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Das Ende des „Diktators“ Erdoğan?

Mehr als 60 Millionen türkische Wähler sind heute aufgerufen, ihren Präsidenten zu bestimmen. Erstmals seit Jahren prognostizieren Umfragen ein enges Rennen zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und seinem sozialdemokratischen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu vom oppositionellen „Bündnis der Nation“. Teils liegt Kılıçdaroğlu sogar deutlich vorn. Türken in Deutschland dagegen dürften mit großer Mehrheit für den amtierenden Präsidenten stimmen. Erdoğan steht seit 20 Jahren in wechselnden Ämtern in Regierungsverantwortung. Zunächst war er Ministerpräsident, dann Staatsoberhaupt. Seit der Verfassungsänderung von 2018 ist er als Präsident auch wieder Regierungschef.

Im Schatten des Erdbebens

Zugleich mit dem Staatsoberhaupt wählen die Türken auch ein neues Parlament. Auch hier dürfte es für Erdoğans islamisch-konservative AKP eng werden. Umfragen sehen die AKP zwar weiterhin als stärkste Kraft. Die bisherige Koalition mit der nationalistischen MHP aber könnte scheitern. Der Urnengang steht im Schatten des verheerenden Erdbebens vom Februar. Ihm fielen im Grenzgebiet zwischen der Türkei und dem Bürgerkriegsland Syrien rund 60.000 Menschen zum Opfer. Die Regierung Erdoğan steht wegen ihrer Katastrophen-Hilfe seither massiv in der Kritik. Ironischerweise würde eine Wahl-Niederlage das im Westen verbreitete Narrativ vom Diktator Erdoğan wohl nahezu unhaltbar machen.

Kemal Kılıçdaroğlu (Zweiter von links) hat gute Chancen, Recep Tayyip Erdoğan als Präsident der Türkei abzulösen. (Foto: CHP – Cumhuriyet Halk Partisi/CC BY 3.0 via Wikimedia Commons)

Ethnische und religiöse Minderheiten in den Nachbarländern der Türkei jedenfalls hoffen auf einen Regierungswechsel, sagt Kamal Sido, Nahost-Experte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) in Göttingen. Für die kurdischen Gebiete in Syrien und im Irak könne ein Machtwechsel das Ende der täglichen Angriffe bedeuten, betonte Sido nach einer Reise in die Region. „Die Menschen leiden dort sehr unter der Gewalt, die von der Türkei ausgeht. Während ich in der Nähe von Amuda in Nordsyrien war, wurde ein kurdischer Bauer auf seinem Feld von türkischen Grenzposten angeschossen – völlig grundlos. Er überlebte nur knapp“, berichtet Sido.

Angriffe auf die Zivilbevölkerung

Weiter südlich, bei Tal Hamis, sei ein Fahrzeug von einer türkischen Drohne angegriffen worden. „Eine junge Kurdin, die bei der autonomen Selbstverwaltung angestellt ist, berichtete, dass ihre beiden kleinen Kinder jedes Mal weinen, wenn sie etwas am Himmel hören. Sie schreien: Mama, Mama, Drohnen am Himmel!“. Viele Menschen in der Region hegten die Hoffnung, dass eine neue türkische Regierung die ständigen Angriffe auf die Zivilbevölkerung einstellt. „Vor allem dort, wo das Erdbeben Anfang Februar alles zerstört hat, sind die Menschen verzweifelt“, sagt Sido. „Denn die Türkei lässt weiterhin kaum humanitäre Hilfe zu. Nur Waffen für islamistische Milizen kommen ungehindert ins Land.“

Zugleich warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker aber auch vor dem säkularen Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu. Der Vorsitzende der kemalistischen Republikanischen Volkspartei CHP kündigte an, nach einem Wahlsieg in direkte Verhandlungen mit der „legitimen Regierung Syriens“ eintreten zu wollen. Also mit Baschar al-Assad. Der gilt westlichen Politikern und Medien seit Beginn des Bürgerkriegs in seinem Land nicht mehr als Präsident, sondern bestenfalls als „Machthaber“. Die GfbV nennt ihn sogar „Diktator und Massenmörder“.

Necmettin Erbakan gilt als Ziehvater von Präsident Erdoğan. Die von ihm gegründete Partei der Glückseligkeit gehört dagegen dem oppositionellen „Bündnis der Nation“ an. (Foto: Zest at the Turkish language Wikipedia/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

Zu Kılıçdaroğlus Wahlbündnis gehören neben der sozialdemokratischen CHP die nationalistische İyi Parti von Meral Akşener, die liberal-konservative Demokratische Partei und die islamistische Partei der Glückseligkeit. Sie steht der radikalen Bewegung Millî Görüş (Nationale Sicht) nahe, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet wird. Ihr Mitbegründer Necmettin Erbakan, der in den 1990er Jahren kurzzeitig türkischer Ministerpräsident war, gilt wiederum als politischer Ziehvater von Recep Tayyip Erdoğan.

Erst einmal gewinnen

Nach Ansicht der GfbV ist Kılıçdaroğlu „in ein System eingebunden, das alles Kurdische ablehnt“ und steht für einen türkisch-nationalistischen Kurs. „Viel wird davon abhängen, welche Politik eine neue Regierung gegenüber der kurdischen und anderen Minderheiten innerhalb und außerhalb der Türkei anstrebt“, gibt Kamal Sido zu bedenken. „Und davon, ob Kılıçdaroğlu den Mut hat, ehrlich über eine friedliche Lösung der Kurdenfrage zu verhandeln.“ Doch dafür müsse die Opposition die Wahlen erst einmal gewinnen.

Thomas Wolf

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Ehrentage der Eltern unter Beschuss

In einer Zeit, in der Kinder als schlimme „Klimasünder“ gelten, haben es Mutter- und Vatertag nicht einfach. Zunehmend geraten die einstigen Ehrentage der Eltern unter Beschuss. Durchaus nicht nur seitens säkularer Kreise, die Familie und Nachwuchs per se kritisch gegenüberstehen. Etwa Klimaschutz-Aktivisten der „Letzten Generation“, die sich sterilisieren lassen, weil sie keine Kinder bekommen möchten. Kinder, lassen sich die Aktivisten in einer umstrittenen Studie vorrechnen, seien schließlich eine schwere Hypothek auf die Zukunft. In ihrem Leben, heißt es, werden sie und ihre eigenen Kinder für den Ausstoß von durchschnittlich fast 60 Tonnen Kohlendioxid-Äquivalent verantwortlich sein. Pro Jahr. Also besser kein Nachwuchs – so die fragwürdige Logik der selbsternannten Weltretter.

Deko mit Blümchen und Herzen ist zum Muttertag recht beliebt. Mit selbstgebastelten Geschenken machen Kinder ihren Mamas eine Freude. (Foto: Pixabay)

Neuerdings steht der Muttertag auch aus Kreisen der Gesellschaft heraus unter Beschuss, in deren Welt- und Familienbild Kinder bislang eine zentrale Rolle gespielt haben. Aus der Kirche. „Seid fruchtbar und mehret euch“, liest man bereits im Buch Genesis, dem ersten Buch des biblischen Alten Testaments. Über die Jahrtausende hinweg war dieser Bibelvers Juden wie Christen gleichermaßen Auftrag und Anliegen. Das ist offenbar für immer mehr Theologen und Mitarbeiter des organisierten Protestantismus und Katholizismus in Deutschland nicht mehr der Fall.

Geschlechterübergreifender „Elterntag“

Maren Bienert etwa, Professorin für evangelische Theologie in Hildesheim, möchte den Muttertag am liebsten durch einen geschlechterübergreifenden „Elterntag“ ersetzen. Dieser solle Männer, Frauen, „queere“ und „nonbinäre“ Menschen, die familiäre Verantwortung übernehmen, gleichermaßen würdigen. „Damit würden gleich mehrere Familienkonstellationen aufgewertet und Menschen sichtbar gemacht, die für Kinder Eltern sind und familiale Verantwortung übernehmen“, sagt die evangelische Theologin, die ein fächerübergreifendes Forschungsprojekt zu Sexual- und familienethischen Fragen plant.

Eine katholische Kita in Hessen will keine Mutter- und Vatertags-Geschenke mehr gemeinsam mit den Kindern basteln. Begründung: Die „Konstellation Mutter Vater Kind/er“ sei nicht mehr die Norm. Es gebe auch Familien ohne Vater. (Foto: Pixabay)

In Hessen ist derweil eine katholische Kindertagesstätte in die Schlagzeilen geraten. Ein Schreiben teilt den Eltern der Kita-Kinder mit, dass man in einer „gemeinsamen Teamsitzung“ beschlossen habe, ab diesem Jahr zum Vater- und zum Muttertag keine Geschenke mehr mit den Kindern gestalten werde. „In der heutigen Zeit“, heißt es zur Begründung, „in der die Diversität einen immer höheren Stellenwert erhält, möchten wir diese vorleben und keinen Menschen ausschließen.“ Auch würden zum Mutter- und Vatertag „stereotypische Geschenke angefertigt, wie z. B. Blumen für die Mutter oder Werkzeug für den Vater“.

