedessen eine neue west­orientierte Regierung an die Macht kam – gestützt von ultranationalisti­schen, anti­russischen Kräften. Der russischsprachige Osten des Landes, der Donbass, und die Krim-Bevölkerung haben diesen Putsch nicht unterstützt und sich von der Uk­raine losgesagt. Daraufhin schickte die illegal an die Macht gekomme­ne Regierung Armee, Polizei sowie Geheimdienste, um die abtrünnigen Gebiete mit Gewalt zurückzuholen.

Die Armee wollte nicht so rich­tig gegen ihr eigenes Volk kämpfen. Deshalb mobilisierten die Putschis­ten Rechtsradikale, bewaffnete diese und schickten sie in die abtrünnigen Republiken. Später haben Vertreter dieser paramilitärischen Einheiten wie „Asow“, „Donbass“, „Ajdar“ in der Armee, in den Geheimdiensten und in der Polizei Schlüsselpositionen übernommen.

Viele Verbrechen wurden gefilmt

Der Terror im Osten begann. Menschen verschwanden, wurden gefoltert und ermordet. Viele Ver­brechen wurden gefilmt. Ich habe selber einige grauenhafte Szenen ge­sehen. Die Menschen im Osten wurden pauschal zu Terroristen erklärt. Die Regierung startete eine „antiterroristische Operation“, die schnell in einen echten Krieg ausartete. Seit 2014 sind nach UN-Angaben rund 14.000 Menschen ums Leben gekommen. Laut OSZE gingen 75 Prozent davon auf das Konto der Ukraine.

Veteranen des umstrittenen Asow-Regiments marschieren 2019 durch Kiew. Ihr Erkennungszeichen, von dem sich die Einheit mittlerweile offiziell distanziert, ist eine Wolfsangel, die auch von NS-Verbänden genutzt wurde. (Foto: Goo3/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Das Minsker Abkommen brachte die Hoffnung, dass durch gegenseitige Zugeständnisse Frieden einkehrt. Doch die Ukraine hat es in acht Jahren nicht geschafft, die Schlüsselpunkte des Abkommens umzusetzen. Die Rechtsradikalen haben immer wieder gedroht, die Regierung in Kiew zu stürzen, wenn diese irgendwelche Zugeständnisse machen würde. Sie forderten die gewaltsame Lösung des Konflikts.

Russland will die Ukraine „entnazifizieren“. Im Westen heißt es dagegen, die Ultranationalisten spielten in Parlament und Regierung keine Rolle. Und ist es nicht absurd, wenn ausgerechnet der jüdische Präsident Wolodymyr Selenskyi in die Nähe der Nazis gerückt wird?

Das finde ich nicht absurd. Ein „Nazi“ ist nicht automatisch ein Antisemit, sondern jemand, der ra­dikale Ansichten über andere Men­ schengruppen oder Ethnien vertritt. In der Ukraine wurden Gesetze verabschiedet, die den russischsprachigen Teil der Bevölkerung zu Bürgern zweiter Klasse machen: Behörden und Dienstleister dürfen Russisch als Sprache im Wesentlichen nicht mehr verwenden. Russischsprachige Schulen wurden geschlossen.

Durch das „Gesetz über die ein­ heimischen Völker“ werden die Bürger der Ukraine nach völkischen Kriterien in drei Kategorien eingeteilt, die unterschiedliche Rechte haben. Russen gehören zur dritten Kategorie und haben damit weniger Rechte und Ansprüche auf finanzielle Unterstützung als Ukrainer. Stellen Sie sich vor, ein europäisches Land würde solche Gesetze verabschieden – das wäre ein Skandal!

„Russische Untermenschen“

Möglich ist eine solche Gesetz­ gebung in der Ukraine, weil Ultranationalisten eben doch eine Rolle in Parlament und Regierung spielen. Es gibt staatlich subventionierte Ferienlager, in denen Kinder lernen, man müsse „russische Untermenschen“ erschießen. Das Asow-Regiment untersteht dem Verteidigungsministerium. Die Verwendung von Nazi-Symbolik ist gut belegt. Auch das ZDF hat darüber berichtet.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi mit Ursula von der Leyen, Präsidentin der EU-Kommission. (Foto: European Commission/Dati Bendo via Wikimedia Commons)

Selenskyi trat sein Amt als Präsident 2019 mit dem Versprechen an, den Konflikt im Donbass zu beenden. Warum ist er gescheitert?

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass Selenskyi mit guten und ehrlichen Absichten antrat, den Frie­den wiederherzustellen. Gescheitert scheint er am Widerstand der nationalistischen Kräfte zu sein. Sobald er auch nur andeutete, Zugeständnisse gegenüber der abgespaltenen Republiken in Erwägung zu ziehen, versammelten sich radikale Nationalisten mit Molotow-Cocktails vor dem Regierungsgebäude.

Wenn es Russland um die „Befreiung“ des Donbass geht – warum marschiert es dann auf breiter Front ein und greift auch Kiew, Lemberg oder Charkiw an, die hunderte Kilometer von Donezk und Lugansk entfernt liegen?

Einfach nur die Donbass-Republiken mit Soldaten zu unterstützen hätte nichts gebracht, da die ukrainische Armee mit Raketen auf die Republiken schießt. Deshalb muss Russland die ukrainischen Einheiten so weit wie möglich zurückdrängen – und sicherstellen, dass danach nicht wieder vorgerückt wird.

Russland hat sich die Demilitari­sierung und „Entnazifizierung“ der Ukraine als Ziel gesetzt, da die nationalistischen Kräfte ansonsten im­mer wieder versuchen würden, den Donbass anzugreifen. Russland zerstört daher militärstrategische Ziele überall im Land, um die ukrainische Armee zu schwächen: Waffen­ und Öllager, Übungsplätze, militärische Flughäfen.

Warum hat Russland jetzt angegriffen – und nicht bereits 2014?

Wenn Wladimir Putin der blutrünstige Aggressor wäre, als der er in westlichen Medien meist dargestellt wird, hätte er wohl 2014 angegriffen. Das tat er aber nicht. Russland hat sich aus dem Konflikt weitgehend herausgehalten. Die im Donbass abgehaltenen Referenden, nach denen sich Donezk und Lugansk zu „Volksrepubliken“ erklärten, wurden durch Russland acht Jahre lang nicht anerkannt. Putin legte den Republiken sogar nahe, dass er ihren Antrag auf Aufnahme in die Russische Föderation nicht annehmen würde, sollten sie einen solchen stellen. Viele Menschen im Donbass haben gefragt, warum Russland ihnen nicht helfe. Einige waren sogar richtig sauer.

Die heftigen Kampfhandlungen in Mariupol ließen auch zahlreiche Wohngebiete zerstört und verwüstet zurück. (Foto: Lipp)

Ukraine in die NATO

Aktuell wurde Russland durch mehrere Umstände gezwungen, militärisch gegen die Ukraine vorzugehen. Erstens nahm der Beschuss der Donbass-Bevölkerung, von der ein Großteil die russische Staatsbürgerschaft besitzt, extrem zu. Zweitens lehnten NATO und USA Russlands Vorschläge für gegenseitige Sicherheitsgarantien ab. Damit signalisierten sie, die Ukraine in die NATO aufnehmen zu wollen, womit die Errichtung von NATO-Stützpunkten unmittelbar an der russischen Grenze ermöglicht würde. Putin hat immer wieder da­ vor gewarnt, dass dies eine rote Linie überschreiten und Konsequenzen nach sich ziehen würde.

Und drittens verkündete Selenskyi auf der Münchner Sicherheitskonferenz, dass er in Erwägung zieht, den im Budapester Abkommen geregelten Verzicht der Ukrai­ne auf den Besitz von Atomwaffen zurückzunehmen.

Kategorien
Kommentar

Die „Terroristen“, die keine sein dürfen

„Klimaterroristen“ lautet das Unwort des Jahres 2022. Der Begriff sei im öffentlichen Diskurs benutzt worden, um Aktivisten und deren Proteste für mehr Klimaschutz zu diskreditieren, heißt es in der Begründung der Jury. Aktivisten seien mit Terroristen „gleichgesetzt und dadurch kriminalisiert und diffamiert werden“. Gewaltloser Protest, ziviler Ungehorsam und demokratischer Widerstand würden so in den Kontext von Gewalt und Staatsfeindlichkeit gestellt, rügte die Jury um die Marburger Germanistin Constanze Spieß.