Dies sei vielleicht eine tolle Geste, schließe aber „einen Teil der Gesellschaft aus und ist nicht individuell für alle Menschen“. Die ideologische Krönung des Schreibens liest sich so: „Außerdem ist die Konstellation Mutter Vater Kind/er nicht mehr die Norm in heutigen Familien.“ Ein Vatertags-Geschenk „ohne Vater in der Familie“ sei „nicht nur ohne Wert, sondern kann die Identität eines Kindes in Frage stellen. Um allen Menschen gerecht zu werden, müssten wir mit jedem einzelnen Kind ein individuelles Geschenk anfertigen.“

„Danke für ihren Megaeinsatz“

Im Internet löste der Brief massive Proteste aus. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und frühere Bundesvorsitzender der Jungen Union, Tilman Kuban, twitterte: „Dem Wahnsinn sind keine Grenzen mehr gesetzt… Irgendwie find ich es ziemlich cool, wenn man Kindern beibringt seiner Mutter einfach mal Danke zu sagen für ihren Megaeinsatz Tag für Tag!“ Weil er das Schreiben der Kita zunächst veröffentlicht hatte, ohne die Adresse zu schwärzen, warf die hessische SPD ihm vor, die Kita „an den Pranger gestellt“ und „zum Shitstorm-Ziel“ gemacht zu haben. Auch Ruprecht Polenz, ehemals Generalsekretär der CDU, kritisierte Kuban und sprach von „kulturkämpferischem Eifer“.

Ein Tweet des CDU-Abgeordneten Tilman Kuban machte das Schreiben der hessischen Kita bekannt. (Foto: Olaf Kosinsky/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Ob eine Vandalismus-Tat im Zusammenhang mit dem Brief steht, ist unklar. In einer Gartenhütte auf dem Kita-Gelände wurde jedenfalls nach Angaben der Polizei eine Scheibe eingeschlagen. In einer zweiten Hütte wurde die Tür aufgebrochen. Es entstand ein Sachschaden von geschätzt rund 800 Euro. Das katholische Bistum Fulda, in dessen Zuständigkeit die Kita fällt, sprach von „Irritationen und Missverständnissen“, die durch das Schreiben entstanden seien. Die Kita habe weiterhin ein katholisches Profil und werde sich für das christliche Familienbild einsetzen. Andere Lebensmodelle würden jedoch nicht ausgeschlossen.

„Schule queer denken“

Zwar nicht am Muttertag, aber immerhin nur zwei Tage danach (und zwei Tage vor dem Vatertag) veranstaltet Baden-Württemberg einen „LSBTTIQ+-Aktionstag“ in allen Schulen des Landes. Anlass ist der „Internationale Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie“. Für die Aktion werden den Schulen nach Informationen des Bündnisses „Demo für alle“ Materialien und Projektideen zur Verfügung gestellt. Hintergrund sei die „Daueraufgabe“ des grün geführten Kultusministeriums, „Schule queer denken“ zu wollen. „Die Schule wird inzwischen schamlos als Ideologen-Schmiede und zur Sexualisierung der zur Anwesenheit verpflichteten Schüler missbraucht“, kommentiert Bündnis-Sprecherin Hedwig vom Beverfoerde. „Mit aller Macht will man offensichtlich Kindern ihr natürliches Verständnis für die Familie austreiben.“

Erfunden hat den Muttertag die US-Amerikanerin Anna Marie Jarvis (1864-1948). Sie wollte damit ihrer eigenen Mutter und ihrem sozialen Engagement ein Denkmal setzen. Am zweiten Mai-Sonntag 1908 ehrte die methodistische Kirche sie erstmals mit einem Gottesdienst. Seit 1914 ist der Muttertag in den USA nationaler Feiertag. In Deutschland wird er seit 100 Jahren begangen. Der zunehmenden Kommerzialisierung des Muttertags durch den Handel stand Jarvis kritisch gegenüber. Kurz vor ihrem Tod 1948 erzählte sie einem Journalisten, sie bedauere, den Tag ins Leben gerufen zu haben.

Kinder in Wladiwostok basteln Dekoration für den Internationalen Frauentag am 8. März. In Russland der er bis heute einen großen Stellenwert. (Foto: RIA Novosti archive/image #591523/Vitaliy Ankov/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

In der DDR beging man statt des Muttertags den Internationalen Frauentag am 8. März. Ähnlich wie in anderen damals sozialistischen Staaten. Bis heute hat der Tag in Russland einen hohen Stellenwert. Der Muttertag ist in dem Land hingegen erst seit 1998 von Bedeutung, erklärt Nina Popova, die von der südrussischen Region Krasnodar aus die Telegram-Kanäle „Politik für Blondinen“ und „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ betreibt. Anders als in Deutschland oder den USA findet er jedoch am letzten Sonntag im November statt. Ebenfalls anders: Zum Muttertag gratuliere man den Müttern meist nur. „Geschenke“, erläutert Popova, „gibt es eher am 8. März.“ Für alle Frauen. „Am 8. März braucht man nur weiblich zu sein“, sagt die 40-Jährige und schmunzelt. Für Vertreter der politischen Korrektheit im Westen klingt das fast schon reaktionär.

Thomas Wolf

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„Deutschland gegenüber positiv eingestellt“

Nina Popova ist 40 Jahre und lebt in der russischen Region Krasnodar nahe der Küste des Schwarzen Meeres. Auf Telegram betreibt sie die deutschsprachigen Kanäle „DRN Deutsch-Russische Nachrichten“ und „Politik für Blondinen“. Deutschland kennt und liebt sie, seit sie als Kind mit ihrer Familie in die Bundesrepublik kam. Einst machte sie Wahlkampf für die CDU. Zurück in Russland ist sie seit 2019. Im Interview erzählt Nina von ihrer neuen und alten Heimat, ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine, der russischen Liebe zu Deutschland und der Zukunft der deutsch-russischen Beziehungen.

Nina Popova lebt in der südrussischen Region Krasnodar. (Foto: privat)

Nina, in westlicher Wahrnehmung gibt es in Russland praktisch keine privaten Medien mehr, sondern nur noch staatliche. Wie sieht die Situation tatsächlich aus? 

Es gibt einige freie Journalisten, die ich sehr gerne lese. Als Journalist ist man in Russland frei zu schreiben, was man will, solange keine Gesetze verletzt werden. Die Gesetze sind im übrigen den westlichen ähnlich. Solange keine radikalen Aufrufe enthalten sind, darf man schreiben. Die Situation der freien Medien wird eher vom Westen her erschwert. So hat man mit einer russischen IP-Adresse keinen Zugriff auf deutsche Medien. Russland sperrt keine Nachrichten aus. Es werden sogar Tipps gegeben, wie man westliche Medien weiterhin lesen kann. 

Das heißt konkret: Wie informierst Du Dich?

Ich nutze wie empfohlen VPN, um weiterhin alle Nachrichten aus aller Welt zu lesen. Selbstverständlich lese ich alle großen deutschen Nachrichtenagenturen, ebenso englischsprachige Medien und natürlich die in russischer Sprache. Ich bin immer noch der Überzeugung, dass ich so am besten fahre. Wobei die westlichen Medien mittlerweile sehr viel behaupten und nicht wirklich prüfen. 

Wie berichten russische Medien über den Krieg in der Ukraine?

Vielseitig. Das trifft es wohl am besten. Es gibt Berichte direkt von der Front, Augenzeugenberichte usw. Was mich hier sehr erstaunt, ist, dass gegen andere Länder oder Menschen in keiner Weise gehetzt wird. 

Du betreibst zwei Telegram-Kanäle mit Nachrichten aus Russland. Welche Rolle spielen Fake News in Deiner täglichen Arbeit?

Fake News erschweren meine Arbeit. Ich gebe mir Mühe, alles zu prüfen, was ich veröffentliche. Mir ist es wichtig, dass man nicht schockiert oder nur kritisiert. Ich möchte, dass man sich informieren kann. Natürlich ist es gerade bei dringenden Nachrichten schwierig, immer gleich zu prüfen, ob sich keine Fake News dahinter verbergen. Bisher hatte ich Glück oder einfach ein Gefühl dafür, was nicht stimmt. Sollte es mir dennoch mal passieren, so würde ich das selbstverständlich auch berichten.

Der Krieg ist ihr nah: Als die Brücke über die Straße von Kertsch attackiert wurde, war Nina Popova Ohrenzeugin der Explosion. Im Bild: die Grenze zur Volksrepublik Donezk. (Foto: privat)

Du lebst in der Nähe von Krasnodar, nicht weit von der Brücke über die Straße von Kertsch auf die Krim-Halbinsel. Wie nah ist Dir der Krieg?

Dieser Krieg ist mir nah. Im Oktober bin ich von der Explosion der Brücke aufgewacht. Aber auch menschlich ist er uns nah. Ich habe Verwandte in der Ukraine. Ich sehe täglich Flüchtlinge aus der Ukraine. Wie viele Menschen hier tun auch mir diese Menschen, die alles verloren haben, leid.

Du bist schon mehrfach in Frontnähe gewesen und hast Soldaten besucht. Wie sehen diese Besuche konkret aus – was macht Ihr dort?