Womöglich zum Tod geführt

Wer die Proteste verfolgt hat, wird sich die Augen reiben und fragen, wie man nur darauf kommen kann, dass die sogenannten Aktivisten „gewaltlos“ handeln. Da werden Gemälde mit Lebensmitteln, Farbe oder Öl beworfen und damit beschädigt, wenn nicht gar zerstört. Im Straßenverkehr blockiert man Rettungswege, sodass Unbeteiligte auf Hilfe warten müssen. Das kann lebensgefährliche Folgen haben und führte in mindestens einem Fall womöglich sogar zum Tod eines Unfallopfers. Dass durch das Festkleben der „Klimaschützer“ der Asphalt unnötig beschädigt wird, mag eine Lappalie sein. Mit dem Entfernen von Straßenschildern aber greifen die Aktivisten auf gefährliche Weise in den Straßenverkehr ein. Dennoch soll man die Verantwortlichen nicht als „Klimaterroristen“ bezeichnen.

Der Weiler Lützerath vor Beginn des Abrisses. (Foto: Arne Müseler/garzweiler.com/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Wie sieht es aber aus, wenn „Klimaschützer“ mit Steinen oder Molotow-Cocktails auf Polizisten werfen, um den Weiler Lützerath vor dem Abriss zu bewahren? Und das, obwohl die Bewohner längst fortgezogen sind. Ihnen helfen die Aktivisten mit der klassischen Ausstattung von Linksextremen nicht. Was ist es anderes als Terrorismus, wenn in Kommunikationskanälen der Lützerath-Fans Appelle wie „Burn cops, not coal“ kursieren? Und wie sieht wohl erst nicht-friedlicher Protest aus, wenn solche Aktionen den Preisrichter des „Unworts des Jahres“ noch als friedlich gelten? Wohlgemerkt: Von den Gewaltaufrufen gegen Polizeibeamte distanziert haben sich weder die Bewegung als solche noch einzelne Exponenten wie Luisa Neubauer oder Greta Thunberg.

Brutalität der Einsatzkräfte

Man denke nur kurz an die Corona-Proteste der vergangenen drei Jahre. Man denke an die Menschen, die verhalten rufend und Transparente tragend durch die Städte ziehen. Ihre einzigen „Straftaten“ bestanden darin, im Freien keinen Mund-Nasen-Schutz zu tragen und sich des Versammlungsverbots zu widersetzen. Deutschlandweit riefen Medien nach verschärftem Polizeieinsatz und Strafen für diese „Lebensgefährder“, deren Bewegung zudem von „Rechtsextremen“ unterwandert sei. Die Brutalität, die die Einsatzkräfte vor allem in Berlin gegen die Menschen an den Tag legten, der Einsatz von Wasserwerfern und die Prügelattacken wurden in der Berichterstattung meist unterschlagen. Das Vorgehen der Polizei rief sogar den UN-Sonderberichterstatter über Folter, Nils Melzer, auf den Plan. Statt einer objektiven Berichterstattung sah sich Melzer einer Diffamierung durch Leitmedien wie die Süddeutsche Zeitung ausgesetzt.

Polizeibeamte bei der Räumung von Lützerath. (Foto: Lützi Lebt/CC BY-SA 2.0 via Wikimedia Commons)

Heute beklagen nun tatsächlich Klimaschützer die angebliche „Polizeigewalt“ gegen Protestierende in Lützerath. Die grüne Bundestagsabgeordnete Emilia Fester, die durch Tanzvideos und skurrile Ideen von sich reden machte, ließ sich mit dem Polizei-Shuttle als – ganz im Sinne der Gendersprache so bezeichnete – „parlamentarische Beobachter*in“ ins Demonstrationsgebiet fahren. Um dann dort die Räumungsmethoden der Ordnungshüter verächtlich zu machen. Für kritische Menschen stellen sich hier viele Fragen. Dass es sich beim Beurteilen und dem Vorgehen um Doppelmoral handelt, liegt mittlerweile für den, der es sehen will, klar auf der Hand. Dass der Journalismus der öffentlich-rechtlichen Medien in keiner Weise mehr unabhängig und objektiv berichtet, ebenfalls.