Ich habe Freunde, die eingezogen worden sind. Wir sind sozusagen die Feldpost. Wie bringen Briefe oder Päckchen von den Familien der Jungs. Ich bin vor allem mitgefahren, weil ich mir ein eigenes Bild machen wollte und einfach musste. 

Dieses zerstörte Haus in Mariupol hat Nina Popova lange beschäftigt. Auf der Tür steht „Kinder“. Die Warnung bedeutet nach Ninas Aussage, dass sich während der Kämpfe Kinder in dem Haus versteckt haben. (Foto: privat)

Wie organisiert Ihr die Besuche? Welche Rolle spielen dabei der Staat oder das Militär?

Wir fahren mit anderen Freiwilligen. Selbstverständlich bedarf es der Erlaubnis von der Armee. Der Staat spielt bei unseren Unternehmungen nur soweit eine Rolle, dass wir eine Erlaubnis brauchen. Ansonsten ist es wie gesagt freiwillig. Wir tragen die Kosten selbst.

Du warst im Zuge Deiner Besuche vor einiger Zeit auch in Mariupol. Die Stadt ist eines der Symbole für den Krieg und die Zerstörungen, die er verursacht. Zumindest im Westen. Wie ist die Situation dort?

Die Stadt hat mich unheimlich berührt. Es ist für mich kaum vorstellbar, was diese Menschen ertragen haben müssen. Diese Stadt ist eine Stadt der Gegensätze geworden. Man erahnt ihre einstige Schönheit. Und sie erwach wieder zum Leben. Ich habe die Neubaugebiete selbst gesehen. Aber es ist noch viel zu tun. 
Mich hat die Freundlichkeit der Menschen dort berührt. 

Das Industriegelände von Asowstal wurde während des Kampfs um Mariupol zum Rückzugsorts ukrainischer Soldaten und ultranationalistischer Einheiten. Heute ist das Gebiet gesperrt. Fotoaufnahmen aus der Nähe sind verboten. (Foto: privat)

Du hast große Teile Deiner Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht, bist deutsche Staatsbürgerin und wohnst erst seit wenigen Jahren wieder in Russland. Worin unterscheidet sich das Leben in beiden Ländern?

Ich habe 30 Jahre meines Lebens in Deutschland verbracht. Ich mag beide Länder sehr gerne, aber in Russland ist das Leben entschleunigt. Man hat irgendwie mehr Zeit – also wenn man nicht gerade in Moskau lebt. In Deutschland hatte ich oft wenig Zeit für meine Familie. Hier ist die Ausrichtung der Werte viel mehr auf Kinder und Familie ausgerichtet. Ich arbeite und habe dennoch mehr Zeit. 

Wie denkst Du heute über Deutschland?

Ich habe viele Freunde und auch Teile der Familie immer noch in Deutschland. Mir ging es auch in Deutschland gut. Ich habe mich aus persönlichen Gründen für den Umzug entschieden. Wobei ich sagen muss, dass ich die heutige Regierung in Deutschland nicht ganz verstehe und mir aus meiner Sicht mehr Neutralität wünschen würde. 

Was stört Dich an Russland?

Es sind eher meine angewöhnten Eigenheiten oder Sachen, die ich aus Deutschland gewohnt war – wie Pünktlichkeit. Die ist hier manchmal ein dehnbarer Begriff. Außer der russischen Bahn: Die ist auf die Sekunde pünktlich! Und mich stört die Grundentspanntheit mancher Handwerker. 

Wie könnte für Deutschland und Russland ein Ausweg aus der aktuellen Spirale von Sanktionen, Hetze und Hass aussehen? Wie könnten sie zurückfinden zu alter Freundschaft?

Ich wünsche mir, dass Deutschland wieder mehr Neutralität walten lässt. Der radikale Kurs der deutschen Regierung wird auch eine zukünftige diplomatische Zusammenarbeit unmöglich machen. In Russland wird nicht gegen das deutsche Volk gehetzt. Niemand wünscht sich, Deutschland zu zerstören. Ich lese ja diese Sachen in den deutschen Medien und bin bestürzt. In Russland sind die Menschen Deutschland gegenüber immer positiv eingestellt gewesen. Man schätzt hier deutsche Autos, deutsches Bier und die Industrie in Deutschland. „Made in Germany“ ist ein Qualitätsmerkmal. Als ich meine Kanäle schuf, wollte ich, dass unsere Völker das Verständnis füreinander nicht verlieren.

Interview: Thomas Wolf

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Im Blickpunkt

Nur Putin-Freunde wollen Frieden

Ostern ist nicht nur das christliche Fest der Auferstehung Jesu Christi. Die Ostertage sind in Deutschland auch traditionell die Zeit der Ostermärsche. In vielen Städten prägen die Kundgebungen für den Frieden das verlängerte Osterwochenende. Auch in diesem Jahr. Eine „unterm Strich positive Bilanz“ ziehen die Organisatoren. Mehr als 120 Demonstrationen brachten Zehntausende Menschen auf die Straße. Kern des Anliegens wie schon im vergangenen Jahr: Frieden in der Ukraine. Damit machen sich die Ostermarschierer angreifbar. Denn Frieden wollen nur Putin-Freunde. So jedenfalls scheint es, wenn man Äußerungen deutscher Politiker und Medien zugrunde legt.

Die Ostermärsche standen in diesem Jahr ganz im Zeichen des Ukraine-Kriegs. Im bayerischen Hof trugen Teilnehmer ein Plakat mit der Aufschrift „Für Frieden und Abrüstung“. (Foto: PantheraLeo1359531/CC BY 4.0 via Wikimedia Commons)

„Wer über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen mit Putin verlangt, der steht auf der falschen Seite der Geschichte.“ So sieht es Stephan Thomae, der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion im Bundestag. Eine Waffenruhe würde „dem russischen Aggressor diejenigen Gebiete ausliefern, die dieser durch Bruch des Völkerrechts und mit unerträglicher Brutalität erobert hat“. Und weiter: „Wir müssen alles tun, um die Ukraine in diesem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg zu unterstützen.“

Freiheit statt Frieden

Auch der frühere Bundesminister Thomas de Maizière (CDU) lehnt die Forderungen der Ostermarschierer ab. Ihren Pazifismus bezeichnet er im Interview mit dem Evangelischen Pressedienst als naiv. „Aber er ist zugleich nötig als kritischer Maßstab. Es gibt bei diesen schwierigen Abwägungen keine widerspruchsfreien Lösungen. Natürlich verlängert eine Waffenlieferung das Töten und Sterben. Wenn man das ablehnt, muss man sich aber im Klaren sein, dass der Preis dafür wahrscheinlich Unfreiheit ist. Letztlich geht es also um die Frage: Ist Frieden oder Freiheit wichtiger? Für mich ist Freiheit wichtiger als Frieden. Das ist mein Vorwurf an den Pazifismus.“

Bereits im vergangenen Jahr hatte der FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff die Teilnehmer der Ostermärsche als „fünfte Kolonne“ Putins bezeichnet. Kommentatoren sprachen angesichts dessen von „verrückten Zeiten“. In der Tat steht die Welt Kopf seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022. Wer seine Stimme für Frieden und Verhandlungen erhebt, muss sich als Unterstützer eines „völkerrechtswidrigen Angriffskriegs“ beschimpfen lassen. Wer die Lieferung schwerer Waffen in das Kriegsgebiet kritisiert, fällt demnach der Ukraine in den Rücken. Und wer die Gesprächskanäle zu Russland nicht abreißen lassen möchte oder sich gar der Ablehnung alles Russischen entgegenstellt, ist bestenfalls „Putin-Versteher“.

FDP-Politiker Alexander Graf Lambsdorff (links) sieht in den Teilnehmern der Ostermärsche die „fünfte Kolonne“ Wladimir Putins. (Foto: Kuhlmann/MSC/CC BY 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Eine jener angeblichen „Putin-Versteherinnen“ ist Margot Käßmann. Die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland bekräftigte kurz vor Ostern ihre ablehnende Haltung zu Waffenlieferungen an die Ukraine. „Anfangs hieß es, wir würden reine Verteidigungswaffen liefern, jetzt sind daraus ganz klar Angriffswaffen geworden“, sagte sie im Gespräch mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Mit den gelieferten deutschen Panzern werde auf russische Soldaten geschossen. „Das kann doch auch keine Lösung sein“, sagte Käßmann.

Verhandlung, nicht Kapitulation

Dabei machte die einstige Landesbischöfin von Hannover auch deutlich, dass sie durchaus keine „Putin-Freundin“ ist. Den russischen Einmarsch sieht sie als Angriffskrieg eines Diktators auf ein freies Land. Dennoch müsse es durch Friedensverhandlungen schnellstmöglich zu einem Ende des Tötens kommen. „Verhandlung heißt nicht Kapitulation“, betonte Käßmann. Der Ukraine spricht sie nicht das Recht ab, sich zu verteidigen. Aber sie fürchte, sagt sie, dass Deutschland durch Waffenlieferungen nach und nach selbst zur Kriegspartei werde. Über allem steht für die Theologin die Vision einer „Welt ohne Waffen“. Sie wolle sie nicht aufgeben.

Kaum jemand vertritt die Forderungen nach schweren westlichen Waffen für die Ukraine seit der russischen Invasion so vehement wie mancher Grünen-Politiker. Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) offenbar noch hoffte, mit Helmen und Munition sei es getan, forderte Anton Hofreiter bereits deutsche Panzer für die Front im Donbass. Statt eines schnellen Friedens für die Ukraine stand bald ein Sieg über Russland auf der politischen und militärischen Agenda. „Wie irre ist die ehemalige Friedenspartei geworden?“, fragte Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht bereits vor einem Jahr.

Deutsche Kampfpanzer des Typs Leopard 2 A5 bei einer Lehr- und Gefechtsvorführung. (Foto: © Bundeswehr/Modes/CC BY 2.0 via Wikimedia Commons)

Mittlerweile sind deutsche Panzer in der Ukraine längst Realität. Selbst „Leopard 2“, deren Lieferung Kanzler Scholz lange abgelehnt hatte, sind im Einsatz gegen Russland. Kiew hätte nun gern moderne westliche Kampfflugzeuge. MiG-29 aus Polen und der Slowakei befinden sich bereits im Land. Noch zögert die Bundesregierung, lehnt die Lieferung eigener Jets ab. Doch wirklich ausgeschlossen hat dies niemand. Erst recht nicht für alle Zukunft. Er halte es nicht für richtig, „jetzt darüber zu reden“, sagte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) vor gut zwei Monaten. „Wir tun nur Dinge, die uns nicht zur Kriegspartei werden lassen. Wobei nicht ganz klar ist, wo diese Linie verläuft.“

Westen ist „Konfliktpartei“

Genau das ist das Problem. Während der Westen betont, die Lieferung von Kampfpanzern und selbst Flugzeugen sei keine Kriegsbeteiligung, sieht Russland das naturgemäß anders. Im Kreml betonte man bereits vor Monaten, man betrachte den Westen als „Konfliktpartei“. Was immer das konkret bedeutet. Die Gefahr einer weiteren Eskalation jedenfalls ist groß. Und dürfte sich mit jeder weiteren Waffenlieferung noch vergrößern. Im schlimmsten Fall droht die äußerste Eskalation: der Atomkrieg zwischen Ost und West. Davor warnte auch Kanzler Scholz.

Vor einem handverlesenen Publikum fragte NS-Propagandaminister Joseph Goebbels am 18. Februar 1943: „Wollt ihr den totalen Krieg?“ (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-J05235/Schwahn/CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

„Wollt ihr den totalen Krieg?“, schleuderte Joseph Goebbels, der Propagandaminister der Nazis, im Februar 1943 bei seiner Rede im Berliner Sportpalast dem ausgewählten Publikum verbal entgegen. „Totaler Krieg – kürzester Krieg“ besagte ein Transparent über der Bühne, auf der Goebbels sprach. Heute wäre der kürzeste totale Krieg ein nuklearer. Er würde aller Wahrscheinlichkeit nach zur weitgehenden Vernichtung der menschlichen Zivilisation führen. Das wissen die Russen. Und das wissen die Amerikaner. Aber wissen es auch diejenigen, die nach immer mehr schweren Waffen rufen?

Frank Brettemer

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Zwangskonversion in Erdoğans Auftrag?

Islamistische Milizen, die im Auftrag der Türkei die kurdische Region Afrin im Norden Syriens kontrollieren, zwingen Angehörige religiöser Minderheiten zum Übertritt zum Islam. Das meldet die Göttinger Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV). Die Zwangsislamisierung unter anderem der jesidischen Minderheit sei seit der völkerrechtswidrigen Besetzung der Region vor fünf Jahren Gang und Gäbe. Ein neuerlicher großflächiger Einmarsch türkischer Truppen schien zuletzt immer wieder möglich.

„Nur noch sunnitische Muslime“

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan wolle, „dass im syrischen Grenzgebiet zur Türkei nur noch sunnitische Muslime leben dürfen. Gläubige anderer Religionen und Angehörige der kurdischen Minderheit hat er weitgehend vertreiben lassen“,sagt Kamal Sido, Nahostexperte der GfbV. „Wer nicht fliehen wollte, ist seitdem einer gewaltsamen Islamisierungskampagne ausgesetzt. Nicht-Muslime werden mit dem Tod bedroht, wenn sie nicht konvertieren wollen.“

Jesidische Männer mit traditionellem Schnurrbart. Die Existenz der Minderheit im Norden Syriens ist bedroht. (Foto: Bestoun94/CC BY-SA 3.0 via Wikimedia Commons)

In einem Video, dessen Echtheit die GfbV verifiziert hat, ist ein syrischer Geistlicher zu sehen, der zwei Männer auffordert, einzeln das islamische Glaubensbekenntnis zu nachzusprechen. Der Geistliche ist Mitglied einer jener protürkischen Gruppen, die Afrin im Auftrag der Türkei kontrollieren. Die beiden Opfer sind nach Angaben der GfbV Jesiden aus dem Dorf Qibar, fünf Kilometer nordöstlich der Stadt Afrin.

Islam oder Tod

„Nach unseren Informationen wurden die beiden Jesiden in den vergangenen Jahren immer wieder erpresst und mit dem Tod bedroht. Nun wurden sie vor die Wahl gestellt: Islam oder Tod“, berichtet Sido. „Für die Islamisten ist das Jesidentum keine ‚Buchreligion‘. Nach einer radikalen Auslegung des Korans bleib ihnen daher nur die Wahl zwischen Konversion oder Tod.“ Nur Juden und Christen akzeptieren die Islamisten als „Buchreligionen“. Sie dürfen ihren Glauben unauffällig leben, müssen aber Schutzgelder zahlen. Jesiden hingegen genießt keinerlei Schutz.

Das Auswärtige Amt in Berlin unterstützt die „Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“. Deren Milizen sind an Zwangskonversionen zum Islam beteiligt, kritisiert die Gesellschaft für bedrohte Völker. (Foto: Manfred Brückels/CC BY-SA 2.0 DE via Wikimedia Commons)

In diesem Zusammenhang wiederholt die Gesellschaft für bedrohte Völker ihre Forderung an die Bundesregierung, die politische, diplomatische und vor allem finanzielle Unterstützung der Islamisten in Afrin und ganz Syrien einzustellen. Die Milizen sind nach Angaben der GfbV der bewaffnete Arm der protürkischen syrischen Oppositionsgruppe „Nationale Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte“. Diese Gruppe wird vom Auswärtigen Amt unterstützt

Mörderischer Feldzug

„Spätestens seit der Anerkennung des Völkermords an den Jesiden durch den Deutschen Bundestag hätte das Auswärtige Amt in Berlin seine Unterstützung für die Islamisten einstellen müssen. Denn der von Erdoğan angestachelte mörderische Feldzug des sogenannten ‚Islamischen Staates‘ begann 2013 in Afrin, wo islamistische Milizen die ersten jesidischen Dörfer angriffen“, erinnert Sido.

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Ein Mann und sein missverstandenes Lied

Er war Germanist, Hochschullehrer und Dichter, liberaler Demokrat und aufrechter deutscher Patriot. Sein wohl bekanntestes Werk ist bis heute umstritten: August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der Autor des Deutschlandlieds, kam am 2. April 1798 zur Welt. Als er 1841 auf Helgoland zur Melodie von Haydns Kaiserhymne sein „Lied der Deutschen“ schrieb, war das von ihm besungene „deutsche Vaterland“ von „Einigkeit und Recht und Freiheit“ noch weit entfernt. Helgoland selbst gehörte damals als Kronkolonie zu Großbritannien. Für Hoffmann von Fallersleben war die Zeit seines Aufenthalts auf der Insel eine Art Wendepunkt im Leben.

August Heinrich Hoffmann von Fallersleben ist vor allem als Dichter des Liedes der Deutschen bekannt. (Foto: gemeinfrei)

Seinem „Lied der Deutschen“ gingen die „Unpolitischen Lieder“ voraus. Anders als der Name es auszusagen scheint, waren sie alles andere als unpolitisch. Genau das machte sie in den Augen der Herrschenden gefährlich. Hoffmann von Fallersleben spricht sich darin nämlich für bürgerliche Freiheiten und einen geeinten deutschen Nationalstaat aus. Und greift Kleinstaaterei, Zensur und Fürstenwillkür scharf an. Auf der politischen Führungsebene des Deutschen Bundes, des damaligen reaktionären Staatenbunds der deutschen Fürstentümer und freien Städte, machte er sich damit keine Freunde.

Eine Art inoffizielle Hymne

1842 enthob die preußische Regierung Hoffmann von Fallersleben wegen seiner oppositionellen Haltung seiner Professur, die er seit 1835 in Breslau innehatte. Im Jahr darauf verlor er auch die Staatsbürgerschaft Preußens und war gezwungen, rastlos durch Deutschland zu wandern. An der deutschen Revolution von 1848 beteiligte er sich nicht aktiv, konnte dadurch seine politischen Zielen aber als verwirklicht ansehen. Als die im Frühjahr 1848 gewählte Nationalversammlung in Frankfurt unter schwarz-rot-goldenen Fahnen zu ihrer ersten Sitzung zusammentrat, stimmten die Abgeordneten des ersten gesamtdeutschen demokratischen Parlaments das Deutschlandlied an. Hoffmanns Dichtung war damit zu so etwas wie einer inoffiziellen Hymne des demokratischen Deutschen Reichs geworden.