Es fehlt an Verstand

Zuletzt bleibt nur: Klimaterroristen und unterstützende Grüne bekämpften in Lützerath medienwirksam die Konsequenzen ihrer eigenen Entscheidung in Bezug auf den Atomausstieg. Schon 2012 war ersichtlich, dass der Atomausstieg den Ausbau von Kohlekraftwerken zur Folge haben würde. Anders wäre der deutsche Energiebedarf nicht zu sichern. Regenerative Energien wie jene aus Sonne und Wind reichen dafür nicht aus. Für derart logische Zusammenhänge, scheint es, fehlt es den Aktivisten an Verstand. Und ebenso den Grünen-Funktionären, die ihr Tun unterstützen.

In früheren Zeiten setzten Menschen, denen an Fortschritt und Veränderung gelegen war, auf Ausbildung, Forschung, Pioniergeist und Durchhaltevermögen. Heute kleben sie passiv und stumpfsinnig wartend auf der Straße, bestreiken freitags die Schule und strengen sich angesichts der vermeintlich drohenden Klima-Apokalypse auch fürs Abitur nicht mehr an. Und lassen derweil andere machen, über die sie sich hinterher beschweren.

Felicitas Nowak

Kategorien
Im Blickpunkt

General: Noch nie solche Gleichschaltung erlebt

Polen will deutsche Leopard-2-Panzer an die Ukraine liefern und bringt die Bundesrepublik damit in Zugzwang. Denn Berlin müsste die Ausfuhr genehmigen. Bislang lehnt die Bundesregierung dies ab. Allerdings wurden zuletzt auch hierzulande die Forderungen lauter. FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann rief Kanzler Olaf Scholz auf, die Exportgenehmigung zu erteilen. „Der Kanzler sollte angesichts des Dramas in der Ukraine über seinen Schatten springen“, meint die FDP-Politikerin, die seit Monaten schwere Waffen für die Ukraine fordert. Auch die Lieferung von 40 Marder-Schützenpanzern deutet an, dass die Bundesregierung von ihrem Nein abrückt. Scharfe Kritik an derlei Waffenlieferungen kommt nun erneut von Ex-Brigadegeneral Erich Vad.

Prominenter Kritiker

„Das ist eine militärische Eskalation, auch in der Wahrnehmung der Russen“, sagt Vad in einem gestern veröffentlichten Interview mit der Zeitschrift Emma. Der Marder sei zwar keine Wunderwaffe. Mit der kürzlich genehmigten Lieferung der mehr als 40 Jahre alten Schützenpanzer begebe sich Deutschland aber auf eine Rutschbahn. „Das könnte eine Eigendynamik entwickeln, die wir nicht mehr steuern können.“ Vad war bis 2013 militärpolitischer Berater von Angela Merkel. Seit Monaten gehört er zu den prominentesten Kritikern der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Auch den Offenen Brief, den eine Reihe von Prominenten um die Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer im April an Bundeskanzler Scholz geschrieben hat, hat Vad unterzeichnet. Mittlerweile unterstützen den Brief fast 500.000 Menschen. Für seine Haltung sieht sich der Ex-Militär teils heftiger Angriffe ausgesetzt.

Die deutschen Schützenpanzer vom Typ Marder sind mehr als vier Jahrzehnte alt. 40 von ihnen sollen an die Ukraine geliefert werden. (Foto: Sonaz/CC BY-SA 2.0 DE via Wikimedia Commons)

Vad sieht die Solidarität mit der Ukraine grundsätzlich als richtig an. „Natürlich ist Putins Überfall nicht völkerrechtskonform“, meint er. Es fehle der westlichen Politik aber eine klare Strategie. Was wollen NATO, USA, EU und Bundesrepublik also in der Ukraine erreichen? Lange hieß es insbesondere in Deutschland: Die Ukraine darf nicht verlieren. Immer häufiger hört man nun von Regierungsvertretern: Russland muss besiegt werden. „Wir haben eine militärisch operative Patt-Situation, die wir aber militärisch nicht lösen können“, sagt dazu der Ex-General. Das sei auch die Meinung des amerikanischen Generalstabschefs Mark Milley. „Er hat gesagt, dass ein militärischer Sieg der Ukraine nicht zu erwarten sei und dass Verhandlungen der einzig mögliche Weg seien. Alles andere bedeutet den sinnlosen Verschleiß von Menschenleben.“