Die Revolution, die hoffnungsvoll begonnen hatte, aber scheiterte. Und mit ihr der deutsche Nationalstaat. Vorerst zumindest. Ganz zurück hinter 1848 aber konnten die Fürsten nicht. Statt den Weg einer revolutionären Erneuerung von unten ging Deutschland den einer Einigung von oben. Preußen übernahm die Führung im Deutschen Bund und versuchte, ihn zu einem Bundesstaat weiterzuentwickeln. Ohne Österreich, das nach der Niederlage im Deutschen Krieg von 1866 aus dem Bund ausscheiden musste. Als Hoffmann von Fallersleben am 19. Januar 1874 starb, hatte er den Anbruch der deutschen Nationalstaatlichkeit noch erlebt. Das Kaiserreich von 1871 ist im Kern identisch mit dem deutschen Staat der Gegenwart.

Die Lange Anna ist eine der Sehenswürdigkeiten auf Helgoland. Auf der Insel schrieb Hoffmann von Fallersleben den Text des Deutschlandlieds. (Foto: Pixabay)

Nur wenigen ist bewusst, dass von Hoffmann von Fallersleben auch zahlreiche Volks- und Kinderlieder überliefert sind, die noch heute gesungen werden. Freilich meist ohne dass Wissen um den Urheber. „Alle Vögel sind schon da“ zum Beispiel. Auch „Der Kuckuck und der Esel“, die einen Streit hatten, stammen von Hoffmann von Fallersleben. Beide Lieder hat der Dichter 1835 verfasst. Ebenso „Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald“ und „Summ summ summ! Bienchen summ’ herum!“. Mit „Morgen kommt der Weihnachtsmann“ dichtete Hoffmann von Fallersleben sogar ein Lied zum Christfest, das Kinder bis heute singen. Jünger als das Deutschlandlied ist „Ein Männlein steht im Walde“ (1843).

Staatsmotto auf Münzen

Bekannt aber ist der gebürtige Niedersachse heute fast ausschließlich als Verfasser der deutschen Nationalhymne. Offiziellen Status erhielt das Lied der Deutschen erst in der Weimarer Republik. Im Kaiserreich hatte zuvor „Heil dir im Siegerkranz“ einen ähnlichen Platz eingenommen. Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) bestimmte 1922 Hoffmanns Lied zur Nationalhymne der ersten demokratischen deutschen Republik. „Einigkeit und Recht und Freiheit“ wurde zum Staatsmotto, das sich etwa als Aufschrift auf Münzen fand. In der NS-Zeit wurde vornehmlich die erste Strophe („Deutschland, Deutschland, über alles“) gesungen, gefolgt vom Horst-Wessel-Lied der Nazis. Vor allem jene Verwendung während der braunen Diktatur lastet bis heute auf dem Lied.

Reichspräsident Friedrich Ebert (mit Zylinder in der Hand) schreitet auf dem Platz der Republik in Berlin eine Ehrenkompanie der Reichswehr ab. 1922 verfügte Ebert, dass das Deutschlandlied Nationalhymne wird. (Foto: Bundesarchiv/Bild 102-10884/Georg Pahl/CC-BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)

Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!

Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang
Sollen in der Welt behalten
Ihren alten schönen Klang,
Uns zu edler Tat begeistern
Unser ganzes Leben lang –
Deutsche Frauen, deutsche Treue,
Deutscher Wein und deutscher Sang!

Einigkeit und Recht und Freiheit
Für das deutsche Vaterland!
Danach lasst uns alle streben
Brüderlich mit Herz und Hand!
Einigkeit und Recht und Freiheit
Sind des Glückes Unterpfand –
Blüh im Glanze dieses Glückes,
Blühe, deutsches Vaterland!

Insbesondere die erste Strophe ist bis heute vielfach Anfeindungen und Ablehnung ausgesetzt. Denn bei „Deutschland, Deutschland, über alles“ denken viele an die Kriege der Nazis. Doch wer Hoffmanns Vers als Aufruf zu Eroberung und übersteigertem Nationalismus liest, versteht den Dichter völlig falsch. Und damit sein Lied. Auf „Deutschland, Deutschland, über alles“ folgt nämlich „Wenn es stets zu Schutz und Trutze brüderlich zusammenhält“. Der Text gibt sich damit als defensiver Appell zu erkennen. Hintergrund dürften französische Gebietsansprüche auf das Rheinland 1840 gewesen sein. „Und wir können jeden Feind“, schrieb Hoffmann auch in seinen „Unpolitischen Liedern“, „treuverbunden überwinden“.

Brüderliche Einigung

Einigkeit nach außen, aber auch Einigkeit nach innen schwebte Hoffmann von Fallersleben vor. Die Einheit Deutschlands galt ihm mehr als die Macht der Einzelstaaten. Die brüderliche Einigung der Menschen zwischen Maas und Memel und zwischen Etsch und Belt sollte der monarchischen Zersplitterung ein Ende bereiten. Die Grenzen, die Fallersleben nennt, entsprechen ziemlich genau den damaligen Siedlungsgebieten des deutschen Volkes. Sie zeugen also gerade nicht von imperialistischen Machtgelüsten. Sondern beschreiben nüchtern und sachlich das Territorium, das zu einem Nationalstaat werden sollte.

Walther von der Vogelweide schrieb eine Art Vorläufer des Deutschlandlieds. (Foto: gemeinfrei)

Anders als die erste ist die zweite Strophe heute kaum bekannt. Für heutige Ohren klingt sie ein wenig kitschig. Und dürfte wohl in gleich mehrfacher Hinsicht als politisch unkorrekt gelten. Die Hervorhebung der „deutschen Frauen“ mag auf Kritiker sexistisch wirken, der „deutsche Wein“ für sie zu übermäßigem Alkoholkonsum aufrufen. Wie auch die erste Strophe gehen diese Verse auf ein mittelhochdeutsches Preislied Walthers von der Vogelweide zurück. „Deutsche Frauen sind besser als anderswo die edlen Damen“ hatte der mittelalterliche Dichter um das Jahr 1198 geschrieben. Und mit seinem Lied die Menschen „von der Elbe bis an den Rhein und hinunter bis nach Ungarn“ als die besten gelobt, „die ich in der Welt kennengelernt habe“.

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Nur eine „extrem kleine Minderheit“

Seit 2018 können Menschen in Deutschland den Geschlechtseintrag „divers“ wählen. Diese Möglichkeit steht seither neben „männlich“ und „weiblich“. Die Politik schuf sie vornehmlich für Intersexuelle. Personen also, deren Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig sind. Auch Menschen, die sich unsicher sind, welchem Geschlecht sie angehören, können sich als „divers“ definieren. Gleiches gilt für Transsexuelle, die sich ihrem biologisch eindeutig bestimmbaren Geschlecht nicht zugehörig fühlen. Und für Personen, die sich als „nicht-binär“ begreifen oder glauben, ihr Geschlecht ändere sich hin und wieder. Alternativ zu „divers“ ist es bereits seit 2013 möglich, den Geschlechtseintrag offenzulassen.

80.000 Transsexuelle?

Allein bis zu 160.000 Intersexuelle gebe es in Deutschland, schätzte 2017 das Bundesverfassungsgericht. Sein Urteil zur sogenannten dritten Option beim Geschlechtseintrag hatte die Reform ins Rollen gebracht. Der Deutsche Ethikrat ging dagegen von rund 80.000 intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland aus. Die Zahl der Transsexuellen bezifferte 2014 Patricia Metzer von der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität, einer Lobby-Organisation, auf 20.000 bis 80.000. Rund fünf Jahre nach der Einführung des Eintrags „divers“ zeigt sich immer deutlicher, dass selbst vergleichsweise zurückhaltende Schätzungen offenbar weit über den realen Zahlen liegen.

Wenn Aktivisten und Politiker von der „LGBTQI-Community“ reden, fassen sie sexuelle Präferenzen und Geschlechtsidentitäten zusammen. In Wirklichkeit sind Transsexualität und Intersexualität klar von Homosexualität abzugrenzen. (Foto: Pixabay)

Beispiel Sachsen. Die AfD-Landtagsfraktion wollte wissen, wie viele Menschen in dem mitteldeutschen Bundesland den Eintrag „divers“ gewählt haben. Die Antwort der Landesregierung dürfte überraschen: 2022 waren es demnach gerade einmal 17. Darunter befinden sich sogar drei Babys, die sich sicherlich nicht selbst dafür entschieden haben, „divers“ zu sein. 17 Menschen unter mehr als vier Millionen: Das sind nur 0,0004 Prozent der Sachsen, rechnet die gesellschaftspolitische Sprecherin der AfD-Fraktion, Martina Jost, vor. Sie vergisst dabei allerdings, dass sich die Zahlen der Regierung nicht auf alle „diversen“ Eintragungen beziehen, sondern nur auf ein Kalenderjahr.

„Ganze 19 Fälle seit 2018“

Wesentlich mehr werden es allerdings auch nicht, wenn man die zurückliegenden Jahre seit der Reform des Personenstandsrechts berücksichtigt. Auch wenn die Zahlen je nach Quelle zum Teil widersprechen. „Ganze 19 Fälle sind seit 2018 in Sachsen aktenkundig“, schreibt die BILD-Zeitung im Mai 2022. Im Vorjahr seien es nach Angaben des Innenministeriums gerade mal drei gewesen. „Auch der vom Gesetz seither mögliche Wechsel der Geschlechtsidentität bei Erwachsenen kommt in Sachsen sehr selten vor.“ Nur drei Männer und fünf Frauen seien betroffen. In Sachsens größter Stadt Leipzig waren vor rund einem Jahr nur zwölf Menschen mit dem Eintrag „divers“ gemeldet. Bei 21 wurde der Geschlechtseintrag in der Geburtsurkunde geändert.

Ein Blick über die Leipziger Innenstadt. In Sachsens einwohnerreichster Stadt waren 2022 nur zwölf Menschen mit dem Geschlechtseintrag „divers“ gemeldet. Unter den mehr als 600.000 Einwohnern der Messestadt ist das eine verschwindend geringe Minderheit von 0,002 Prozent. (Foto: LeipzigTravel/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons

Zweites Beispiel: Berlin. Aktuellen Zahlen zufolge sind in der Bundeshauptstadt 142 Personen mit dem Geschlechtseintrag „divers“ registriert. Das meldete kürzlich das Portal Pleiteticker.de des früheren BILD-Chefredakteurs Julian Reichelt. Im Dezember lag die Zahl noch bei 137. Zumindest nach Angaben des öffentlich-rechtlichen Senders RBB, der sich auf einen Sprecher der Innenverwaltung bezog. „Weitere 128 Personen machen von der Möglichkeit Gebrauch kein Geschlecht anzugeben“, liest man beim Pleiteticker.

„Überwiegend Klientelpolitik“

„In Berlin kommen damit auf rund 3,85 Millionen Einwohner 270 Personen, die weder männlich noch weiblich sind, beziehungsweise kein Geschlecht angeben. Dies entspricht rund 0,007 Prozent der Stadtbevölkerung. 0,0037 Prozent der Berliner empfinden sich als divers. Damit drängt sich der Eindruck auf, dass die Ampel-Regierung mit ihrem Fokus auf Diversität und Gender-Politik überwiegend Klientelpolitik betreibt, die an den Problemen des ganz überwiegenden Teils der Bevölkerung vorbeigeht“, kommentiert das Reichelt-Portal.

Auf Reisepässen ist der Geschlechtseintrag „divers“ mit einem „X“ kenntlich gemacht. (Foto: Fennnn1/CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons)

Bundesweit hatten bis Ende September 2020 nach Angaben des Bundesinnenministeriums 394 Personen den Eintrag „divers“ oder „ohne Angabe“ erhalten. Gut zwei Drittel davon gelten seitdem als „divers“. Auch 19 Neugeborene waren darunter. Elf Babys blieben „ohne Angabe“ des Geschlechts. Zwischen „männlich“ und „weiblich“ wechselten den Angaben zufolge 1191 Personen. Als nicht eindeutig männlich oder weiblich oder als transsexuell konnten damit im Herbst 2020 knapp 1600 Menschen gelten. Zumindest auf Grundlage des amtlichen Personenstands. Transsexuelle etwa, die ihren Geschlechtseintrag nicht ändern lassen, oder Intersexuelle, die als Mann oder Frau leben, fehlen freilich in dieser Statistik.

Riesiger Wirbel

In jedem Fall aber sind die offiziellen Zahlen um mindestens eine Größenordnung geringer als alle Schätzungen. „Ich halte es nicht für klug, so einen riesigen Wirbel um diese extrem kleine Minderheit zu veranstalten“, meint daher Martina Jost von der AfD-Fraktion im Dresdner Landtag. „Auch für viele Betroffene ist dieser Rummel wahrscheinlich eher abschreckend, als dass er ihnen hilft.“ Trotz der geringen Größe der Gruppe, kritisiert Jost, müssten die Bürger erhebliche Belastungen hinnehmen. Unisex-Toiletten etwa, die nach dem Willen mancher Aktivisten und Politiker die nach Geschlecht getrennten WCs ersetzen sollen. Oder die Gendersprache, die auch vermeintlich existierende „diverse“ Geschlechter sichtbar machen soll. Für Jost ist sie eine „Verunstaltung der deutschen Sprache“.

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Im Blickpunkt

Wenn der Heilige Geist auf den Zeitgeist trifft

Die Kernkompetenz der christlichen Kirchen liegt in der Glaubenslehre. Seit 2000 Jahren vermitteln Priester, Geistliche und Seelsorger den Glauben an Jesus Christus. In ihm sehen Milliarden Christen auf der ganzen Welt den Sohn Gottes. Und selbst wer ihn nur als außergewöhnlichen Menschen begreift, der erkennt doch in seiner Botschaft mitunter eine heilbringende Lehre zum Wohl der Menschheit. Eine Botschaft des Friedens und der Versöhnung. Seit geraumer Zeit steht diese Lehre nicht mehr allein. Statt sich auf den Glauben zu fokussieren, betätigt sich die Kirche zunehmend tagespolitisch. Kritiker sprechen von einer Anbiederung an den „woken“ Zeitgeist.

Welcher Geist herrscht in den christlichen Kirchen des Jahres 2023? Ist es noch der Heilige Geist der Glaubenslehre – oder doch eher der „woke“ Zeitgeist? (Foto: Pixabay)

Dass Bischöfe und Priester Umwelt- und Naturschutz propagieren, dürfte für die meisten noch nachvollziehbar sein. Der Auftrag zur „Bewahrung der Schöpfung“ geht direkt aus der Bibel hervor. Dazu gehört auch der Appell, schonend mit den natürlichen Ressourcen umzugehen. Wenn der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, die Deutschen angesichts der Energiekrise zum Verzicht aufruft und sich so den Appellen der Mächtigen anschließt, hat dieses Plädoyer für manchen Gläubigen aber einen schalen Beigeschmack. Die Kirche als Lautsprecher der Regierung: Das trifft auf Widerspruch im „Volk Gottes“.

Klima-Aktivismus und Waffen

Erst recht aber, wenn sich evangelische Kirchenführer mit den radikalen Klima-Aktivisten der „Letzten Generation“ gemein machen, ist für viele Christen eine Grenze des Zumutbaren erreicht. Die Aktionen seien „berechtigter gewaltloser ziviler Ungehorsam“, hört man. Doch damit nicht genug. Auch die Unterstützung von Waffen-Lieferungen an die Ukraine trifft unter zahlreichen Gläubigen auf Unverständnis. Der Aufruf zum Frieden, zur Gewaltlosigkeit ist schließlich als eine der Hauptforderungen Jesu überliefert. Und wenn der Synodale Weg, der Reformprozess der katholischen Kirche in Deutschland, nun faktisch Transsexualität als normal akzeptiert, wenn Bistümer eine „queer-sensible“ Seelsorge einführen, verstehen viele die Welt nicht mehr. In ihrer Betonung der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen gehen Bibel und Biologie nämlich Hand in Hand.

Politisch korrekt gibt sich auch die Freisinger Bischofskonferenz, das gemeinsame Gremium der katholischen Bischöfe in Bayern. In ihrer jüngsten Vollversammlung betonte sie, „ein klares Zeichen gegen Rechtsextremismus, Populismus und menschenverachtende Einstellungen“ gesetzt zu haben. Durch ein „Kompetenzzentrum für Demokratie und Menschenwürde“ (KDM). „Die radikale und extreme Rechte“, liest man in der Pressemitteilung der Bischöfe, habe sich die Krisen des vergangenen Jahres zunutze gemacht. Vor allem die in Folge des „russischen Angriffskriegs“ auf die Ukraine „stark gestiegenen Energiepreise und Lebenshaltungskosten“.

„Seltsame moderne Strömungen“

Der Kirchenkampf gegen Rechts treibt mitunter merkwürdige Blüten. Dann nämlich, wenn selbst Kernthesen der christlichen Verkündigung der hohen Geistlichkeit als populistisch und extremistisch gelten. Einen Ordenspriester, der in seiner Predigt zum Weihnachtsfest die biblische Botschaft gegen den Zeitgeist verteidigte, stellte seine eigene Abtei an den Pranger. Der Benediktiner-Pater Joachim Wernersbach hatte es gewagt, von „seltsamen modernen Strömungen“ zu sprechen. „Von Gender und Transgender, von Transhumanismus und reproduktiver Gesundheit, von Wokeness und LGBTIQ, von Diversität und Identität, von multiplen Geschlechtern und Geschlechtsumwandlungen.“ Seinen Kritikern gilt der Pater damit als homophob.