Eine unbequeme Wahrheit

Mit ihrer Ablehnung der bedingungslosen Unterstützung der Ukraine kommen Vad und andere Kritiker in den großen deutschen Medien nahezu nicht vor. Auch die Äußerungen von US-Stabschef Milley fanden nicht statt, hat Vad festgestellt. „Das Interview mit Milley von CNN tauchte nirgendwo größer auf, dabei ist er der Generalstabschef unserer westlichen Führungsmacht.“ Die unbequeme Wahrheit, die Milley ausgesprochen habe, passe nicht zur medialen Meinungsbildung. „Wir erleben weitgehend eine Gleichschaltung der Medien, wie ich sie so in der Bundesrepublik noch nie erlebt habe“, kritisiert Vad. „Das ist pure Meinungsmache. Und zwar nicht im staatlichen Auftrag, wie es aus totalitären Regimen bekannt ist, sondern aus reiner Selbstermächtigung.“

Anton Hofreiter ist einer der grünen Wortführer, wenn es um die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine geht. (Foto: Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

In der Bevölkerung habe die Lieferung schwerer Waffen längst keine Mehrheit mehr, sagt Vad. „Das alles wird jedoch nicht berichtet. Es gibt weitestgehend keinen fairen offenen Diskurs mehr zum Ukraine-Krieg, und das finde ich sehr verstörend.“ Vor allem die Grünen kritisiert Vad scharf. „Die Mutation der Grünen von einer pazifistischen zu einer Kriegspartei verstehe ich nicht. Ich selbst kenne keinen Grünen, der überhaupt auch nur den Militärdienst geleistet hätte. Anton Hofreiter ist für mich das beste Beispiel dieser Doppelmoral.“ Dass Deutschland mit Annalena Baerbock „endlich mal eine Außenministerin“ hat, freue ihn. „Aber es reicht nicht, nur Kriegsrhetorik zu betreiben und mit Helm und Splitterschutzweste in Kiew oder im Donbass herumzulaufen. Das ist zu wenig.“

Eine Strategie, die nicht funktioniert

In der Ukraine werde ein Abnutzungskrieg geführt, analysiert Vad. „Und zwar einer mit mittlerweile annähernd 200.000 gefallenen und verwundeten Soldaten auf beiden Seiten, mit 50.000 Ziviltoten und mit Millionen von Flüchtlingen.“ Dem US-Stabschef drängte sich da der Vergleich zum Ersten Weltkrieg auf. Allein die „Blutmühle von Verdun“ habe „zum Tod von fast einer Million junger Franzosen und Deutscher geführt“, erinnert Vad. „Sie sind damals für nichts gefallen. Das Verweigern der Kriegsparteien von Verhandlungen hat also zu Millionen zusätzlicher Toter geführt. Diese Strategie hat damals militärisch nicht funktioniert – und wird das auch heute nicht tun.“

Um zu einer Lösung der Krise zu kommen, meint Vad, sollte man die Menschen in der Region, also im Donbass und auf der Krim, einfach fragen, zu wem sie gehören wollen. „Man müsste die territoriale Integrität der Ukraine wiederherstellen, mit bestimmten westlichen Garantien. Und die Russen brauchen so eine Sicherheitsgarantie eben auch. Also keine Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine. Seit dem Gipfel von Bukarest von 2008 ist klar, dass das die rote Linie der Russen ist.“

Thomas Wolf

Kategorien
Im Blickpunkt

Der Staatsstreich, der keiner ist

Der vermeintliche rechte Umsturz-Versuch ist die Meldung des Tages bei fast allen großen Medien. „Reichsbürger planten Staatsstreich“, titelt tagesschau.de. „Sie wollten sich bewaffnen und den Bundestag stürmen, planten einen Staatsstreich“, heißt es beim ZDF. Bei der Süddeutschen Zeitung liest man von „52 Männern und Frauen, die einen Staatsstreich geplant haben sollen“. Auch die renommierte Frankfurter Allgemeine schreibt vom „Staatsstreich“. In Internetdiskussionen und Telegram-Kanälen sieht man diese Meldungen kritisch. Man glaubt an eine Inszenierung, nicht an einen drohenden Umsturz.

Mehr als Sandkasten-Spiele?

Was die Gruppe von ehemaligen Soldaten der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee der DDR, von Ärzten, Unternehmern und Politikern rund um den Frankfurter Adligen Heinrich Reuß tatsächlich geplant hat, lässt sich im Moment nicht beantworten. Waren die sinistren Pläne mehr als Sandkasten-Spiele und aus dem Ruder gelaufene Polit-Diskussionen bei Telegram? Drohte der verfassungsmäßigen Staatsordnung der Bundesrepublik von jenen „Reichsbürgern“ wirklich eine Gefahr? Sollte der Bundestag tatsächlich gestürmt und Reuß zum Regenten eines erneuerten Deutschen Reichs erhoben werden?

Die deutsche Flagge auf dem Kopf. So soll sie in Reichsbürger-Kreisen Verwendung finden. Andere benutzen Schwarz-Weiß-Rot, die alten Farben des Kaiserreichs.

Eines ist bei aller Ungewissheit klar: Ein Staatsstreich war der vermeintliche Umsturz-Versuch nicht. Das ist keine strafrechtliche Frage, sondern eine der Begrifflichkeiten. Traditionell unterscheidet die deutsche Sprache den Staatsstreich vom Putsch. Während letzterer von nachrangigen Aufrührern (etwa Offizieren der Armee) durchgeführt wird, geht der Staatsstreich von den Herrschenden aus. Das muss nicht notwendigerweise das Staatsoberhaupt sein. Denkbar wäre auch die federführende Beteiligung etwa eines Ministers. Kommt der Umsturz als Teil einer Massenbewegung aus dem Volk, spricht man von Revolution.

Gegenteil eines Staatsstreichs

Der Duden gibt in seiner Online-Ausgabe als Bedeutung von Putsch an: „von einer kleineren Gruppe (von Militärs) durchgeführter Umsturz(versuch) zur Übernahme der Staatsgewalt“. Ein Staatsstreich dagegen ist demnach ein „gewaltsamer Umsturz durch etablierte Träger hoher staatlicher Funktionen“. Dem „Politiklexikon“ von Klaus Schubert und Martina Klein gilt der Putsch sogar regelrecht als Gegenteil eines Staatsstreichs. Diese klare begriffliche Trennung verschwimmt jedoch zusehends. Gerade Journalisten der großen Medienhäuser nutzen beide Ausdrücke mittlerweile offenbar synonym.

Das mag mit daran liegen, dass sich der Putsch nicht immer klar vom Staatsstreich trennen lässt. So könnte die gemeinhin als Putsch bezeichnete Umsturz in Chile am 11. September 1973 auch ein Staatsstreich gewesen sein. Putschisten-Chef Augusto Pinochet war schließlich kurz zuvor zum Oberbefehlshaber des Heeres ernannt worden. Er hatte also ein hohes Amt in der Regierung. Eindeutig ein Putsch war dagegen der gescheiterte Umsturzversuch der noch jungen Nazi-Bewegung 1923 in München, der Hitlerputsch.

Chiles Putschisten-Führer Augusto Pinochet (mit Schärpe). Zum Zeitpunkt seines Putschs 1973 war er Oberbefehlshaber des Heeres. (Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile/CC BY-SA 3.0 CL via Wikimedia Commons)

Möglicherweise liegt dem zunehmenden Gebrauch des Begriffs Staatsstreich für Putsch auch ein verdeckter Anglizismus zugrunde. Im Englischen kann das aus dem Französischen stammende „Coup d’état“ nämlich sowohl für den Putsch (von unten) als auch den Staatsstreich (von oben) stehen. Die aktuelle Reichsbürger-Revolte aber ist weit entfernt von einem Staatsstreich. Es sei denn, sie hätte hochrangige Regierungsvertreter in ihren Unterstützer-Reihen. Das aber wollen Tagesschau, Süddeutsche und Co. durch den Begriff Staatsstreich sicherlich nicht andeuten.

Das Reich ist nicht untergegangen

Die sogenannten Reichsbürger sind eine heterogene Gruppe von nur teilweise rechtsgerichteten Menschen. Der Mehrheit von ihnen gemein dürfte sein, dass sie in der Bundesrepublik kein souveränes Land sehen und von der fortdauernden Existenz des Deutschen Reichs ausgehen. Manche Reichsbürger-Gruppierungen geben eigene (Pseudo-)Pässe heraus. Immerhin in einem Punkt liegen sie nicht falsch: Das Deutsche Reich ist nicht untergegangen. Nach herrschender Lehre ist es nämlich mit der Bundesrepublik identisch.

Thomas Wolf