Die Regenbogen-Fahne ist eines der Symbole für die Homo- und Transsexuellen-Bewegung. Historisch war der Regenbogen dagegen ein Zeichen des Bundes zwischen Gott und den Menschen. (Foto: Pixabay)

Ganz offensichtlich zieht der Benediktiner den Heiligen Geist dem Zeitgeist vor. „Schon die Begriffe, meine Lieben, sind absolut befremdlich“, predigte Wernersbach im sächsischen Wittichenau. „Sie haben alle eines gemeinsam: Es fehlt ihnen an Schönheit, es fehlt ihnen an Stimmigkeit und es fehlt ihnen an Natürlichkeit! Es fehlt einfach der Wohlklang. Sie sind sperrig und bringen unsere Seele, unser Innerstes einfach nicht zum Schwingen. Sie sind nicht im Einklang, nicht in Harmonie mit der unvorstellbar schönen göttlichen Ordnung.“ Demgegenüber betonte Wernersbach die biblisch begründete „Heiligkeit der Familie“.

Lebensschutz extrem rechts?

Bei der Freisinger Bischofskonferenz fällt dies wohl unter das in de Abschlusserklärung scharf kritisierte „Agieren der radikalen Rechten in kirchlichen Kreisen“. Als extrem rechts gilt Politikern und Medien auch der Schutz des Lebens. Nicht selten ausgerechnet jenen, die in Corona-Zeiten die rigiden Einschränkungen der Grund- und Freiheitsrechte mit dem Schutz des Lebens begründeten. Zunehmend sieht das offenbar auch die kirchliche Obrigkeit so. Der Schutz ungeborener Babys vor Abtreibung ist eine Sache für die AfD. Und die steht für viele Bischöfe zu weit rechts. So schlossen die Verantwortlichen des für Juni geplanten Evangelischen Kirchentags Organisationen wie die „Aktion Lebensrecht für Alle“ (ALfA) von dem Glaubenstreffen aus.

Jedes Leben ist lebenswert – davon sind christliche Abtreibungsgegner überzeugt. Wer sich für ungeborene Babys einsetzt, gilt mittlerweile als extrem rechts. (Foto: Pixabay)

„Der Schutz des menschlichen Lebens in allen Phasen seiner Existenz ist nicht nur Pflicht und Aufgabe aller Christen, sondern auch des Staats“, betont ALfA-Vorsitzende Cornelia Kaminski. „Nicht umsonst hat das Bundesverfassungsgericht mehrfach erklärt, dass bereits dem ungeborenen Leben Würde und Schutz zukommt. Insofern ist es höchst verwunderlich, dass die Leitung des Evangelischen Kirchentags beschlossen hat, ausgerechnet die ehrenamtlichen Organisationen vom Evangelischen Kirchentag auszuschließen, die sich genau dieser Aufgabe verschrieben haben und ihr unter hohem persönlichem Einsatz nachgehen.“

„Nicht nachvollziehbar“

Der Ausschluss erfolgte ohne Begründung. Und obwohl die ALfA laut Kaminski stets mit einem Stand auf dem Kirchentag präsent war und es nie zu Problemen gekommen war. „Es ist nicht nachvollziehbar, warum Funktionäre der evangelische Kirche, die ja stets betont, dass Dialogbereitschaft und Toleranz Fundamente ihres öffentlichen Handelns sind, nicht bereit sind, dies auch im Umgang mit ausgerechnet den Gruppen zu zeigen, die sich in besonderer Weise um die Schwächsten in unserer Gesellschaft bemühen.“ Mit Aktivisten der „Letzten Generation“ und der LGBT-Community hätten die Verantwortlichen auf dem Kirchentag vermutlich weniger Probleme.

Thomas Wolf

Die „Aktion Lebensrecht für Alle“ hat auf ihrer Webseite eine Petition gestartet, mit der sie gegen das Vorhaben protestieren will, den Lebensschutz vom Evangelischen Kirchentag zu verbannen. Und gegen einen ähnlichen Versuch, dies auch bei der Messe „didacta“ zu erreichen. Die Unterschriftenliste soll dem Kirchentag in Fulda sowie der Leitung der „didacta“ vorgelegt werden.

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Schwarz-Rot-Gold: eine Erfindung von 1815?

Für das Online-Lexikon Wikipedia ist die Sache klar. Es gibt die gängige Sichtweise wieder. Die deutschen Nationalfarben Schwarz-Rot-Gold sind demnach eine Erfindung des frühen 19. Jahrhunderts. Sie gehen, liest man bei Wikipedia, auf die Befreiungskriege gegen Napoleon 1813 bis 1815 zurück. „Verweise auf das Mittelalter sind nachträglich konstruiert, trugen aber im 19. Jahrhundert erheblich zu ihrer Popularisierung bei.“ Und weiter heißt es: „Die Urburschenschaft von 1815 führte diese Farben erstmals und machte sie zu einem Symbol für die deutsche Einheit.“ Wirklich? Ein genauerer Blick zeigt: Ganz so einfach ist die Sache nicht.

Beim Hambacher Fest 1832 trugen viele Teilnehmer schwarz-rot-goldene Fahnen. Die ungewohnte Reihenfolge der Farben auf dieser Darstellung könnte auf eine falsche Kolorierung zurückzuführen sein. (Foto: gemeinfrei)

Unstrittig ist, dass die schwarz-rot-goldene Trikolore, wie sie bis heute verwendet wird, in dieser Form erstmals beim Hambacher Fest 1832 zum Einsatz kam. Damals versammelten sich hunderte Demokraten und Liberale auf dem Schloss in der Pfalz, um für das zersplitterte und unter einem rigiden Regime leidende Deutschland Freiheit und nationale Einigung zu fordern. Eine zeitgenössische Darstellung dokumentiert die Fahnen zahlreicher Teilnehmer. Allerdings zeigt sie sie in ungewohnter Reihenfolge: Gold-Rot-Schwarz. Wie heute mitunter bei sogenannten Reichsbürgern. Womöglich ist das aber auf eine falsche nachträgliche Kolorierung zurückzuführen. Eine von Johann Philipp Abresch für das Fest angefertigte Fahne mit der pathetischen Aufschrift „Deutschlands Wiedergeburt“, die erhalten blieb, beweist, dass die korrekte Reihenfolge schon damals Schwarz-Rot-Gold war.

Zeichen der Demokratie

Nach dem Hambacher Fest nahmen die deutschen Farben einen festen Platz in der nationalen und demokratischen Bewegung ein. Wer angesichts der Unterdrückung von Meinungsfreiheit und unabhängiger Presse durch den Deutschen Bund und seine fast 40 Mitgliedsstaaten für Volkssouveränität und Grundrechte eintrat, tat dies nahezu selbstverständlich im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold. Die deutschen Farben wurden so zu einem leuchtenden Zeichen für die Demokratie. Hoffmann von Fallersleben, liberaler Patriot und Dichter des „Liedes der Deutschen“, schrieb 1843 seine „Deutsche Farbenlehre“. Darin erklärt er Schwarz, Rot und Gold zu Farben der Hoffnung:

Über unserem Vaterland ruhet eine schwarze Nacht,
und die eigene Schmach und Schande hat uns diese Nacht gebracht.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Und es kommt einmal ein Morgen, freudig blicken wir empor:
Hinter Wolken lang verborgen, bricht ein roter Strahl hervor.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Und es zieht durch die Lande überall ein goldnes Licht,
das die Nacht der Schmach und Schande und der Knechtschaft endlich bricht.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Lange hegten wir Vertrauen auf ein baldig Morgenrot;
kaum erst fing es an zu grauen, und der Tag ist wieder tot.
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Immer unerfüllt noch stehen Schwarz, Rot, Gold im Reichspanier:
Alles läßt sich schwarz nur sehen, Rot und Gold, wo bleibet ihr?
Ach wann erglänzt aus dem Dunkel der Nacht
unsere Hoffnung in funkelnder Pracht?

Aus: Deutsche Salonlieder (1843)
August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, dargestellt von Ernst Henseler (1898). Das „Lied der Deutschen“ dichtete Hoffmann von Fallersleben 1841 auf Helgoland. (Foto: gemeinfrei)

Fünf Jahre nach Hoffmanns Dichtung stand Deutschland am Vorabend der Revolution. Nach dem Sturz des französischen „Bürgerkönig“ Louis-Philippe gingen auch in den deutschen Staaten immer mehr Menschen auf die Straße. Der Bundestag in Frankfurt musste den Massen entgegenkommen. Am 9. März 1848 erklärte er Schwarz-Rot-Gold zu Bundesfarben und einen rotbewehrten, schwarzen Doppelkopf-Adler auf goldenem Grund zum Bundeswappen. Der Deutsche Bund, der Staatenbund der deutschen Fürstentümer und freien Städte, legte damit erstmals nationale Symbole fest. Am 20. März ordneten die Delegierten an, dass die Festungen des Bundes und die Bundestruppen Schwarz-Rot-Gold flaggen sollten.

Gesprengte Ketten

Am 18. Mai 1848 trat in der Frankfurter Paulskirche das erste gesamtdeutsche demokratisch gewählte Parlament zusammen. Die Nationalversammlung tagte in einem Meer aus schwarz-rot-goldenen Fahnen und Bannern. Und über dem Präsidium hing das Ölgemälde einer friedfertigen, zugleich aber wehrhaften Germania. Natürlich auch in Schwarz-Rot-Gold. Hinter der als junge Frau dargestellten Personifikation Deutschlands geht die Sonne auf. Zu ihren Füßen liegen gesprengte Ketten. Statt einer Krone trägt sie einen Kranz aus Eichenlaub. Die Bedeutung der Symbole ist offenkundig. Freiheit statt Fürstenherrschaft.

Ganz im Zeichen von Schwarz-Rot-Gold: die Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche. Über dem Präsidium hängt die Germania in den Nationalfarben. (Foto: gemeinfrei)

So hoffnungsvoll der schwarz-rot-goldene Neuanfang gestartet war, so schnell endete er. Statt Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie setzten sich die Fürsten durch. Die verbliebenen Abgeordneten der Nationalversammlung flohen nach Stuttgart und wurden dort von Militär auseinandergetrieben. Die demokratische Revolution war gescheitert. Dennoch wehten Schwarz, Rot und Gold noch bis 2. September 1850 vom Turm der Paulskirche in Frankfurt. Und erst im August 1852 wurden sie am Frankfurter Bundespalais, dem Sitz des wiederhergestellten Deutschen Bundes, eingeholt. Noch 1866 zogen süddeutsche Truppen an Österreichs Seite mit schwarz-rot-goldener Armbinde in den Krieg gegen Preußen.

Eine neue Nationalflagge

Mit dem preußischen Sieg endete der Deutsche Bund. Und die Teilhabe Österreichs an Gesamt-Deutschland. Aus dem preußischen Weiß-Schwarz und dem Weiß-Rot der Hansestädte gestalteten die Sieger von 1866 eine neue Nationalflagge. Schwarz-Weiß-Rot wurde zum Symbol des Kaiserreichs. Und nach dessen Untergang zum Erkennungszeichen von Monarchisten und rechten Gruppierungen. Die weitere Geschichte ist bekannt. Die Weimarer Republik griff wieder auf Schwarz-Rot-Gold zurück. Und nach dem Hakenkreuz-Zwischenspiel der NS-Diktatur legten 1949 sowohl die westdeutsche Bundesrepublik als auch die DDR Schwarz-Rot-Gold als Nationalflagge fest.

Die Flagge der Bundesrepublik und der DDR wehen 1973 vor dem UN-Gebäude in New York. Das Rot der beiden Hoheitszeichen fällt ungewöhnlich dunkel aus. (Foto: Bundesarchiv/Bild 183-M0925-406/Joachim Spremberg/CC BY-SA 3.0 DE via Wikimedia Commons)
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Die Demokratie: kein Import aus den USA

Fragt man Leitmedien und Politiker nach Sternstunden der deutschen Geschichte, erntet man womöglich nicht selten ein Schulterzucken. Die historischen Leistungen des eigenen Volkes sind weithin vergessen. Ein offizieller Blick zurück lässt meist nicht viel Positives übrig. Die Verbrechen des Nationalsozialismus überdecken alles, was Deutsche in der Vergangenheit erreichten. Hinzu kommen weitere dunkle Flecken, die die Medien vor allem in jüngerer Zeit stark betonen: Kolonialismus, vermeintlich struktureller Rassismus, Diktatur. Dazu das alte Narrativ vom Untertanengeist der Deutschen. Das Land der Dichter und Denker – es ist medial zu einem Land der Mörder und Henker verkommen.

Revolution vor 175 Jahren

Die Demokratie, heißt es oft, habe den Deutschen nach 1945 von den Siegermächten beigebracht werden müssen. Gemeint sind die Westalliierten, allen voran die Vereinigten Staaten von Amerika. Politisch mag die Behauptung der US-Herkunft der Demokratie in Deutschland opportun erscheinen. Historisch aber ist sie Unsinn. Schon 100 Jahre vor der US-amerikanischen Besatzung zementierten die Deutschen ein bleibendes demokratisches Fundament. Und zwar auf einem Weg, der ganz und gar nicht zum vermeintlichen Untertanengeist passen will: durch eine Revolution nämlich. Dieser Tage liegt sie genau 175 Jahre zurück.

Ein früher Höhepunkt der Revolution: die Barrikadenkämpfe in Berlin am 18. März 1848. (Foto: gemeinfrei)

„Auch das deutsche Volk hat seine revolutionäre Tradition. Es gab eine Zeit, wo Deutschland Charaktere hervorbrachte, die sich den besten Leuten der Revolutionen anderer Länder an die Seite stellen können.“ Das schrieb der kommunistische Vordenker und Karl-Marx-Vertraute Friedrich Engels 1850 in seinem Buch „Der deutsche Bauernkrieg“. Er bezog sich damit zwar auf die andere große revolutionäre Erhebung der deutschen Geschichte: eben jene Serie von Bauern-Aufständen der Jahre um 1525. Doch wird seine Analyse durch die Revolution von 1848, an der er teilnahm, vollauf bestätigt.

Erste nationale Verfassung

Was 1525 unter den Schwertern und Kanonen der fürstlichen Heere blutig erstickte, setzte sich 1848/49 durch. Formell kam die Demokratie zwar nur kurz zur Entfaltung. Und noch dazu nur in Gestalt einer konstitutionellen Monarchie. Aber immerhin: Sie brachte dem deutschen Volk die erste nationale Verfassung, einen umfangreichen Grundrechte-Katalog, einen Rechtsstaat und die erste direkt gewählte nationale Volksvertretung. Und auch wenn das damals geschaffene demokratische Deutsche Reich von den Fürsten bald wieder zerschlagen wurde – die Fundamente der Verfassung von 1849 gerieten nie wieder in Vergessenheit. Sie befruchteten die Weimarer Reichsverfassung von 1919 ebenso wie das Grundgesetz.

Eine der letzten Briefmarken der DDR erinnerte an Thomas Müntzer, den Revolutionär des 16. Jahrhunderts. Der Block zeigt seine hauptsächlichen Wirkungsstätten. (Foto: Nightflyer/gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Die deutsche Revolution von 1848 war eingebettet in eine Reihe von nationalen Volkserhebungen in mehreren europäischen Staaten. Bereits 1830 hatten die Franzosen im Rahmen ihrer Julirevolution erneut die Königsdynastie der Bourbonen gestürzt. Zum zweiten Mal nach 1789. Hinzu kamen Unabhängigkeitsbewegungen im damals russischen Polen, in Griechenland, Belgien und Italien. In Deutschland wiederum hoffte das unterdrückte Bürgertum auf einen Neuanfang. Der Freiheitswille des Volkes, der sich in den Befreiungskriegen gegen Napoleon 1806 bis 1815 gezeigt hatte, wurde durch die Macht der Fürsten unterdrückt. Presse- und Meinungsfreiheit waren nicht vorhanden.

Versuche, den Deutschen Bund, einen Staatenbund der deutschen Fürstentümer und freien Städte, liberal zu reformieren, scheiterten. Als die Franzosen erneut revoltierten und im Februar 1848 ihren „Bürgerkönig“ Louis-Philippe aus dem Amt jagten, sprang der revolutionäre Funke auf Deutschland über. Schon am 27. Februar forderten in Mannheim mehr als 2000 Menschen die allgemeine Volksbewaffnung, Grundrechte, Presse- und Versammlungsfreiheit, Schwurgerichte und ein nationales deutsches Parlament. Bauern drängten auf die Beseitigung der Vorrechte des Adels. Handwerker, Tagelöhner und Fabrikarbeiter forderten soziale Gerechtigkeit.

Notwendigkeit einer Reform

Bald kam es in den Städten zu ersten Unruhen. Am 1. März 1848 besetzten aufgebrachte Bürger in Karlsruhe das Ständehaus des badischen Landtags. Auch in München und Berlin gingen die Menschen auf die Straße. In Wien musste der reaktionäre Staatskanzler Klemens von Metternich fliehen. Zahlreiche Fürsten lenkten ein und beriefen liberale Regierungen, die den Forderungen des Volkes entgegenkommen sollten. In Preußen reagierte König Friedrich Wilhelm IV. hinhaltend. Einerseits versprach er, auf die Wünsche des Volkes Rücksicht zu nehmen. Andererseits ließ er Truppen zusammenziehen. Der Deutsche Bund erkannte am 8. März die Notwendigkeit einer großen Bundesreform.

Eine verlassene Barrikade in der Breiten Straße in Berlin, wie sie Eduard Gaertner gezeichnet hat. Nur die schwarz-rot-goldene Fahne zeugt noch von der Revolution. (Foto: gemeinfrei)

Am 18. März eskalierte die Situation in Berlin. Bürger errichteten Barrikaden und lieferten sich Straßenkämpfe mit dem Militär. Dutzende starben. Als die Truppen die Kontrolle über die Stadt zurückerlangt hatten, ließ der König sie sogleich wieder abziehen. Am Tag darauf ver­neigte sich Friedrich Wilhelm sogar auf dem Schloss­platz vor den 100 aufgebahrten „Märzgefallenen“. Schließ­lich legte er sich eine schwarz-rot-goldene Schärpe um und versprach, sich an die Spitze der deutschen Nationalbewegung zu stellen. „Preußen geht fortan in Deutschland auf“, erklärte der König. Es war ein Etappensieg der Revolution.